Società | Almwirtschaft

Im Dienst der Tiere

Im Juli 2022 war ich beim Schafhüten dabei.
Ein Erfahrungsbericht.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
Schafe Tschamin
Foto: Thomas B

Einleitung.

Viel wird von Nachhaltigkeit gesprochen, dabei beginnt es viel früher: Mit Wertschätzung. Für jenes Nutztier nämlich, das Nahrung, Kleidung und zuweilen Heilung liefert, kurzum: das Überleben sichert. Heute ist dieses Wissen mehr in den Hintergrund getreten; daran ändert auch der Marketingbegriff Tierwohl nur wenig. Die sommerlichen Wiesen am südöstlichen Rand des Schlern, die ohne gezielte Beweidung Erosion und Lawinen ausgesetzt sind, zählt seit jeher „jeder Hut voll Gras wie ein Kübel voll im Tal“. Diese Kulturlandschaft zu erhalten, ist die Aufgabe von Hirten. Darauf neugierig, durfte ich von Spezialisten für Forst- und Almwirtschaft, gestandenen Hirten und Tierärzten jenes Handwerk lernen, dass das Überleben von Klein- und Großvieh mit Weidemanagement und Herdenschutz sichern soll; letzteres durch Bedrohung von Großraubtieren wie Hybriden, Wölfen oder Bären. Viel Theorie also, das dringend der Praxis bedurfte: Die Berge als Arbeitsplatz anstatt als Freizeitabenteuer – dafür hat mich mein Arbeitgeber einen Monat freistellen lassen.

Die Alm und Richard, der Oberhirte.

Richards Schofhitt ist eine Jagdhütte knapp unterhalb des Schlernplateaus; die umgebenden steilen Hänge bilden einen Gegensatz zu den großzügigen Weiden der Seiser Alm und rundum des Schlernhauses. Beinahe verächtlich kehrt die Hütte dieser Welt ihre scharz-schimmeligen Bretter zu und ihre auch nicht ganz regendichte Vorderseite weist zum Rosengarten hin, dessen Massiv klotzig über den Tschamintal aufragt, als wisse der Berg selbst, wie imposant er ist. Schon einige Hirten haben sich hier versucht; mit mäßigen Erfolg: Ist der Anmarsch beschwerlich, die Versorgung schwierig, der Wasserstrahl am Trog eher dünn, der Kamin rauchig, die Lagermöglichkeiten von Lebensmitteln begrenzt, die mit dem Hubschrauber gebracht werden mussten.

Dennoch ist Richard das zweite Jahr da, für 100 Tage etwa. Er kennt diese Seite des Berges aus Kindheitstagen wie seine Hirtentasche. Er wuchs auf dem elterlichen Bauernhof auf, sein Großvater lehrte ihm ohne viel Nachfragen das Leben, später war er Pferdelehrer in Oklahoma, zeitweilen in Südafrika und im bayerischen Schwaben. Bully Herbig brachte er das Reiten bei und schaffte es dabei in den Abspann des Films „Der Schuh des Manitu“, bevor er nach einem Arbeitsunfall nach Tiers zurückkehrte. Ein echter Westmann also, so würde Karl May schreiben, und ich, das Greenhorn, sollte lernen, wie die Ewigen Weidegründe zu bewirtschaften sind.

Die Schafherde und seine Hütehunde.

Die für den Almsommer bestimmten 336 Schafe stammen von 29 Bauern und bestehen aus Jura-, Tiroler Stein-, Schnalser- und Vilnösser Brillenschafen, sowie Zwergelen, Dörpern, Schwarzaugen und Kugelschecken sowie diversen Kreuzungen. Von einer Herde wie bei einem wandernden Hirten kann also keine Rede sein; dennoch kamen am 30.4. alle zur Unterweide zusammen, wurden gezählt, bei etwa 75 Tieren die Klauen verschnitten und eine Woche später einem Klauenbad aus Zinkphosphat unterzogen, um den Krankheiten vorzubeugen, die bei zusammengepferchten Herden sich bisweilen auszubreiten suchen. Am 10. Juni zog Richard zur Schofhitt.

Dem ganzen Sau… Schafhaufen stehen zwei Kelpies, Bafy und Boo als Hütehunde zur Seite, letzterer mit seinen knapp 5 Monaten darf – mit aufgestellten Ohren und stets aufmerksam – mitgehen, um zu lernen. Anfassen oder gar spielen nicht erlaubt! Schade. Die beiden sind viel ruhiger als gewöhnliche Bordercollies und schalten sofort um, wenn es darauf ankommt. Richard schätzt seine klugen Helfer sehr und setzt sie nur dann ein, wenn er es für unbedingt notwendig erachtet, allein deswegen, um sie für die lange Saison zu schonen.

