Cultura | Salto Weekend

Waldemar und Wally

Wolftraud de Concini hat 20 Kunstfotografien zu einer Bild-Text-Geschichte verwoben. Im Interview erzählt sie, wie es dazu gekommen ist. Und was sie mit der Wally vorhat.
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Foto: Salto.bz

salto.bz: Sie haben während der Quarantäne-Zeit eine Fotoserie erstellt und eine Geschichte mit dem Titel „Die Geschichte von Waldemar“ dazu geschrieben. Wie ist es dazu gekommen?

Wolftraud de Concini: Ich fahre gern durch die Gegend und mache Fotos. Von Menschen, Bauten, und Details, weniger von Landschaften.
Als es wegen der Coronavirus-Quarantäne mit dem Herumfahren aus war, habe ich in der Wohnung fotografiert. Einfach bei fast totaler Dunkelheit. Ich habe auf den Auslöser gedrückt und den Fotoapparat bewegt. So wurden Kissen und Sofadecken und herumliegende Jeans, Türen, Möbel und Schachteln zu Bildern, die nicht vorauszusehen waren. Die virtuellen Berge und Bergdörfer und Landschaften haben sich aneinandergereiht und nach einer Geschichte verlangt. So ist die Geschichte von Waldemar entstanden: eine magische Reise durch die Welt.
Diese Geschichte könnte man beliebig ausweiten, zu einem Film verarbeiten und zu einem Event – mit Fotoprojektion und Livemusik – machen.

Ja, die Wally! Die geistert mir schon seit mehreren Jahren durch den Kopf.

Mit künstlerischer Fotografie haben Sie während Ihres Aufenthaltes als Stadtschreiberin in der Kulturhauptstadt Pilsen begonnen. Was war der Ansporn?

Bei meinem mehrmonatigen Aufenthalt 2015 als Stadtschreiberin in der damaligen Kulturhauptstadt Pilsen hatte ich einen Blog. Wenn mir da einmal kein Thema einfiel, postete ich Fotos, die dann zu einer vom Deutschen Kulturforum östliches Europa organisierten Wanderausstellung geworden sind. Und mir ist bewusst geworden, dass man mit Fotos dasselbe ausdrücken kann wie mit Worten. Aber manchmal bequemer und weniger zeitaufwändig.

Ihr vor kurzem verstorbener Mann Olimpio Cari ein Freigeist und Künstler , hat viele Zeichnungen und Malereien hinterlassen. Sie haben dazu eine Publikation geplant?

Mein Partner Olimpio ist, nach 36jährigem Zusammenleben, vor vier Monaten gestorben. Er hat viele Malereien – Hinterglasbilder – und Skulpturen hinterlassen. Ich bin auf der Suche nach einer Ausstellung plus Publikation.

Außerdem recherchieren Sie gegenwärtig zur legendären Wally-Figur. Was können Sie verraten, was ist zu erwarten?

Ja, die Wally! Die geistert mir schon seit mehreren Jahren durch den Kopf. Nicht nur die literarische Geierwally-Figur, sondern auch die nach ihr benannte Wally Toscanini, eine Tochter des genialen Maestro Arturo Toscanini. Zwischen diesen zwei Wallys liegen die – reale – Malerin Anna Knittel-Stainer (1841–1915), der von ihr inspirierte Roman „Die Geierwally“ von Wilhelmine von Hillern (1875) und die davon angeregte Oper „La Wally“ von Alfredo Catalani (1854–1893), einem von Arturo Toscanini hoch geschätzten italienischen Komponisten.
Diese Fakten will ich in einer Publikation verbinden, die noch in diesem Herbst erscheinen soll.
 

Die Geschichte von Waldemar
 

Es war einmal – und es ist auch heute noch, glaube ich – ein Dorf im Gebirge 

So in 1300 m Höhe. Ein Dorf in leisen Farben, in gedämpften Brauntönen, wie es diese aus Holz erbauten Ortschaften in den Alpen sind, die Häuser am Fuß einer Felswand zusammengeduckt wie verschreckte Hühner.
Es war Winter, das Radio hatte starken Schneefall angekündigt. Die Leute blickten besorgt aus dem Fenster,

als die ersten Schneeflocken fielen. Und dann schneite es und schneite und schneite. Ununterbrochen mehrere Tage lang. Die Wege waren nicht mehr frei zu halten, Fenster und Türen waren bis zum ersten Stock von Schneemauern bedeckt,

der Strom war ausgefallen, in den düsteren Häusern zündeten sie Kerzen und Petroleumlampen an und verbrannten, um Unheil fernzuhalten, die zu Ostern gesegneten Olivenzweige.
Doch auch in der Dunkelheit hatten alle sie gesehen. Drei Gestalten, mehr Schatten als Personen, schwebten lichtumhüllt in der Finsternis.

