Società | Gleichberechtigung

„Nicht als Gewalt wahrgenommen“

Der Südtiroler Monitoringausschuss widmet sich jetzt einem Tabuthema: Gewalt an Menschen mit Behinderung. Die Vorsitzende Michaela Morandini über die neue Kampagne.
Michela Morandi, Vorsitzende des Südtiroler Monitoringausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Foto: Michela Morandi
Salto.bz: Frau Morandini, die Tätigkeit des Monitoringausschusses ist zwar mit Start 2017 eine junge, aber gibt es zum Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung in Südtirol Zahlen, bzw. werden diese erhoben?
 
Michela Morandini: Die Aufgabe des Monitoringausschusses für Menschen mit Behinderung, der beim Landtag angesiedelt ist, ist es darauf zu achten, ob die Rechte von Menschen mit Behinderung eingehalten werden und Missstände sichtbar zu machen. Daher ist es nicht die Aufgabe, Daten zu erheben, aber der Anstoß, dass es Daten dazu braucht ist sehr wohl Aufgabe des Ausschusses, weil Daten sehr oft die Grundlage sind um Aktionen zu starten, ein Phänomen sichtbar zu machen. Mir sind keine Daten zum Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung bekannt, auch weil dieses Phänomen so vielfältig ist.
 
Sie studieren und bekommen zu hören, dass es toll sei, dass sie das trotz Behinderung machen.
 
Welche Formen unterscheiden Sie dabei? 
 
Erlauben Sie mir auszuholen: Die Kampagne ist entstanden aus den Beiträgen von Menschen mit Behinderung, den Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern. Es wurden immer wieder alltägliche Situationen genannt, wo sie Gewalt erleben. Wir haben festgestellt, das es auch ein Tabuthema ist: Wir haben letztes Jahr auf das Thema sexualisierter Gewalt an Frauen mit Behinderung aufmerksam gemacht. Auch dort beginnt es schon damit, dass es sehr wenige Studien gibt.
Diese aktuelle Kampagne zielt darauf ab, die vielfältigen Formen im Alltag zu zeigen, um Bewusstsein zu schaffen. Diese beginnen bei Behindertenfeindlichkeit, wobei es sich um Aussprüche, wie auch Hass oder Hetze im Netz, handeln kann. Das ist relativ offensichtlich und auch nachvollziehbar.
 
Nicht immer ist die Ausgrenzung und Gewalt aber so offensichtlich?
 
Ja, es gibt Situationen und Verhaltensweisen, die im allgemeinen Verständnis nicht als Gewalt wahrgenommen werden. Etwa der sogenannte Ableismus, was vom englischen able, also fähig sein, kommt. Dabei betrachtet man einen Menschen mit Behinderung nicht in der Gesamtheit, sondern reduziert ihn nur auf das, was er nicht kann. Oder man hebt etwas Selbstverständliches hervor und gibt den Menschen ein gönnerhaftes Lob, beziehungsweise verkindlicht ihn: „Brav hast du das gemacht.“, oder „Toll, wie das Menschen mit Behinderung machen.“ Das ist eine Form, von der unsere Selbstvertreter:innen sehr oft berichten. Sie studieren und bekommen zu hören, dass es toll sei, dass sie das trotz Behinderung machen.
Eine dritte Form ist der Machtmissbrauch, der zum Beispiel die Form sexueller Bedrängnis haben kann. Es kann auch struktureller Machtmissbrauch sein, etwa in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, wo die Person durch ihre Behinderung eine Hilfe braucht und dabei die Macht missbraucht wird.
Wir versuchen diese Formen der Gewalt mit der Kampagne aufzuzeigen, was dem Schutz der Betroffenen dient. Wir haben dafür einen Aufruf gestartet, uns von Gewalterfahrungen zu erzählen. 
 

 
Die im Alltag häufigste Form wird wahrscheinlich der Ableismus sein, auch weil es dabei um unbewusste Ausgrenzung geht. Wie kann man bei sich selbst darauf achten, ob man sich mitschuldig macht?
 
Ich denke, es geht darum, sich wirklich kritisch zu hinterfragen, ob man das auch macht, unbewusst. Zum Beispiel ist das erste, was ich dann sage: Warum hast du diesen Mensch jetzt so gelobt? Das ist mir auch schon passiert, dass ich da jemandem eine Sonderposition gegeben habe und in diesem Loben man das noch einmal unterstreicht: Das machst du besonders gut, trotz Behinderung. Man kann sich kritisch hinterfragen, wie man Menschen mit Behinderung begegnet und sich fragen, was sie brauchen. Wir reden immer von Menschen mit Behinderung, als ob sie alle die gleichen Bedürfnisse haben. Genau wie Menschen ohne Behinderung haben sie verschiedene Bedürfnisse, bei denen es auf verschiedene Hilfestellungen ankommt. Wichtig ist, dass man dem sehr offen begegnet und auch fragt, was jemand im Alltag braucht.
Eine weitere Form von Gewalt kann sein, wenn man im Alltag, ohne zu fragen, diese Hilfestellung gibt. Eines unserer Mitglieder berichtet immer wieder, dass sie Hilfe bekommt um die sie nicht gefragt hat. Das geschieht sicher aus einem guten Willen heraus, ist aber tatsächlich übergriffig, etwa einen Sehbeeinträchtigten Mensch ohne etwas zu sagen über die Straße begleitet.
 
