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Soziales Kaffeesatzlesen

Eine Spurensuche nach der sozialen Idee "Gegenseitige Hilfe". Die koffeinhaltige Zeitreise beginnt in Neapel und endet mit einem Lied.
napoli
Foto: Salto.bz

„Der Kaffee so schwarz wie die Nacht, süß wie die Liebe, heiß wie die Hölle“ war der geschmackvolle Eindruck des Revolutionärs Michail Bakunin (1814-1876), als er Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadt Neapel aufsuchte, lieben lernte und sich dort erstmals als Anarchist bezeichnete. Auch die Geschichte des 1. Mai hat einen anarchistischen Ursprung. Sie ist auf eine Gruppe von Arbeitern in Chicago des Jahres 1886 zurückführen.
Was den anarchistischen Gründervater Bakunin – er hat die Ursprünge des bis heute wichtigen Feiertags nicht miterleben dürfen – bei seinen Kaffee-Erlebnissen zwischen 1865 und 1867 in Neapel derart beeindruckte?
Womöglich eine nicht alltägliche Eigenheit der Gegenseitigen Hilfe, denn Neapel stärkt in dieser Zeit nicht nur Bakunins Bewusstsein, dass sich die ausgebeutete Bevölkerung zusammenschließen und organisieren muss, um die moralische und materielle Ausbeutung durch Kirche und Staat zu bekämpfen, sondern sie ist auch: die Geburtsstadt des Caffè sospeso. Zwar ist nicht eindeutig belegt, ob dieses revolutionäre Kaffeetrinken von antiautoritären Freidenkern herrührt, feststeht: den Sospeso gibt es heute noch. Genau so selten wie Anarchist*innen.

Sospeso? Diese philanthropische und soziale Eigenheit Neapels ist einfach erklärt. Möchte jemand einen sozialen Beitrag leisten, so bezahlt er in der Bar einfach zwei Tassen Kaffee – nimm 1, zahl 2. Kommt jemand vorbei, der sich keinen Kaffee leisten kann, so hat er Anspruch auf den „Aufgehobenen“ und kann ihn kostenlos zu sich nehmen. Nach der letzten Wirtschaftskrise verbreitete sich die alte Idee wieder in einigen Ländern Europas. In Deutschland gibt es seit 2013 das Projekt Suspended Coffees. Mittlerweile können auch andere Produkte sowie Dienstleistungen für andere spendiert werden.
Der Ursprung des Sospeso – so eine der vielen Theorien – könnte darin liegen, dass es einst beim Bezahlen größerer Kaffeerunden vorkam, dass im Streit um das Bezahlen der Runde mancher Kaffee zu viel bezahlt wurde und der soziale Gastwirt oder Barbetreiber, eben den nicht konsumierten Kaffee notierte, um ihn dem nächstbesten Bedürftigen zu spendieren.


Der aufgeschobene Kaffee steht dem anarchistischen Gedanken der Gegenseitige Hilfe sehr nahe, jenem ethischen Verhaltensprinzip, welches erstmals in weiten Teilen der frühsozialistischen Arbeiterbewegung Frankreichs gelebt und später auch in Italien und anderen Ländern Europas übernommen wurde. Pjotr Kropotkin (1842-1921) – wie Bakunin ebenfalls russischer Herkunft und begeisterter Anarchist – veröffentlichte 1902 sein Werk Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Darin untersuchte er verschiedenste Formen der gegenseitigen Hilfe und stellte fest, dass sogar „den schwächsten Tieren ein langes Leben gesichert sei, während dem Menschen Strukturen wie Staat und Kapitalismus im Weg stehen.“ Der wichtigste Aspekt sei „das Naturgesetz der gegenseitigen Hilfe, als Ergebnis von Geselligkeit und Individualismus, und nicht der Nebenaspekt des Kampfes ums Dasein.“ Im Sinne Kropotkins argumentierte auch der bekannteste Vertreter des kommunistischen Anarchismus in Italien Errico Malatesta (1853-1932) und prägte die Parole: „Alle für jeden und jeder für Alle“

 

Lokale Beispiele gefällig? In Trient gab es bereits 1896 den Verein Gegenseitige Hilfe für Handwerker. Er setzte sich für günstige Arbeiterhäuser ein und es gelang ihm einige Projekte umzusetzen. Im Tiroler Oberinntal gründete sich am 1. Mai 1904 der Verein der Bienenzüchter auf den Grundfesten der gegenseitigen Hilfe, wie auch der in Meran 1913 gegründete Verein der arbeitenden Frauen.
In einem alten Landgasthof im Überetsch ist bis in die 1950er Jahre das sogenannte Kundi-Bankl belegt, auf welcher Landstreicher, wandernde Handwerker und Bettler – abseits der „Herrschaften“ – Platz nehmen konnten, in der guten Hoffnung an übriggebliebenem Wein, der begehrten Maibutter, oder an eine kleine warme Mahlzeit zu kommen. 

 

Auch der 1934 im KZ Oranienburg von den Nationalsozialisten ermordete Dichter und Vagabund Erich Mühsam (1878-1934) – ihm gelang im Schmach-Gedicht auf Benito Mussolini Sittliche Erziehung sich auf Bozen mit dem Wort lotsen einen Reim zu machen – war ein glühender Verfechter der gegenseitigen Hilfe.
Wer in seinem freien Sinne den 1. Mai begehen will, kann das nachfolgende Lied – leise oder laut – mitsingen. Und dazu einen feinen Kaffee genießen. 

 

Eingespielt von Bernd Dittl am Wanderhaus Bakuninhütte in Thüringen

 

Immer noch die dürftigen Nöte

Immer noch die dürftigen Nöte!
War mir doch das Geld vergönnt,
daß ich eine neue Flöte
meinen Liedern kaufen könnt!
Eine Flöte, drauf ich bliese
kummerfreie Melodein.
Die mich heut begleitet, diese
Knarre sargt ich sorglich ein.

Schön von Holz, doch nicht von Pappe
sei mein Instrument gebaut,
und aus edler Silberklappe
ströme meines Atems Laut.
Sammelt für den Dichter,
sammelt, daß aus Gelde Freude sprießt!
Haltet nicht das Tor verrammelt,
das des Dichters Lied verschließt!

Hätt ich erst die neue Flöte,
Denkmal eures Opfersinns –
der Gesang, den ich euch böte,
wäre mehr als Dank und Zins.
Und ihr alle ohne Zweifel
sängt nach meinem Notenblatt,
von der Weichsel bis zur Eifel,
von der Alp zum Kattegatt.