Sie bewegten sich bis zu einem bescheidenen Haus am Dorfende. Wo sie verschwanden. Und bald nach dieser Erscheinung hörten die Schneefälle auf.
Wie oft hatte Waldemar diese Geschichte seiner Geburt gehört, wie oft hatten sie ihm diese rätselhaften Gestalten beschrieben und ihm erzählt, dass sie ihm, dem Auserwählten, besondere Gaben gebracht hatten: dass Engel ihn beschützen würden und dass er mühelos durch die Welt reisen, fremde Sprachen verstehen und sich mit allen Lebewesen – Menschen, Tieren und Pflanzen – verständigen würde.
Allmählich kam das Bergdorf – wir kennen seinen Namen nicht – wieder ans Tageslicht.

Auf den Dächern lagen noch Schneereste, aber der Alltag konnte jetzt erneut seinen Lauf nehmen.
Waldemar wuchs heran und vergnügte sich mit Streifzügen durch die Gegend. Die Eltern hatten keine Angst um ihn, weil sie ihn seit seiner Geburt unter dem Schutz der Götter wussten. Sein Lieblingsplatz war eine Anhöhe in Dorfnähe. Besonders gern hielt er sich dort bei Gewitter auf, wenn die Wolken sich am Himmel zusammendrängten, das Echo von den Bergen widerhallte und die Blitze sich im kleinen Bergsee spiegelten.

Bald wagte er auch längere Wanderungen und Reisen. Mühelos, als würde er von einem fliegenden Teppich durch die Welt getragen, von einem Ort zum anderen, über Grenzen und Schranken hinweg.
Er ging, dem Lauf der Sonne folgend, nach Westen und fand hohe, mächtige Felsberge.

Es waren Viertausender wie das Matterhorn, der Montblanc und der Monte Rosa. Er kannte ihre Namen nicht und wusste nicht, dass auf diesen Fels- und Eiswänden legendäre Kapitel der Alpingeschichte geschrieben worden waren.
Er ging nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen, und fand helle, schroffe Felswände.

die – auch das wusste er nicht – in der Welt als „bleiche Berge“ bekannt waren und als Heimat des 6. Grads im Bergsteigen galten.
Er ging nach Norden und fand im Polarmeer riesige, Furcht erregende Gletscherberge

uralte Eismassen, die zerbröckelten wie trockenes Brot und in Stücke zerfielen wie morscher Marmor. Das wussten auch wir bis vor Kurzem nicht.
Auf einem seiner Streifzüge umging Waldemar einen Bergriesen

auf einem schmalen Felsband, hoch in der Wand. Da zeigte sich ihm unerwartet eine neue, unbekannte Welt. Nicht mehr Berge umgaben ihn, wie er sie bisher gekannt hatte, sondern es taten sich weite, offene Horizonte vor ihm auf, sanfte Hügel und grüne Wiesen und Felder.

Auf einem der Hügel erhob sich eine Burg.

„Persen“ wurde sie, so erfuhr Waldemar, von den Einheimischen genannt. Ein so mächtiges Bauwerk hatte er, der an Holzbauten Gewöhnte, noch niemals gesehen. Am Eingangstor kam ihm ein weiß gekleideter Mann mit langem Bart entgegen. Er erkannte Waldemar, ohne ihn jemals gesehen zu haben, nannte ihn beim Namen, nahm ihn bei der Hand und begleitete ihn in einen der Türme. Jenseits der Ringmauer lagen Städte und Dörfer, Kirchen und einsame Gehöfte, dazu Felder und Wiesen und Bergketten in der Ferne.
Das sei die Welt und die werde er kennen lernen. Aber der Alte warnte Waldemar: Hüte dich vor verlockenden Anfechtungen und verführerischen Reizen. Und wenn du dich in Gefahr glaubst, rufe die Engel an. Sie werden dich, den Erwählten, beschützen. Und noch etwas: Suche eine grüne Pforte, hinter ihr wirst du das Glück finden, das du seit Langem suchst.
So begann Waldemars neue Reise durch die Welt.
Unter seinen Füßen breitete sich unvermutet ein Teppich aus, ein farbiger, flauschiger Teppich mit hellen Ornamenten. Und feinen Stickereien, wie nur die Frauen im Orient sie schaffen können. 

Waldemar schwebte durch die Luft, überflog Länder und Meere, um dann sanft und weich auf einer Lichtung am Waldrand zu landen.
Auf der anderen Seite einer dunklen Kluft winkten ihm drei Figuren zu, drei zauberische, bunt gekleidete junge Frauen, die sich bei den Händen hielten und ihn lachend riefen.

