Cultura | Kunst im Alltag

Magst Du Kunst?

Wenn man Dich fragt, ob Du Kunst magst, sagst Du wahrscheinlich ja, zumindest theoretisch.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

Nach jüngsten Umfragen sagen mehr als zwei Drittel der Erwachsenen, dass sie Kunst mögen. Doch nur 30 Prozent haben ein Konzert besucht, 23 Prozent ein Museum, 6 Prozent haben an einer literarischen Veranstaltung teilgenommen. Und weniger als die Hälfte hat sich persönlich in irgendeiner Form künstlerisch betätigt.

Der Hauptgrund für die Diskrepanz zwischen unseren Interessen und unserem Handeln liegt anscheinend darin, dass wir keine Zeit haben, uns der Kunst zu widmen, weil wir mit unseren täglichen Aufgaben überfordert sind. Auf der Arbeit oder bei der Hausarbeit hören wir vielleicht etwas Musik im Hintergrund, aber selbst vor der Pandemie gingen wir nur selten zu einer Live-Aufführung, geschweige denn in eine Kunstgalerie oder ins Theater. Wie sieht es mit Literatur oder Poesie aus? Wahrscheinlich haben wir seit der Schulzeit kein einziges Buch mehr gelesen.

Allzu oft lassen wir zu, dass die Monotonie des Lebens zwischen uns und der Kunst steht, die im Vergleich dazu frivol erscheinen mag. Doch das ist ein Irrtum. Kunst ist keine Ablenkung von der Realität, im Gegenteil: Sie ist vielleicht unser realistischster Blick auf die Welt und vielversprechender Pfad, um den Sinn des Lebens zu erforschen. Und wenn Du Zeit für die Kunst findest - so wie Du auch Zeit für Arbeit, Sport und familiäre Verpflichtungen findest - wird Dein Leben vollständiger und glücklicher werden.

Wir Menschen, neigen dazu das Leben zu einer unerträglichen Plackerei werden zu lassen, um immer mehr zu verdienen und zu erreichen, auf der Suche nach einer Erfüllung, die nie zu kommen scheint.

Im Jahr 1818 behandelte der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer dieses Thema wie folgt:  Was wir heute als "Hamsterrad" bezeichnen würden, definierte er als "Rad des Ixion", nach dem König der griechischen Mythologie, der versuchte, die Frau des Zeus, Hera, zu verführen, und zur Strafe an ein großes feuriges Rad gebunden wurde, das sich bis in alle Ewigkeit drehen sollte. Schopenhauer zufolge war dieses Rad eine Metapher für das hektische Leben, das von dem, was er „Wille" nannte, oder unserem geistlosen Streben nach weltlichem Erfolg, bestimmt wird. Dieser „Wille“ unterwirft uns, verwandelt uns in einen Homo Oeconomicus und verurteilt unsere Tage und Jahre zum Schuften.

In gewisser Hinsicht ist das eine Kapitulation vor der Realität, aber auch eine Antwort auf das Bedürfnis, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. Schopenhauer argumentierte jedoch, dass der Wille uns zu einer Form der Verblendung führt, die unsere Aufmerksamkeit so stark einschränkt, dass wir die objektive Realität nicht mehr wahrnehmen. Wir sind besessen von unseren alltäglichen Erfahrungen, die klein und subjektiv sind, und schwanken gedankenlos zwischen Lust und Langeweile. Die Kunst hingegen zwingt uns, nicht mehr durch das enge Guckloch des Alltags zu schauen, sondern die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Indem wir mit der Kunst in Berührung kommen, denken wir über universelle Ideen nach und nehmen sie auf, anstatt uns auf die verführerischen Kleinigkeiten des Ich zu fixieren.

Durch die Erweiterung unserer Perspektive wird Stress abgebaut, und wir werden uns bewusst, dass die Welt größer ist.

