Gesellschaft | Soziales

Begleitung aus Lecce

Stehen 100.000 Euro an Einsparungen dafür, ein über Jahrzehnte aufgebautes soziales Netzwerk zu sprengen? Der Fall des Begleitdienstes von SchülerInnen mit Behinderung.

Für den Geschäftsleiter der Südtiroler Lebenshilfe Wolfgang Obwexer stellen sich in diesen Tagen viele Fragen: Wie soll der Transport und die Begleitung von behinderten SchülerInnen ab Beginn des neuen Schuljahres funktionieren? Muss er bei der Südtiroler Lebenshilfe künftig  in der Verwaltung Personal einsparen, und was wird aus der Arbeitsgemeinschaft für Behinderte? Allem voran aber: Wie sieht die Zukunft des Südtiroler Sozialwesens aus, wenn über Jahrzehnte aufgebaute soziale Netzwerke beinharten wirtschaftlichen Kriterien unterworfen werden?

Der konkrete Anlass für Obwexers Fragen: die Neuvergabe des Fahr- und Begleitdienstes für SchülerInnen mit Behinderung. Gut 30 Jahre wurde dieser Dienst von  einer Bietergemeinschaft aus Arbeitsgemeinschaft für Behinderte und Lebenshilfe angeboten.  Bis vor drei Jahren wurde er in Direktvergabe vom Land vergeben, dann folgte die erste Ausschreibung. Seit vergangener Woche ist klar, dass die Südtiroler Bietergemeinschaft bei der nunmehr zweiten Ausschreibung des Dienstes von einem Unternehmen aus Lecce ausgebotet wurde.  Ein Transportunternehmen aus Apulien, dessen Angebot dem Vernehmen nach um rund 100.000 Euro günstiger war als jenes der Südtiroler.

Mit Beginn des neuen Schuljahres in wenigen Wochen sollen die Süditaliener nun all das bereitstellen, das hierzulande in jahrzehntelanger Kleinarbeit aufgebaut wurde. Konkret:  50 Busse, davon die Hälfte behindertengerecht, die bislang von der Arbeitsgemeinschaft für Behinderte gestellt wurden, sowie rund 80 Begleitpersonen. Diese wurden von der Lebenshilfe angestellt, um die behinderten SchülerInnen aus allen Tälern des Landes in die meist in der Stadt gelegenen Schulen zu bringen. Mütter, RentnerInnen, SchülerInnen oder StudentInnen, die laut Wolfgang Obwexer bewusst aus dem Umfeld der SchülerInnen ausgesucht wurden und nicht nur regelmäßig weitergebildet, sondern in ihrer Arbeit auch kontrolliert wurden.  „Da wusste jeder, was zu tun ist, wenn jemand einen Anfall hatte, wie mit Verhaltensauffälligkeiten umzugehen ist, aber auch wie in der Sprache der Familie zu kommunizieren ist“, sagt der Geschäftsleiter der Lebenshilfe.

Ausschreibungsmanie

All das wird nun aufs Spiel gesetzt, um 100.000 Euro im Jahr zu sparen? „Es ist nicht nur der Sparzwang, es mangelt offenbar auch das Interesse daran, lokale gewachsene Strukturen im Sozialbereich zu bewahren“, kritisiert Obwexer. Immerhin ist der Fahr- und Begleitdienst nicht der erste Fall, der in den vergangenen Jahren der „wahren Ausschreibungsmanie“ im Sozialbereich zu Opfer gefallen ist.  Entsprechend intensiv sind nicht nur Obwexers Bemühungen, Politik und öffentliche Verwaltung davon zu überzeugen, dass es Alternativen zum angeblichen gesetzlichen Zwang zur Ausschreibung gibt. „Wir sind mir Juristen im ganzen Land im Kontakt, die uns das Gegenteil versichern, doch obwohl wir der Politik bereits Alternativmodelle aufgezeigt haben, ändert sich nichts am harten Kurs“, sagt er. Ein Weg, der laut ihm weder im deutschsprachigen Ausland noch in anderen italienischen Regionen für den Sozialbereich eingeschlagen wird.

Die Konsequenzen werden nun in erster Linie die SchülerInnen mit Behinderungen und ihre Familien zu spüren bekommen. Doch auch bei den bisherigen Trägerorganisationen reißt der Auftragswegfall tiefe Löcher. Die Lebenshilfe verliert laut Obwexer rund 20 Prozent ihres Auftragsvolumens, bei der Arbeitsgemeinschaft für Behinderte sind es 60 Prozent. Ob letztere ihre anderen Dienstleistungen unter diesen Bedingungen weiterhin aufrechterhalten kann, ist nun zu sehen. „Das ist auf jeden Fall eine existenzielle Bedrohung", sagt der Geschäftsleiter der Lebenshilfe. Wohl nicht nur für die Arbeitsgemeinschaft. 

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Michael Bockhorni Mi., 13.08.2014 - 20:58

interessant wäre es, sich mal den Ausschreibungstext genauer anzusehen. Zumeist liegt der Grund für solch negativen Ergebnisse in mangelhaften Ausschreibungskriterien (zu wenig detailliert hinsichtlich Qualität, Professionalität etc., weil sie zu oft von Jurist_innen allein ausgearbeitet werden). Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Evaluation der Ausschreibungen im öffentlichen Verkehr: http://newstix.de/index.php?session=&site=operation&startentry=60&entms…

Mi., 13.08.2014 - 20:58 Permalink
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Martin B. Do., 14.08.2014 - 17:45

Bravo! Ein Kompliment an die mutigen, verantwortungsvollen und volksnahen zuständigen Beamten! Alle Beteiligten sollten einen Amtsdirektorenlohn einstreichen und das Verdienstkreuz bekommen! *Achtung Ironie!*

Do., 14.08.2014 - 17:45 Permalink