Cultura | Salto Weekend

Nonstal – ein „magnificent laboratory“ 

Am Montag wird die neue Ausgabe der Zeitschrift Kulturelemente mit dem Schwerpunkt "Val di Non" vorgestellt. Vorab ein Gastbeitrag von Margareth Lanzinger.
non1.jpg
Foto: Foto: Agostino Fuscaldo (Minet)

Im Jahr 1974 erschien das Buch „The Hidden Frontier. Ecology and Ethnicity in an Alpine Valley“,  verfasst von zwei amerikanischen Anthropologen: John W. Cole (geb. 1934) und Eric R. Wolf (1923–1999). Wolf war der Initiator der Studie, die zwei Orte am Nonsberg, Tret und St. Felix, in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellte. Er wuchs in Wien auf und ab 1933 an der „Sudetengrenze der Tschechoslowakei“, wo sein Vater bis 1938 ein Textilunternehmen besaß.  Infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging die Familie zunächst nach England und dann in die USA. Wolf kannte Südtirol: 1934 hatte er seine Sommerferien im Grödental verbracht und am Ende des Zweiten Weltkriegs kam er als Angehöriger der US-Gebirgstruppen in dieses Gebiet zurück. Geprägt von nahezu weltumspannenden Bezugspunkten in seiner Familie und deren Freundeskreis, die von Lateinamerika bis in die Mandschurei reichten – seine Mutter war Russin –, von Wien als „crossroad of people“, vom konfliktbeladenen Sudetenland, war er seit seiner Kindheit für das Phänomen der Ethnizität sensibilisiert. So habe sich ihm schon lange vor seiner Karriere als Anthropologe „die Frage aufgedrängt, warum das ethnische Zugehörigkeitsgefühl so häufig stärker als die Klassenzugehörigkeit oder selbst die Staatsbürgerschaft“ sei.  Die Studie zum Nonsberg, die Ende der 1950er Jahre mit ersten Feldforschungen begann, war dem entsprechend vom Interesse an Ethnizität geleitet: Tret repräsentierte ein romanischsprachiges, St. Felix ein deutschsprachiges Dorf. Wolf hatte sich mit dieser Wahl für ein „relativ unbekanntes Tal“ – Val di Non – entschieden, das die beiden Anthropologen unter sich „scherzhaft“ gerne als „Danubian II“ oder als „Tal des Nichts“ bezeichneten. Wichtig war ihnen, dass sie hier „ethnische Beziehungen untersuchen [konnten], die weit in die Vergangenheit zurückreichen“ und nicht „Produkt“ der jüngeren Geschichte Südtirols waren, dass die Orte abseits von Touristenströmen lagen und dass es sich um „ein einfaches Feld“ handelte, in dem sie „alle relevanten Akteure kennenlernen und intensiv an den Aktivitäten teilnehmen“ konnten. Die Versuchsanordnung folgte der Logik, dass es sich um strukturell vergleichbare, im besten Fall benachbarte Orte handeln sollte: Die Größe der beiden Dörfer unterschied sich damals nur geringfügig. Tret bestand aus 37 Bauten und 60 Haushalten, St. Felix aus 61 Gebäuden und 74 Haushalten. Die Ökologie der beiden Orte – im Sinne naturräumlicher Gegebenheiten und Umweltbedingungen – stellte die BewohnerInnen vor dieselben Herausforderungen einer Landwirtschaft auf etwa 1.200 Metern Höhe mit höher gelegenen Bergwiesen.

Ich habe meine Herde mit zwei Brüdern geteilt durch drei

Die Besonderheit und der innovative Charakter des Ansatzes lagen darin, dass Cole und Wolf Ethnizität nicht nur als politische Kategorie im engeren Sinn, sondern als anthropologische Kategorie fassten, zu deren Verständnis Bereiche wie die Organisation sozialer Beziehungen – Arbeits-, Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen –, die Erbpraxis und die Ökologie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten. Insofern stellten sie – wie auch andere amerikanische Anthropologen, die in jener Zeit im Alpenraum forschten – ganz „andere Fragen [...] als dies Volkskundler und Historiker aus Europa getan haben“, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in den Alpen vornehmlich eine „traditionsbewahrende Reliktlandschaft“ sahen. Dass Cole und Wolf, gemessen daran, ihrer Zeit weit voraus waren, mag eine Erklärung dafür sein, dass die Übersetzungen ins Italienische und ins Deutsche erst mehr als zwei Jahrzehnte nach dem amerikanischen Original erschienen sind, nämlich 1993 und 1995. Reinhard Johler konstatierte in seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung diesbezüglich: „Denn so sehr der angelsächsische Diskurs von diesem Werk angeregt und mitbestimmt wurde, so auffallend ist doch die Nichtbeachtung im behandelten Forschungsfeld, im deutsch- und italienischsprachigen Wissenschaftsraum sowie am Ort der Untersuchungen, in Südtirol und im Trentino selbst.“ 