Sich an der Kunst zu messen, nachdem man sich auf die unbedeutenden Details der Routine konzentriert hat, ist wie ein Blick auf den Horizont, nachdem man zu lange auf ein bestimmtes Objekt gestarrt hat: Unsere Wahrnehmung der Außenwelt erweitert sich zu einem „Panoramablick“. Und man sieht plötzlich mehr. Eine eingeschränkte Sichtweise bestärkt unsere Angstgefühle, während eine erweiterte Sichtweise Stress reduziert und uns bewusster macht, dass die Welt größer und vielschichtiger ist.

Kunst öffnet unseren Geist und befreit uns von der Langeweile des Willens. "Das wahre Kunstwerk führt uns (...) [zu] dem ewig Seienden und tut es jedes Mal mit unzähligen Zeichen", schrieb Schopenhauer 1851.

Denk an das Musikstück, das Dich bewegt hat. Oder das Klopfen Deines Herzens beim Anblick einer zarten und unglaublich realistischen Skulptur. Oder das Schwindelgefühl, das einen überkommt, wenn man in einer fremden Stadt aus einer Seitenstraße kommt und sich auf einem wunderschönen Platz wiederfindet. Die Chancen stehen gut, dass all diese Schönheit Dich nicht wie ein Narkotikum betäubt hat. Vielmehr könnte es sein, dass Du plötzlich tief in Deinem Inneren aufgewacht bist, und Dich so fühlst als hättest Du nach einer langen Atempause, endlich wieder reinen Sauerstoff bekommen.

Kunst geht über einfache Gefühle hinaus. Sie kann uns alle Arten von Erfahrungen und Emotionen erleben lassen. Ein melancholisches Lied kann Traurigkeit hervorrufen, und diese kann sich als unerwartet ekstatisch erweisen. Selbst Angst kann die Kunst noch erhabener erscheinen lassen. Kunst wie die Wahrheit mag traurig oder erschreckend sein, aber sie bringt immer große Erfüllung.

Wenn Du, wie der Großteil der Menschen, der Meinung bist, dass Kunst "reines Vergnügen ist, das man erleben und genießen sollte", dann könntest Du sie auf die gleiche Stufe stellen wie ein gemütliches Abendessen in einem Restaurant oder einen Fallschirmsprung: ein Luxus, der in Deiner begrenzten Zeit kaum Platz findet. Vielleicht würdest Du es also wie jedes andere unwichtige Hobby behandeln.

Aber mache nicht diesen Fehler. Betrachte die Kunst weniger als eine angenehme Abwechslung, sondern vielmehr als etwas wie Bewegung, Schlaf oder Romantik, d.h. als ein notwendiges Element für ein Leben voller Zufriedenheit. Ich will damit nicht sagen, dass Du Deine Arbeit aufgeben und Dichter werden sollst. Aber Du solltest Dich jeden Tag bemühen, vom Rad des Ixion wegzukommen.

Fange an, einen Moment in Deinem Alltag der Kunst zu widmen, eine Viertelstunde würde schon genügen. Schreibe eine Liste von Musikstücken, Gedichten, Büchern und Werken, die Du gerne hören und über die Du mehr erfahren möchtest. Tag für Tag hakst Du dann einen Punkt auf der Liste ab. Du wirst erstaunt sein, wie viel Du in einem kurzen Zeitfenster erreichen kannst, und noch erstaunter, wie sich dadurch Deine Wertschätzung für das Leben verändert, auch in Bereichen, die scheinbar nichts mit der Kunst zu tun haben.

Und versuche Dich selbst in einer Kunstform. Melde Dich für einen Töpfer- oder Aquarellkurs an, oder schreibe Gedichte. Obwohl es keine empirischen Beweise gibt, über das Ausmaß an existenziellem Bewusstsein, das durch die Ausübung von Kunst gewonnen wird, deuten einige Studien darauf hin, dass Kunst einen tiefgreifenden psychischen Benefit mit sich bringt:  sie macht uns glücklicher.