Aller Anfang ist: Schwer.

Gleichsam direkt aus dem Büro marschierte ich mit großem Rucksack und nagelneuen Schuhen in nachmittäglicher Julisonne die südseitig exponierte Bärenfalle hinauf, schlurfte am Schlernbach entlang um den letzten Anstieg zum Bretterzaun zu unternehmen, dem Start des Weidegebietes. An diesem Tag sind die Schafe bereits im Pferch; Richard hatte die 1200m mühsam umzäunt, da die Arbeiten am richtigen Zaun sich aus irgendwelchen Gründen verzögerten. Erster Gedanke ist: ‚So viele Schafe sind es nicht‘, ein Eindruck, der gründlich täuschen sollte.

Am nächsten Tag klingelt 5 Uhr der Wecker, und es folgt Richards täglich wiederholender Ablauf: Das Rauswälzen, Kaffee mit Milch und Zucker, Blick in den Pferch, Waschen und Rasieren, Essen für den Tag herrichten, Schafe rauslassen, die sofort losrennen – woanders könnte das noch bessere Futter sein. Jetzt sehe ich die Reihen unterhalb unserer Behausung entlangziehen und staune, wie viele es sind. Also nichts wie: Auf gehts!

Nur mühsam erschließt sich mir die neue Arbeit, bin nervös. „Das bringt nichts“, meint Richard, ohne sein Fernglas abzusetzen. Und doch will ich meine Augen überall haben: Die Absperrzäune zum Schlern hin müssen in Ordnung sein, gleich in der Früh überprüfen, sonst sind die Schafe weg. Und keines von den Fressmäulern oberhalb des eigenen Standortes: Steinschlaggefahr! Und immer beobachten: Wie verhalten sich die Grüppchen? Welche Görre zieht andere mit? Sind die Lamperlen auch bei der (richtigen) Mama? ––– Hoppla. Wo wollen die denn hin? „Ach die mogsch lassen, die kemmen wieder zurück. – Diese da“, meint Richard, „die haut immer wieder ab.“ Später taufen wir die Gehornte mit der Schelle „Unsere Freundin“, die uns einige extra Ausflüge bescheren wird, da sie stets woanders zu s(c)hoppen gehen pflegt.

Nach einem Gewitter liefert der Hüter keinen Strom mehr für den Behelfszaun. Die Gemeinde stellt ein Ersatzgerät, abholen müssen wir es selbst. Ich steige auf stillen Jägerpfaden hinab und hole das Gerät aus dem Stadl. Ich muss es auseinanderbauen, damit ich es transportieren kann. Am Abend stellen wir fest, das Strom in die Erde aber nicht auf den Zaun fließt. Rätseln. Wir drehen die Pole um und haben zumindest etwas Strom, damit einige unserer Damen und Herren nicht mehr unter dem Zaun durchschlüpfen. Immerhin!

„Seine Schafe muss man kennen!“

Nach drei Tagen sagt Richard abends zu mir: „Du bleibst heute da, ruhst Dich etwas aus.“ Er sieht mit seinem typischen Grinsen, wie ich mit mir selber beschäftigt, nicht bei der Sache bin. Also lasse ich ihn allein und starte zu einer vormittäglichen Runde weg von seiner Herde. Als ich Mittags zurückkehre, geht es besser. Langsam lerne ich, Teile seiner Schafe besser zu unterscheiden. Richard meint, die Tiere in einem Bereich länger zu halten, was mir gelingt, oder auch nicht. Zaghaft gilt hier nicht. „Du musst energischer handeln, sonst lachen die dich aus.“, meint Richard mit Seitenblick und jetzt muss ich grinsen: Lachende Schafe? Nicht mit mir! Beim nächsten Mal gehe ich den zu voreiligen Widern entgegen und siehe da: Die drehen um! Als beim nächsten Mal der Druck der Viecher doch zu groß wird, weiche ich ein wenig zurück und erreiche damit, das sie die Köpfe senken und fressen, zumindest eine Weile. Kleinere Steine wirken manchmal als Argumentationsverstärker.

Alltag?

Nach und nach erschließt sich mein Arbeitsplatz: Gemsen beim Grasen im Morgenlicht, der Tag, der sich minütlich ändern kann. Das Beobachten, das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein. Stets Neues, immer Bewegung: Am Himmel, das Gras, die Tiere und wir ebenso.