Die historische Forschung zum Alpenraum hat sich inzwischen grundlegend verändert. The Hidden Frontier gilt jedoch weiterhin als paradigmatisch in zweierlei Hinsicht: Zum einen steht die Studie für eine gelungene Verbindung von Anthropologie und Geschichte. Denn im Ergebnis war es die Geschichte, die ein wichtiges Erklärungsmodell für Differenzen zwischen den beiden Dörfern lieferte. Eric Hobsbawm konstatierte auf dem Klappentext der deutschen Version, dass Wolf und Cole „an die Grenzen ihres zeitgenössischen kanonisierten ethnologischen Instrumentariums“ gestoßen seien und feststellen mussten, dass „die soziale Praxis nicht allein aus Umwelteinflüssen erklärbar“ sei, sondern dass sich „ethnische Differenzen“ auch „als Widerschein historischer Prozesse herausbilden“ können. Als besonders wirkmächtiger historischer Prozess erwiesen sich in ihren Konsequenzen Herausbildung und Praxis des rechtlich-politischen Status der Bauern im deutschsprachigen Tirol seit dem Spätmittelalter und dem Beginn der Frühen Neuzeit. Während das romanische Tret aus Sicht der beiden Anthropologen in seiner sozialen Organisation vor allem auf flexible Netze von Verwandtschaftsbeziehungen baute, die sie als „private Beziehungen“ definierten und die bis in die Amerikas reichten, „wo Verwandte und Freunde immer noch Teil dieses aktiven Netzes“ waren, gehörte in St. Felix „jeder Hof einem Anerben, der die Autorität über den Haushalt“ innehatte. Der segmentalen familialen Organisation in Tret stand die hierarchische und geschlossene in St. Felix gegenüber. Zudem erachteten Cole und Wolf die „Verbindung zum politischen Bereich“ als markant: Der Bauernstand im deutschsprachigen Tirol, seit dem ausgehenden Mittelalter im Landtag vertreten, sicherte sich im Laufe der Jahrhunderte diverse Privilegien und zeigte Loyalität, was Cole und Wolf im Sinne einer staatlichen Integration interpretieren. Der Bauer habe daher „von allem Anfang an“ eine doppelte Rolle: Er war der Hausherr und vertrat damit Haus und Familie auch nach außen. „Mit anderen Worten: sein privater Status in der sozialen und wirtschaftlichen Sphäre verleiht ihm eine gewisse Rolle im juridisch-politischen Bereich. […] So gliedert sich in St. Felix die Struktur des Bauernhofes in die juridisch-politische Struktur ein“. Dem gegenüber würden sich italienische Gemeinden primär auf die Stadt hin orientieren. Der Staat dahinter sei schwach, soziale „Beziehungsnetze dagegen“ seien „real“.

Zum anderen liefert die Studie ein wichtiges Korrektiv bezogen auf die Erbpraxis und deren Folgen. Ungefähr seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestimmte die Kritik an der zunehmenden Zerstückelung und Zersplitterung des Bodens den rechtlich-ökonomisch-politischen Diskurs um die Realteilung, das heißt um das Erbmodell, dem zufolge alle Kinder einen Anteil an den liegenden Gütern erhielten. Diese „Ideologie der Erbfolge“, wie Cole und Wolf es nennen, war handlungsleitend in Tret, während in St. Felix das so genannte Anerbenrecht vorherrschte: Ein Kind, in der Regel der älteste Sohn, übernahm den Liegenschaftsbesitz in seiner Gesamtheit. Worauf bereits Jon Mathieu für Graubünden hingewiesen hat, änderte die Freiteilbarkeit von Besitz unter den Kindern jedoch nicht notwendigerweise etwas am Parzellenmuster, denn Parzellen habe man nur ungern zerteilt. Der Besitz setzte sich vielmehr – infolge einer Heirat und Haushaltsgründung – immer wieder neu zusammen. Cole und Wolf konnten dieses Ergebnis in vergleichender Perspektive weiter fundieren: Trotzdem in den beiden Dörfern ein konträres normatives Erbmodell galt, waren die Unterschiede in der Praxis deutlich weniger ausgeprägt als erwartet. In Tret zeigte sich ebenfalls die Favorisierung eines Haupterben, und nicht selten war dies der älteste Sohn. In St. Felix wiederum war es den Eltern durchaus ein Anliegen, auch die Geschwister des Haupterben oder der Haupterbin mit Grund und Boden auszustatten, und lange nicht immer war es der älteste Sohn, der die Besitznachfolge antrat. Die Praxis des Transfers und der Organisation von Besitz gestaltete sich demnach in Tret und St. Felix durchaus ähnlich. Und auch die Besitzstruktur wies gewisse Gemeinsamkeiten auf. Zwar lag der Anteil an sehr kleinen Besitzeinheiten (unter drei Hektar) in Tret deutlich höher als in St. Felix, mittlere Besitzeinheiten waren jedoch ungefähr gleich verteilt – sie machten da wie dort etwa ein Drittel aus. Die durchschnittliche Größe der St. Felixer Besitzeinheiten ohne Wald wich nur um einen halben Hektar von jener in Tret ab, Besitzeinheiten mit eigenem Wald waren allerdings durchschnittlich doppelt so groß. 