Sie rühmten sich, den fliegenden Teppich für ihn gewebt zu haben, verlockten ihn mit ihren Reizen, versprachen ihm Vergnügungen und Genüsse ohne Ende. Doch der Teppich war nicht zum Abflug zu bewegen, die tiefe schwarze Kluft, die ihn von den jungen Frauen trennte, war nicht zu überwinden. Da erinnerte sich Waldemar an die Ratschläge und Ermahnungen des Alten auf Burg Persen: keiner geheimnisvollen, unheimlichen Versuchung nachzugeben.
Er hatte noch keinen klaren Gedanken gefasst, als ein mit einem Schwert bewaffneter Engel – war es der heilige Michael, der auf dem Dorfbrunnen seines Heimatorts thronte? – angeflogen kam, ihn erfasste und aus der Gefahr befreite.

Waldemar fühlte sich wieder sicher und geborgen, glaubte, die Welt erobert zu haben. Doch da stellten sich ihm neue Gefahren in den Weg. Um das andere Ufer eines Meeres zu erreichen, musste er ein Segelschiff besteigen (wir dürfen nicht vergessen, dass sein fliegender Teppich keine großen Wasserflächen überwinden konnte), einen klapprigen Zweimaster, der bei jedem Wellenstoß in allen Fugen krachte.

Da erinnerte sich Waldemar (glücklicherweise hatten seine Eltern ihn kirchlich unterwiesen) an die kleinen Exvoto-Täfelchen, die er in der Kirche seines Geburtsdorfs bewundert hatte, diese naiven Malereien, die von Rettung aus Seenot erzählten. So rief er den heiligen Nikolaus an, den legendären Retter der Schiffbrüchigen: Die Wellen beruhigten sich und das Schiff konnte an einer sicheren Meeresküste landen.
Doch noch ein Hindernis war zu überwinden: Waldemar musste, wie einst die vom Pharao verfolgten Israeliten, durch ein Meer ziehen. Und wie vor dem erwählten Volk Israel taten sich vor dem erwählten Waldemar hohe, drohende Meeresfluten auf und ließen ihn durchziehen.

Er lebte nun in der arabischen Wüste, in einem fernen Land, das so gar nichts mit seinem heimatlichen Bergdorf zu tun hatte. Auf einmal stand er vor einem Haus mit einer grünen Tür.

Sollte der Weise auf der Burg Persen Recht gehabt haben? Er wagte nicht anzuklopfen, doch wie durch ein Wunder ging die Tür von alleine auf. Eine junge Frau trat ihm entgegen und führte ihn ins Innere, wo sie ihn bewirtete und liebte.
Waldemar nahm sie in seine Heimat in den Bergen mit. In der kleinen Dorfkirche war inzwischen – denn es waren lange Jahre vergangen – eine Pietà-Statue

gestiftet worden, als Dank für die Rettung aus Schneegefahr. Und da inzwischen eine todbringende Massenerkrankung ausgebrochen war, hatten die Einheimischen auch die Gottesmutter zur Sicherheit mit einem Mundschutz versehen.
Nicht weit von Waldemars Geburtsdorf erhob sich ein Berg, den er niemals zu besteigen gewagt hatte. Er war zu hoch, zu schön, zu rein.

Doch jetzt, mit der jungen, geliebten Frau an seiner Seite, hatte er den Mut zu diesem Unternehmen. Sie langten mühelos auf dem Gipfel an: auf dem Berg des Lebens. Und sie waren in leuchtendes, strahlendes Licht eingetaucht.
So begann Waldemars neues Leben. Mit Fatiha. Dieser arabische Name, der auf die erste Sure des Korans zurückgeht, bedeutet „Eröffnung“, „Neubeginn“.
Das Ende der „Geschichte von Waldemar“ wird zu einem neuen Anfang für Waldemar und Fatiha.

P.S.:
Dies ist die „Geschichte von Waldemar“, wie die während der Coronavirus-Epidemie in der Wohnung gemachten Fotos sie mir eingegeben haben. Es hätte auch eine andere Geschichte werden können. Aber mir gefiel sie so.

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Jul Bruno Laner Dom, 08/02/2020 - 17:45

Liebe Rotraut De concinini!
Mit Trauer habe ich eben vernommen, dass Dein lieber Olimpio uns verlassen hat. Bitte nimm, wenn auch mit Verspätung, das Zeichen meiner Anteilnahme entgegen.
Habe mit großer Aufmerksamkeit Deine Geschichte von Waldemar gelesen. Es ist bewundernswert, wie Ausdrucksstark DeineAufnahmen aus der globalen Quarantänezeit sind. So abstrakt sie auf den ersten Blick auch wirken mögen, desto mehr an Gegenständlichkeit nehmen sie durch Deine Texte zu. Zugleich wird man angeregt, neue Nebenhandlungen daraus abzuleitenen und weiter zu fabulieren. Wunderbare Sache, danke, Bravo!

Dom, 08/02/2020 - 17:45 Collegamento permanente