Cultura | Salto Weekend

Fremd bin ich ausgezogen

– als Vertraute kehr ich zurück. Ein Gastbeitrag der Autorin Maxi Obexer. Sie stellt am 5. Dezember in Bozen ihr Buch "Europas längster Sommer" vor.
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Foto: Bildquelle: ORF

Was war passiert?
Ich trete in einer Schutzhütte auf etwas über 2000 Metern, vom windigen kalten Draußen komme ich in eine warme, beinahe dampfende Gaststube voller Gäste. Meine Brille schlägt an, die Leute, die an den Tischen sitzen, erkenne ich schemenhaft; mit einem Auenwinkel aber nehme ich wahr, dass sie mich wahrnehmen, während ich mich durch Tische und Stühle wühle. Ich zieh die Brille auf die Stirn, ich sehe, wie sich ein ganzer Tisch voller Leute den Kopf zu mir dreht, mich angrinst und anerkennend mit dem Kopf nickt. Völlig überrascht und beschämt erwidere ich ein Lächeln. Dann ziehe die Brille vor die Augen und studiere die Speisekarte. Meine Freundin amüsiert sich: „So schönl!“ und grinst über beide Ohren. Wenig später kommt eine Frau an unseren Tisch, sie möchte nicht stören, sagt sie und ist so herzlich und zugewandt, dass es mich einschüchtert. Sie möchte nur sagen, dass sie es ganz toll fand und wünscht mir alles Alles Gute. Um dem noch Nachdruck zu verleihen, nimmt sie meine Hand, umschließt sie mit meinen beiden Händen und schüttelt sie kurz und innig. Am Tresen wo ich mich hinstelle, um zu bezahlen, winkt mich ein Tisch voller Leute zu sich heran: „Weitermachen“ Sie möchten mir nur sagen, dass ich „Weitermachen“ soll und heben ihr Glas. So geht es weiter. Im Dorf hält ein Auto an: ein Mann, ich kenne ihn wieder als ein Freund meines Vaters, deutet mit seinem Zeigefinger, dass ich ans Autofenster treten soll. Er will wissen, was denn „Mit diesem Typen los war! Da steckte doch was anderes dahinter, das hatte doch mit dir nichts zu tun, was war denn mit dem los?!“ Ich erwidere, dass sich da natürlich einiges im Hinterzimmer abspielt, die Juroren zerstritten waren und gegenseitig austeilten, was auf den Rücken von uns Autor*innen ausgetragen wurde. „Genau! Genau das! Das konnte man doch riechen, das ging doch nicht mit rechten Dingen zu, der Typ hat sich ja komplett gehenlassen!“ Aber das wollte er gar nicht sagen. Er wollte sagen, „dass er stolz auf mich ist. Und dass alle hier stolz auf mich sind! Und dass ich auch ganz stolz auf mich sein kann!“
Was war denn da los? Mein Bruder kommt zum Mittagessen, seit Monaten haben wir uns nicht mehr gesehen. Lachend noch immer völlig belustigt erzählt er, wie sich die ganze Verwandtschaft zusammengerufen hatte, um mir beim „Bachmannlesen“ zuzuschauen. „What?“ JA! Zum ersten Mal erfahre ich auch jetzt, dass es in der Zeitung stand, dass sogar der Kulturassessor seine Glückwünsche ausgesprochen hatte! Ich wusste nichts davon. Die Schwägerin meines Bruders hatte sogar den Obststand in Bozen verlassen, um zuzuschauen, an einem Samstagvormittag! Pünktlich zur Mittagszeit, als die Dorfsirenen ertönten, schalteten die Leute den Fernseher an und schauten einem Literaturwettbewerb zu. Wie beim Skifahren.