Nach wie vor wird in der internationalen Forschung auf die Studie von Cole und Wolf rekurriert. Am intensivsten damit auseinandergesetzt hat sich zuletzt Dionigi Albera, ein historisch arbeitender Anthropologe, dessen Karriere mit Forschungen zu den Piemonteser Alpen begann und der nunmehr directeur de recherche am CNRS und am Institut d‘ethnologie méditerranéenne, européenne et comparative in Aix-en-Provence tätig ist. In seinem 2011 erschienenen Buch über Boden, Macht und Verwandtschaft im alpinen Europa stellt er den gesamten Alpenbogen umspannende Vergleiche an.  Dafür arbeitet er eine „kontextuelle Typologie“ heraus, die drei bäuerliche Haushalts-, Familien-, Verwandtschafts- und Erbmodelle in Verbindung zueinander unterscheidet. Neben dem „type bourgeois“ und dem „type agnatique alpin“ nennt er den „type Bauer“, der maßgeblich auf den Befunden von Cole und Wolf zu St. Felix gründet. Darauf basiert Alberas sozio-politische und soziokulturelle Modellierung des ostalpinen Raums – der sich von Südtirol nach Österreich und Slowenien zieht. Bei allen Verdiensten, die dem groß angelegten Unterfangen von Albera, zuzusprechen sind, liegt ein Problem der Studie darin, dass sie zwangsläufig auf einer Vielzahl älterer Forschungen aufbaut und damit Ergebnisse fortschreibt, die mittlerweile einer Differenzierung bedürften. Das gilt auch für die Pionierstudie The Hidden Frontier.

Aus heutiger Sicht sind vor allem drei Punkte diesbezüglich anzuführen: Besitztransfers im Erbgang müssten breiter kontextualisiert, das heißt, in das gesamte Spektrum an Vermögenstransaktionen eingebunden werden, das Geld, Mobilien sowie vertragliche Ansprüche und damit auch das Heiratsgut beziehungsweise die Mitgift der Frauen und die Erbteile der Geschwister mit einschließt sowie die Frage des Zusammenspiels von Erb- und Ehegüterpraxis aufgreift. Davon ausgehend und bezogen auf St. Felix müssten zudem die Fragen nach Bedeutung und Praxis von Verwandtschaft neu gestellt werden. Fernere Verwandtschaftsbeziehungen über Nachkommen und Geschwister hinaus, müssten einbezogen und die Bandbreite situativer Aktivierung und Präsenz von Verwandten ausgedehnt werden. Und schließlich sind die Befunde von Cole und Wolf in ihrer Zeitlichkeit zu sehen. In Kapitel neun „Die neue Wirtschaftsordnung“ orteten die beiden Anthropologen bereits in den 1960er Jahren ökonomische und soziale Veränderungen. Mittlerweile sind die beiden Orte merklich auseinandergedriftet. In St. Felix fielen im Zuge einer Exkursion mit Studierenden der Universität Wien im Jahr 2006 sogleich die zahlreichen Neubauten, Zubauten und Renovierungen auf: Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude, umfassende Infrastruktur von der Feuerwehrhalle über Schulen, eine Bibliothek bis zur Kläranlage oder einem Sportplatz und nicht zuletzt eine neu errichtete Gewerbezone. Tret jedoch verfiel zum Teil, alte Steinhäuser, zahlreiche Ställe und Stadel standen leer, die Zahl der Einwohner und Einwohnerinnen war so weit geschrumpft, dass die Volksschule aufgelassen wurde. Neben der Kirche war die Casa sociale die einzige öffentliche Einrichtung. Nicht einmal eine Hand voll bäuerlicher Betriebe gab es damals noch; die ungenutzten Wiesen und Felder pachteten die St. Felixer Bauern. Neubauten entstanden weit oberhalb des Ortszentrums an der Staatsstraße zum Gampenpass, vornehmlich Wochenend- und Ferienhäuser von Mailändern, Boznern und anderen. Eine plausible Erklärung für diese drastische Differenz sahen wir in der unterschiedlichen Förderpolitik der letzten Jahrzehnte auf Provinzebene, die in Südtirol – anders als im Trentino – auch Klein- und Bergbauern unterstützt hat. 

Salto in Zusammenarbeit mit: Kuturelemente