Natürlich braucht es auch dafür ein bisschen Zivilcourage zu sagen: „Sie geben mir Ihren Namen, weil ich das jetzt melde.“
 
Wie verhält man sich dann als Zeuge richtig?
 
Ich kann hier keine allgemein-gültigen Antworten geben, aber was für mich wichtig ist, ist dass wir als Bürger und  Bürgerinnen in allen Situationen in denen wir Gewalt beobachten, einzugreifen und zweitens im Alltag auf die verschiedenen Formen von Gewalt aufmerksam zu machen. Ich mache ein Beispiel, das fast jedem von uns bekannt sein dürfte: Eine Person im Rollstuhl wartet und der Busfahrer fährt vorbei. Wäre er nicht im Rollstuhl, würde man halten, aber der Busfahrer tut es nicht, aus welchem Grund auch immer. Was macht man in so einer Situation? Man macht aufmerksam. Ich habe das auch mehrmals gemeldet, mit Zeit, Ort und Namen des Busfahrers. Natürlich braucht es auch dafür ein bisschen Zivilcourage zu sagen: „Sie geben mir Ihren Namen, weil ich das jetzt melde.“
 
Wo kann man Meldung erstatten?
 
Was Mobilität betrifft am besten beim Arbeitgeber der Person, beim Anbieter der Dienstleistung. Natürlich kann man auch beim Monitoringausschuss oder der Antidiskrimnirungsstelle, die bei der Volksanwaltschaft angesiedelt ist, Meldung erstatten. Ich denke wir müssen das viel mehr ansprechen und auf Missstände aufmerksam machen. Wir müssen einschreiten und sagen: „Nein, nicht so.“
 

 
Der Hashtag unter dem die Kampagne läuft ist #aufaugenhöhe. Welches sind die Folgen dieser Gewalterfahrung für Betroffene?
 
Dieser Hashtag ist nach einem Brainstorming in der Arbeitsgruppe der Selbstvertreter:innen hervor gegangen. Es geht darum, dass gesagt wird: „Oftmals entscheiden Andere für uns und es gibt einen Machtmissbrauch von oben herab.“ Wenn Sie mich das also fragen, dann ist die Frage: Was macht Machtmissbrauch und Gewalt mit Mitmenschen generell? Da ist die gesamte Bandbreite, was Gewalt grundsätzlich bei Menschen auslöst. Es kann emotionales Unwohlsein auslösen, ein Gefühl der Minderwertigkeit und des Nicht-Akzeptiert-Werdens. Wir wissen von vielen Menschen mit Behinderung, dass sie sich auch zurückziehen. Angst, Panik und das Gefühl nicht dazuzugehören ist für die Betroffenen ganz, ganz schwierig.
Es kann aber auch Wut auslösen, wie auch den Antrieb etwas dagegen zu tun.
 
Das selbstständige Wohnen, damit zusammenhängend Arbeit von der man leben kann und das dritte ist das wichtige Thema der inkludierten Freizeitaktivität.
 
Die „ Hauptaufgabe des Monitoringausschusses ist es, die Umsetzung der UN-Konvention in Südtirol zu fördern und zu überwachen“. Bei welchen der 50 Punkte der Konvention - neben der Freiheit von Gewalt - gibt es noch Baustellen?
 
Es gibt keine klare Antwort, die richtige Antwort wäre wohl auf alle, aber das ist sicherlich unzufrieden-stellend. Wir haben gesehen, es sind jene Themen bei uns Jahresthemen, bei denen es darum geht, ein selbstständiges und inkludiertes Leben zu führen. Da nenne ich einige Punkte, zu denen wir eine Ist-Analyse mit klaren Forderungen gemacht haben: Das selbstständige Wohnen, damit zusammenhängend Arbeit von der man leben kann und das dritte ist das wichtige Thema der inkludierten Freizeitaktivität. Das letzte Jahresthema das wir hatten, war das der psychosozialen Unterstützung. Menschen mit Behinderung in Südtirol wünschen sich eben auch Unterstützung zu erhalten, wenn sie diese brauchen.