Society | Gastbeitrag

Gambit im Ghetto

Der Intensivmediziner Werner Beikircher über das Schachspiel mit dem Coranavirus, mögliche Zukunftsszenarien und eine Sicherheit: Es wird eine lange Partie werden.
Schach
Foto: Salto.bz

Gambit ist ein Begriff aus dem Schach und bezeichnet eine risikoreiche Eröffnung in der Hoffnung, die anfänglichen Figurenverluste im Laufe des Spiels mit Gewinn wieder hereinzubekommen.

Wir machen auf, mit Trippelschritten zwar, aber wir machen wieder auf. Offenbar alternativlos (hässliches Wort, aber en vogue). Asiatische Länder haben inzwischen die ersten längerfristigen Erfahrungen aus ihrer eigenen Strategie (für die es bei uns nie einen gesellschaftlichen Konsens gegeben hätte), der Westen geht einen anderen Weg. Es wird das größte Humanexperiment der Neuzeit.
Auch die Medienlandschaft wandelt sich. Die Menschen sind der Wissenschaft überdrüssig mit ihren apokalyptischen Reitern aus Virologie und Katastrophenmedizin, sie verlangen von der Politik neue Horizonte und nicht zu leistende zeitliche Perspektiven.
Der Boulevard hat übernommen.

An den digitalen Stammtischen wird Medizinschach gespielt, mit oder ohne Kenntnis von Regeln.

„Derzeit befinden sich im Land etwa 50 Menschen in Intensivbehandlung, diese Anzahl kann leicht bewältigt werden“ (Karl Hinterwaldner in „Das Heer der Toten“, FF-Wochenmagazin). Das ist zwar blanker Unsinn, denn mit 50 ICU-Pateinten waren wir zu zitiertem Zeitpunkt mit dem Rücken zur Wand, bei fast völliger Paralyse aller anderen Krankenhausleistungen (und dem „Export“ einer doppelstelligen Zahl ins Ausland). Aber es zeigt, wohin die Reise geht. 
Eine gewisse Anzahl an Covid-Erkrankten wird langsam zur Normalität, zum akzeptierten, unvermeidlichen Kollateralschaden einer neuen, erwachenden Gesellschaft und Wirtschaft. An den digitalen Stammtischen wird Medizinschach gespielt, mit oder ohne Kenntnis von Regeln.
Nur so viel ist klar: es wird eine lange Partie. Was erwartet uns? Logistisch wird es zu einer Ghettoisierung der Krankheitsfälle kommen (ohne Anleihe natürlich an eine schlimme Epoche), weil es nicht anders geht. Die älteren von uns werden sich vielleicht an die Tuberkulose-Sanatorien im Lande erinnern, auf ihre Art auch Therapie-Ghettos, weil es nicht anders ging. Man wird eine, höchstens zwei Krankenhausstrukturen zur Konzentrierung der Patienten definieren müssen, damit man in den anderen Häusern zum Regelbetrieb übergehen kann. 

 

Die Führung dieser Strukturen wird sich von der heutigen nicht unterscheiden: Auslagerung, Isolation, Besuchsverbot. Wie groß diese Abteilungen (Covid positiv und Intensiv) sein werden, ist simple Mathematik (Tschuldigung Markus Falk; steckt natürlich mehr dahinter…) und ergibt sich aus der Reproduktionsrate des Virus in der Bevölkerung. Stand heute würde eine Durchimmunisierung aller Südtiroler sehr lange dauern. Es wird also eine Hängepartie werden über viele Monate (Jahre?), abhängig natürlich von einer Impfung, valider Virostatika oder Serumtherapie.
Wer soll diese Abteilungen betreuen? „Ja die Dokter und Pfleger halt“ höre ich vom Nebenstammtisch, „sind ja dazu da“! Völlig richtig, bist ein helles Köpfchen. Aber diese Musik wird nicht lange spielen. Die Hauptbelastung ärztlicherseits seit bald 2 Monaten tragen Internisten (auf Covid positiv Stationen) und Anästhesisten (auf Intensivstationen). Beides Karenzberufe schon zu Normalzeiten. Manche Fachärzte sind nach ihrer Ausbildung mangels Attraktivität nicht zurückgekehrt nach Südtirol, einige nachträglich abgewandert. Jede nicht besetzte oder gecancelte Arzt- oder Pflegerstelle spart natürlich Geld, Spending Review hieß das Zauberwort seit Jahren; jetzt haben wir das Review, wir sind am Ziel. 

Vielleicht bauen wir einen Technology Parc oder Skilift weniger (danke für Langtaufers!) und stecken die Mittel in die Valorisierung der sanitären Berufe; und damit meine ich auch die „letzte“ Reinigungskraft, die diesen Dreckskeim irgendwo abschrubben muss.

Allerdings traue ich der derzeitigen politischen Führung einige Weitsicht zu, vielleicht bauen wir einen Technology Parc oder Skilift weniger (danke für Langtaufers!) und stecken die Mittel in die Valorisierung der sanitären Berufe; und damit meine ich auch die „letzte“ Reinigungskraft, die diesen Dreckskeim irgendwo abschrubben muss.
Auch das ist alternativlos.
Die erwähnten Berufsgruppen werden ein mögliches Covid-Langzeit-Szenario (wenn auch kleiner als zuletzt) nicht lange durchhalten, die zusätzliche Splittung der Personalressourcen zurück in den Regelbetrieb wird schwierig. Die Seuche (Pandemie klingt so niedlich) hätte mit asiatischen Strategien wahrscheinlich zu einem Ende mit Schrecken geführt, jetzt blüht uns vielleicht ein Schrecken ohne Ende. Einige Ärzte sind am Ende ihrer Berufslaufbahn, manche werden wieder gehen, in die Privatwirtschaft oder woanders hin, einige werden am Virus sterben (Gambit eben) und wie viele Jungärzte aus dem Studium nach Südtirol zurückkehren werden, steht in den Sternen. Diese Seuche wird nicht die letzte sein, alle Prognosen deuten auf weitere weltumspannende Pestilenzen in den nächsten Jahrzehnten. Es ist nicht weit hergeholt, wenn man nach dem aktuellen Desaster bangen muss um den Nachwuchs in den Frontfächern der Medizin. Beklatschung von den Balkonen wird dann zu wenig sein.

Nach dem aktuellen Desaster muss man um den Nachwuchs in den Frontfächern der Medizin bangen.  Beklatschung von den Balkonen wird dann zu wenig sein.

Ach ja, zurück zur Schachpartie. Wir sind jetzt beim 9. Zug, also gerade mal am Übergang ins Mittelspiel. Wie viele Figuren bis zum Endspiel noch am Brett stehen werden, zeigt uns dann der April 2021 und alle weiteren.

 

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Max Benedikter Tue, 04/21/2020 - 14:58

Danke Werner,
(Wir kennen uns nicht, aber ich erlaube mir das “du“).
Ich teile jedes Wort. Jeden Buchstaben.

Tue, 04/21/2020 - 14:58 Permalink