Chronik | Naturgewalt

“Sie kommen mit Schaufeln und Kübeln”

In Prags ist ein Wettlauf gegen die Zeit im Gange. Die Hilfsbereitschaft ist groß, sagt Bürgermeister Friedrich Mittermair: “Wir müssen dem Schlamm Herr werden.”
Friedrich Mittermair, Arno Kompatscher, Arnold Schuler
Foto: LPA/RT

Viel geschlafen hat Friedrich Mittermair in den vergangenen Tagen und Nächten nicht. Nach den schweren Unwettern vom vergangenen Wochenende hat der Pragser Bürgermeister keine Zeit, sich auszuruhen. Der Hauptort der Hochpustertaler Gemeinde ist verwüstet, Schlammmassen versperren Straßen und blockieren Häuser. Am Montag wurde eine erste grobe Schadensbilanz erstellt, wie der Direktor der Agentur für Bevölkerungsschutz Rudolf Pollinger mitteilt: “Von den Unwettern betroffen sind im Pustertal vor allem die Gemeinden Toblach, Welsberg, Innichen, Prags, Antholz, Corvara und Abtei mit insgesamt 20 bis 25 Bächen. Wir schätzen die Schäden in den Bächen auf ca. 1,5 Millionen Euro und jene an öffentlichen Einrichtungen ebenfalls auf ca. 1,5 Millionen Euro. Das große Schadenausmaß ist vor allem auf die Heftigkeit der Weißlahn-Mure zurückzuführen, die in diesem Bereich ungefähr alle 100 Jahre abgeht. Das letzte Mal waren Ende des 19. Jahrhunderts große Schäden durch eine abgehende Mure verzeichnet worden.”

Auch Friedrich Mittermair erinnert sich nicht, jemals Zeuge einer derartigen Naturgewalt geworden zu sein. Am späten Montag Nachmittag hat ihn salto.bz für ein kurzes Gespräch erreicht.

salto.bz: Herr Mittermair, was stand an Tag zwei der großen Aufräumarbeiten an?
Friedrich Mittermair: Im Vordergrund unserer Arbeiten steht, den Menschen zu helfen. Es gilt, die Häuser von den Schlammmassen zu befreien und die Einsatzkräfte zu organisieren. Dann gab es natürlich eine Lagebesprechung mit den Einsatzkräften und dem Landeshauptmann, bei der die Situation, wie sie sich aktuell darstellt, geschildert wurde und die Arbeiten für die kommenden Tage organisiert.

Wie viele Familien sind von den schwersten Schäden betroffen?
Momentan haben wir 19 Häuser, die unmittelbar betroffen sind.

Wo sind die Bewohner dieser Gebäude inzwischen untergebracht?
Die Leute sind alle in ihren Häusern. Die erste Nacht war es natürlich schwierig, es gab keinen Strom. Am Sonntag haben wir alles unternommen, um am Abend wieder überall Licht zu haben. Das Wasser wurde in die Bachbette zurück geleitet. Als diese unmittelbare Gefahr gebannt war, konnten die Leute zurück, zumindest in die oberen Stockwerke. Sodass keine weiteren Evakuierungen notwendig waren. Übrig geblieben sind meterhohe Schlammmassen.

Ein Wettlauf gegen die Zeit?
Wir haben 17 Bagger vor Ort, und LKW, um dem Schlamm Herr zu werden. Die Beseitigung der Schlammmassen hat derzeit absolute Priorität, denn mit jedem Tag wird die Situation schlimmer. Zusätzlich zu den Baggern muss vieles mit bloßer Hand weggeräumt werden bevor sich die Schlammmassen verhärten und zu Beton werden. Die Berufsfeuerwehr Bozen unterstützt uns, die privaten Firmen der Umgebung sind vor Ort. Wir bekommen jede verfügbare Unterstützung. Jetzt gilt es, diese gut zu organisieren.

Bewohner und Hilfskräfte sind großen Belastungen ausgesetzt. Wie erleben Sie die Organisation in dieser Extremsituation?
Die Belastung ist extrem, ja. Die Einsatzkette funktioniert aber. Viele haben in der Nacht von Sonntag auf Montag zum ersten Mal ein paar Stunden geschlafen. Nach der kurzen Rast ging es aber gleich mit ganzer Kraft weiter. Die Hilfsbereitschaft ist sehr sehr groß, sowohl von den Einheimischen als auch aus den umliegenden Orten. Es kommen viele Leute, Freiwillige, mit Schaufeln und Kübeln in der Hand. Ich erlebe volle Bereitschaft und Unterstützung.

Gibt das der Bevölkerung Kraft?
Absolut, ja. Das ist eine schöne Sache, trotz allem. Aber jammern bringt ohnehin nichts.

Wie ist die Stimmung im Ort?
Ich habe derart viel zu tun, dass ich es kaum schaffe, mit den Menschen zu sprechen. Ich glaube, die Leute wollen, dass wir ihnen helfen. Viele melden sich, fragen nach, sagen, was sie brauchen. Und wir sind imstande, alles abzudecken.

Braucht es noch etwas?
Momentan ist die Lage im Griff, wir haben alles Nötige. Aber wir sind für jegliche Hilfe dankbar. Es gibt Leute, die für die Verpflegung sorgen, Privatpersonen, die Putzsachen vorbeibringen. Man darf aber auch nicht dramatisieren. Wir sind am Arbeiten und versuchen die Situation so schnell als möglich zu bewältigen.

Sind zur Zeit noch Straßen gesperrt?
Die Straßensituation ist folgende: Morgen (heute, Anm. d. Red.) wird das Tal zum Pragser Wildsee mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein. Die Altpragser Straße kann also wieder befahren werden. Die Straße zum Ortsteil Brüggele bleibt noch geschlossen, am Dienstag werden dort fünf Bagger anrücken um die von den Muren verlegten Abschnitte zu öffnen. Wenn alles gut geht, wird das Brüggele am Mittwoch geöffnet. Dann würden wir auch gerne wieder den PKW-Verkehr bis zum Wildsee freigeben.

Ist das Ausmaß der Schäden, die die Unwetter am Wochenende in Prags angerichtet haben, bereits absehbar?
Das ist im Moment total unwichtig für uns. Es geht jetzt darum, den Menschen zu helfen, sie zu unterstützen und vom Schlamm zu befreien. Ich bin nicht hier, um Rechnungen zu machen oder mit Fantasiezahlen um mich zu werfen. Wir werden die Schäden danach beziffern – müssen wir, überhaupt keine Frage. Aber in erster Linie geht es uns darum, zu helfen.

Können Sie sich erinnern, jemals solch heftige Unwetter mit derartigen Schäden in Prags und Umgebung miterlebt zu haben?
Nein, so etwas hat es noch nie gegeben. Und das Ausmaß war auch nicht vorhersehbar. Zum Beispiel, dass das Schicksal genau dort zuschlägt, wo keine Gefahrenzonen vorgesehen sind. Die vergangenen Tage haben wieder einmal gezeigt, dass die Natur ihre eigenen Regeln hat.