Die Unsitte, gleichzeitig Sachen erledigen zu wollen, lässt sich hier oben nicht umsetzten: Erst den Zaun verknüpfen, dann die Latten der Pforte, dann die Litzen, zum Schluss der Strom. Prüfen, kontrollieren. Gleich nach den Tieren sehen; Wasser. Salz. Die Hunde versorgen. Feuer machen, Essen herrichten; Waschen. Der Netz-Empfang erlaubt uns am Rest der Welt teilzuhaben. Die Probleme im Tal liegen nur auf der Lauer, hierher schaffen sie es nicht, höchstens als Theorie in unseren abendlichen Gesprächen.

Zu den Wochenenden wird die Hitt zeitweilen frequentiert. So nehmen auf der Bank ein paar Jäger und Einheimische Platz; auch eine Schwester und die Cousine von Richard lassen sich blicken. Kurt, unser Puschterer Hirtenkollege, will uns besuchen und verspätet sich ein wenig, so dass ich ihn abholen gehe. Es ist dunkel, als er bei uns ist – ich freue mich sehr über seinen Besuch. Er kennt das Alm-Leben, da braucht es kein vieles Reden. Für einen Tag sind wir zu dritt unterwegs, fast bin ich gewillt, diesen Moment festhalten zu wollen. Mit mehreren Leuten wären die Schafe leichter zu handhaben, Wartungs- und Ausbesserungsarbeiten am Pferch, Hütte und Zäunen durchführbar und ins Gänge ins Tal nicht mehr unmöglich.

Der Steinschlag in dieser Saison, der durch anhaltende Trockenheit sehr häufig ist, ist tückisch: Auf dem Gras hört man den Stein nicht, der sich gelöst hat. So stürzen manche Schafe ab, eines wird am Kopf getroffen und taumelt ohne Gegenwehr eine Rinne hinab, um weiter unten über Fels zu stürzen – wie gelähmt bin ich zum Zusehen verdammt. Richard steigt, nachdem die meisten Schafe im Pferch sind, hinunter, um es zu erlösen. Mit der Ohrmarke kommt er zurück.

Manch anderer würde sich diesen Weg nicht antun, aber ihm liegt es fern, es qualvoll verenden zu lassen, nur weil es bequemer ist. Sein Handeln sind nicht Worte oder Schönrederei vom Bürostuhl aus, von dem sich die Welt gern idealisieren lässt, sondern Tagwerk, das er höchstens mit seinem „Wos willsch tian?“ bemerkt, wenn ich ihn nach Antworten ansehe, aber sowieso alles gesagt ist.

Andere Tiere haben eine Art Augeninfektion, bei der sich ums Auge Eiter bildet, das sie fast erblinden lässt. Sie torkeln mühsam anderen hinterher um ihr Futter zu finden. Ihr Überleben hängt davon ab, nicht abzustürzen, wenn kein „Führer“ den Weg weist. Wir rätseln, ob es am Wind liegt, oder einer Fliege, deren Larven sich in den Augen festsetzen, begünstigt durch die Temperaturen. Einige erholen sich vollständig, andere stehen am Morgen nicht mehr auf, wenn das Gatter geöffnet wird. Doch wo Tod, da auch Leben: Einige Lämmer werden geboren und zweimal darf ich der Mutter vornweg sie in den Pferch tragen. Mein Glück ist, dass sie wissen worum es geht: sie lassen mich gewähren. Andere jüngere Charaktere schaffen es, den vermeintlichen Feind vom Berg zu stoßen… nur weil man selbst unvorsichtig ist.

Hirtentum als Ideal?

Nach mehr als 20 Tagen verlasse ich Richard und seine Jagdhütte, gehe zurück ins Tal, vielleicht als ein etwas anderer Mensch, aber um Erfahrungen reicher, die bereits viele vor mir gemacht haben; so alt ist dieser Beruf, älter als jede menschliche Hochkultur von denen alle – vielleicht bis auf die chinesische – wieder von der Erde verschwunden sind; der Beruf ist es nicht. Doch werden wir in unsere Zeit geboren, die menschengemachten Idealen unterliegt: Jene Probleme, die die Gemeinschaft stets beschäftigen, werden schnell wieder vergessen, da sie nur vermeintlich wichtig sind – dabei werden sie in anderen Gewändern nur wiederholt und gegenseitig überdeckt. Außerdem hat das Streben nach Bequemlichkeit einen Nachteil: Die Abhängigkeit an jene, die über das Fortschreiten und dessen Preis bestimmen. Dem gegenüber steht das entbehrungsreiche Leben des Hirten, das zeitlos, uns am nächsten kommt: Naturgesetze bleiben und Erfahrungen daraus werden weitergegeben: Ein Lernen zum Leben.