Ich wusste nichts davon. Nur von meiner Mutter wusste ich, dass sie sich die Lesungen und Jurygespräche von Beginn an angesehen hatte; ehrfurchtsvoll sprach sie am Telefon davon, was wir da leisten würden, wir Autoren, und welche Nerven wir haben müssten. Und dann gestand sie, dass sie es bis zu meinem Auftritt nicht geschafft hatte. „Ich musste ausschalten und aus dem Haus gehen; wie diese Leute da über Euch reden, das konnte ich mir nicht länger antun.“
Ein Land schaute zu; wie bei einem Skirennen, und ich war ihre Slalomfahrerin. Auch ich hatte mich an das Bild eines Skirennens gehalten, bei dem ich so oft mit meinem Vater vor dem Fernseher stand! Als ich mich also bevor es los ging fragte, was denn bitte diese Lesung von anderen unterschied, kam ich nicht weiter. Ganz verstanden habe ich den Zirkus bis heute nicht. Aber ich kam auf eine Lösung für mich! Ich muss wie beim Skirennen kräftig abstoßen und die Kurven nehmen, so gut ich es eben kann. Der Rest ist nicht mein Business.
Jetzt, da ich hier bin und auf den Bergen unterwegs bin, um das Erfahrene buchstäblich ‚abzuwandern’, treffe ich auf die Leute und was ich erlebe, hätte ich nie gedacht: sie drücken mir ihre Verbundenheit aus, drücken mir die Daumen und wollen unbedingt, dass ich ‚weitermache’. Ich bin so stolz auf sie, auf ihr Rückgrat. Und ich bin verblüfft.
Hatte ich nicht auch ihnen eine waghalsige, gar explosive Portion Literatur geliefert? Ich habe von meiner eigenen sprachlichen, sexuellen und geographischen Einwanderung nach Deutschland gesprochen! Auch von ihnen schreibe ich. Dass sie innerhalb dieser elenden Symbiose von Mehrheit und Minderheit, einer typisch nationalen Konstruktion, immer schon genau gewusst hätten, was ihnen Europa wert ist. Weit besser, weit realer, als es in den europäischen Zentren gewusst wird. Weshalb dieses Europa von den Grenzen, von den Minderheiten und von den Migranten her befragt werden muss. Und all das rahme ich auch noch in den Kontext der europäischen Flüchtlingskrise – und dem längsten Sommer Europas. In diesem neuen Mischungsverhältnis hat es dem einen oder anderen Literaturfunktionär die Birne weggesprengt. Nicht den Südtirolern?  

In das Buch fließen, neben denen von Migranten, auch die Gedanken der Leute ein, die ich hier oben auf dem Berg, im Dorf oder auch in den Gesprächen an der Summer School Südtirol erfahren habe. Vor allem die Art eines besonnenen Denkens. Und ein erstaunlicher und unerschrockener Drang, im Denken weiterzukommen. Ein Weiterkommen über die vernünftige Einschätzung, bei der der Versuch zum ausgewogenen, dem nicht polarisierten und politisierten Denken vordergründig ist; ein Denken, das auf die praktische Erfahrung zurückgeht, auf das Zusammenwirken aller im Alltag. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich in den aufgepeitschten Debatten allzu leicht instrumentalisieren lassen. Ihre Bescheidenheit und ihr Stolz haben mich beeindruckt und beeinflusst.
Ich fragte mich einmal mehr: Hört sie denn jemand? Findet ihre so wichtige Stimme Widerhall in den aufgeladenen, zum ständigen Schnellschuss veranlagten Reden? Sie sind so wichtig. Werden sie gehört, wenn der Ex-Landeshauptmann Durnwalder plötzlich von einem „Vaterland Österreich“ spricht? Einem Vaterland? Hat er vergessen, wie sehr dieser abstrakt aufblasbare Begriff gegen den Begriff der konkreten Heimat ausgespielt wurde? Und verloren hat? Und wie dieses ‚Vaterland’ die ganze Südtiroler Bevölkerung damals in die Irre geführt hat? Will man das? Die Leute, die ich spreche, fragen sich, ob es nicht andere Probleme gibt.
