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Feminismus docet

Und was ist mit Gewalt an Männern? Natürlich, es gibt sie. Aber sie darf nicht zur Ausrede werden, um die Gewalt an Frauen – die Unterdrückung der Frau – nicht anzugehen.
Gewalt an Frauen
Foto: Pixabay

Erst kürzlich bin ich im Internet wieder über einen Artikel zum Thema „Häusliche Gewalt gegen Männer“ gestolpert. Kein neues Thema, in den letzten Jahren gern als Todschlagargument gebraucht, dann, wenn es um das große Thema „männliche Gewalt an Frauen“ geht, folgt früher oder später aus einer Ecke ein „und was ist mit der Gewalt an Männern?“. Ein Evergreen also, wenn es um simplen Whataboutismus geht. En vogue, wenn die Finanzierung von Präventionsinitiativen winkt. Ein Lückenfüller, wenn in einer Diskussion fundierte Argumente fehlen.

Was ist also mit der Gewalt an Männern? Es gibt sie tatsächlich. In einer patriarchalen Gesellschaft, in der Gewaltanwendung, egal in welcher Form, immer wieder legitimiert wird (dem Kind die „gsunde Watschn“, dem Nahen Osten den als Friedensmission verkleideten Krieg, folgenlos die Hasspostings im Internet!), sind natürlich auch Männer Opfer von Gewalt. Genauso wie es auch Frauen gibt, welche die toxischen Muster der patriarchalen Kultur mittragen.

 

Was ist also mit der Gewalt an Männern?

 

Aufgrund der großen Dunkelziffer ist es schwierig, das Phänomen eindeutig zu umreißen. Zwar gibt es den einen oder anderen Versuch, Prozentsätze zu zitieren, einer näheren Prüfung halten diese aber nicht stand. Deshalb gehe ich von jenen Delikten aus, die tatsächlich erhoben werden: Nehmen wir das Tötungsdelikt als Gipfel der Gewaltanwendung und berücksichtigen dabei, wie Gewaltanwendung laut Statistiken proportional zum Tötungsdelikt steht. Laut ISTAT gab es in Italien in den letzten Jahren deutlich weniger Tötungsdelikte. 1991 wurden 1.197 Menschen ermordet, 2019 „nur“ 315 Menschen: 204 Männer und 111 Frauen (93 davon im häuslichen Umfeld). Es ist also grundsätzlich wahrscheinlicher, als Mann einem Tötungsdelikt zum Opfer zu fallen. Allerding sind die Täter in 96,6% ALLER Fälle Männer (im häuslichen Umfeld sogar 98,3%).

 

Allerding sind die Täter in 96,6% ALLER Fälle Männer.

 

Was geradezu ins Auge sticht, ist, dass Gewalt tatsächlich ein Männerproblem ist. Systematisch angewandtes Produkt einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur. Seit Jahrhunderten gründet sich unsere Gesellschaft auf der Unterdrückung der Frau und dem Macht-Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern (zum besseren Verständnis siehe Gender Gap). Es gilt als salonfähig, direkt oder indirekt über den Körper der Frau zu bestimmen, über ihre Reproduktionsfähigkeit, über die unbezahlte Care-Arbeit, über viele weitere Belange ihres Lebens. Frauen wie Männer leiden unter dieser Praxis, die uns in klar definierte sexistische Rollenmuster zwängt. Diese Kontrolle und die entsprechende Machtausübung gelten auf Gesellschaftsebene genauso wie auf individueller Ebene. Sie werden gerechtfertigt durch eine Mitschuld-Zuweisung der Frau, entschuldigt mit einer Interpretation von Gewalt als Konflikt, und sie entbehren jeglicher Verantwortungsübernahme. 

 

Seit Jahrhunderten gründet sich unsere Gesellschaft auf der Unterdrückung der Frau.

 

Also bitte: Ja, sprechen wir über Gewalt an Männern. Aber seien wir uns auch dessen bewusst, dass das eine Phänomen nicht zulasten des anderen angegangen werden darf. Dass diese Haltung uns keinen Schritt weiterbringt. Dass die Wurzeln der Gewalt (egal, ob an Männern oder Frauen) in eben dieser patriarchalen Gesellschaftskultur zu suchen sind, die nun mal vor allem Männern Privilegien zugesteht und von diesen aufrecht erhalten wird.

Wollen wir die Gewalt tatsächlich bekämpfen? Dann müssen wir dieses System stürzen. 

Feminismus docet.

 

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Sepp.Bacher Di., 09.11.2021 - 13:02

Anscheinend gibt es einige Beispiele von (semi)-matriarchalen Völkern. Wäre interessant zu erfahren, wie sich dort die Gewalt zeigt und ob sich die Situation ganz anders darstellt?

Di., 09.11.2021 - 13:02 Permalink
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Sepp.Bacher Di., 09.11.2021 - 17:55

Antwort auf von Christine Clignon

Wenn ich mich richtig erinnere (Doku im TV) wohnt bei denen der Mann nicht bei der Frau, sondern bleibt weiterhin bei seiner Familie und sie in der Ihrigen. Die gemeinsamen Kinder werden dann auch vornehmlich von der Mutter und Großmutter, sowie von den Onkel und Tanten erzogen. Also fallen auch zwei wichtige Konflikt-Bereiche zwischen Mann und Frau weg.

Di., 09.11.2021 - 17:55 Permalink
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Michael Bockhorni Mi., 24.11.2021 - 09:19

Ich stimme Christine Clignon zu wenn es um die Analyse des Patriarchats und seinen negativen Auswirkungen auf Frauen (und Männer) in unserer Gesellschaft geht zu. Ebenso was die fast ausschliessliche männliche Täterschaft, bei schweren, tödlichen und sexualisierten Gewalttaten betrifft. Die Gleichsetzung von Tötungsdelikten mit dem gesamten Gewaltphänomen in unserer Gesellschaft ist allerdings eine Simplifizierung einer komplexen Konfliktdynamik, bei der wir in vielen Fällen eine Verantwortung beider Seiten für die Entwicklung beobachten können. Das entschuldigt in keinem Fall eine Anwendung von körperlicher Gewalt ist aber sehr relevant wenn es um deren Prävention geht. Die Quantifizierung männlicher Opfer häuslicher bzw. unterpartnerschaftlicher Gewalt wird in der Schweiz und in Deutschland schon viele Jahre seriös erholen und wissenschaftlich untersucht. Je nach Schwere liegen sie zwischen 20% und 50% (Spezial Euro Barometer 449, 2016, Robert-Koch-Institut 2016, Eidgenössisches Büro für Gleichstellung 2012, Uni Wien 2011 usw.). Infolgedessen gibt es in der Schweiz (Zwüschehalt) und in Deutschland (Hotline, 10 Wohnungen) auch dementsprechende Hilfe- und Schutzangebote. Denn laut Istanbulkonvention hat jedes Opfer häuslicher Gewalt unabhängig vom Geschlecht Anspruch auf Unterstützung (natürlich darf deren Finanzierung nicht auf Kosten anderer Opfer gehen). Zum Abschluss wünsche ich mir eine respektvolle Diskussionskultur zwischen den Geschlechtern bei diesem wichtigen Thema ohne Abwertungen wie "Totschlagargument", "Lückenfüller", "Zahlen halten Prüfung nicht stand" usw.

Mi., 24.11.2021 - 09:19 Permalink