Vieles, was die Erfahrungen aller, die in Südtirol leben, ausmacht, wurde nie sichtbar gemacht oder erzählt. Stattessen werden wir beständig an die ein und einzige geschichtliche Erzählung zurückbeordert, die voller Lücken ist. Sie verläuft grobmaschig und engspurig zugleich und vor allem: sie greift auf die Gegenwart zu. Bis dahin, wo einem andere sagen, wie ‚die Südtiroler’ fühlen, als Unterdrückte, und dass sie natürlich von Italien wegwollten. Dieses Narrativ wird einem gerne von den anderen beigebracht, von deutschen oder österreichischen Touristen beispielsweise, und die bestehen darauf! Auch darauf, die Italiener als die Ausländer wahrzunehmen. Die italienischen Südtiroler werden radikal geleugnet. Und mit ihnen ihre Erzählung, ihre Geschichte, auch die ist eine des Ankommens. Wieviel wissen wir davon? Als ich zum ersten Mal Fotographien der italienischen Arbeitsmigranten sah, dachte ich spontan: sie lebten in derselben Armut, in der auch meine Großeltern lebten: verursacht von ein und derselben faschistischen Politik, die über uns alle gespannt worden war. Mit denselben Hilfsmitteln und demselben Erfindergeist wurde versucht, in dieser Armut zu überleben. Wären die beiden Seiten nicht alle politisch und ideologisch so aufgespalten worden, sie hätten damals schon voneinander lernen können.
Auch davon handelt das Buch. Von einer gemeinsamen Geschichte, von inzwischen fast hundert Jahren geteilten Lebens und Alltags, und die können einem nicht andere beibringen.
Kann es sein, dass ich mich mit dem Publikum in Klagenfurt und mit dem Publikum in Südtirol in einem gemeinsamen Wissens- und Erfahrungsstand befand? Dass sich niemand in Südtirol von einem noch fremden Diskurs übergeholfen fühlte? Einfach deshalb, weil sie an der Grenznaht zur realen Auseinandersetzung sind, und diese nicht an ihnen vorbeigeht.
Nein, nicht die Südtiroler – gerade empfinde ich manche Deutsche in dieser Auseinandersetzung als die Rückständigen.
In den vielen Emails, die ich nach Klagenfurt von Südtirolern bekam, wird ein Motiv im Buch besonders hervorgehoben: das Einwandern in die Sprache, das ich über mein Auswandern beschreibe. Auch wenn es sehr persönlich ist, so wie jede Einwanderung zuallererst höchstpersönlich ist, so stellt es doch ein besonderes Thema für viele Südtiroler dar.
Die Südtiroler sind nicht die einzigen mit diesem ganz eigenen besonderen sprachlichen Weg einer Sprachfindung vom Dialekt ins Hochdeutsche. Weil es ein ‚Minderheitenthema’ ist, findet es kaum Berücksichtigung in der Literatur. Peter Handke macht mit seiner eigenen Biographie und der slowenischen Minderheit immer wieder darauf aufmerksam; es ist nicht das Narrativ eines Leidensweges: im Gegenteil! Dass man sich in die eigene Sprache erst noch hineinbewegen kann, ist ein abenteuerlicher Prozess, den so viele teilen
und der ein Teil der Literatur sein muss.
Was können Südtiroler erzählen? Viel mehr jedenfalls als Knödelrezepte und Optionsgeschichten! Was sie mir erzählten, zeugt von einer Lust am Aufbruch und am Vorankommen. So verstehe ich am Ende das „Weitermachen“, das mir entgegengerufen wurde. Das Buch ist eine Geschichte des Gehens und des Ankommens, und die ist eine Beziehungsgeschichte; es geht nicht allein darum, woanders anzukommen. Es ist auch möglich, dort anzukommen, von wo man einmal weggegangen ist.