Politica | Europa

Regierungskrisen mit Dominoeffekt

Innerhalb von 3 Tagen fielen in Europa 3 Regierungen. Wie entwickelt sich der politische Machtkampf jenseits von Rom? Ein Blick nach Estland und den Niederlanden.

Domino-Effekt
Foto: (c) pixabay

Zuerst Rom, dann Tallinn und schließlich Amsterdam: Während ganz Italien kopfschüttelnd mit ansieht, wie sein politisches Machtzentrum zerbröselt, werden in zwei weiteren EU-Staaten die politischen Karten neu gemischt. Am selben Tag, an dem Matteo Renzi seine zwei Ministerinnen zurücknahm, verließ der estnische Premierminister Jüri Ratas seinen Posten. Zwei Tage später, am 15. Januar 2021, trat die niederländische Regierung zurück. Was ist los mit unseren europäischen Freunden? Und wie entwickelt sich dort die „politische Krise“?

 

Estland: Vom Pakt mit dem Teufel zur weiblichen Doppelspitze

 

Das Polit-Drama mit unerwarteter Wendung begann vor zwei Jahren, im sonst ruhig-gesinnten baltischen Land. Damals, im März 2019, gewinnt die wirtschaftsliberale Reformpartei die estnische Parlamentswahl mit 29 Prozent der Stimmen. Parteichefin Kaja Kallas macht sich bereit, zur ersten weiblichen Premierministerin Estlands in die Regierung einzuziehen, doch ihr Vorgänger Jüri Ratas von der gemäßigt linken Zentrumspartei – und potentieller Koalitionspartner – macht der 43-jährigen Juristin einen Strich durch die Rechnung: Heimtückisch verbündet sich der Vorsitzende der zweitstärksten Partei mit zwei Parteien aus dem gegensätzlichen politischen Spektrum, darunter die konservative Volkspartei Estlands (EKRE), berüchtigt für ihren rechtspopulistisch-nationalistischen Führungsstil à la AFD und Lega.

So bleibt der 43-jährige Politiker Ratas Regierungschef, Kallas mit ihrer Reformpartei wird an die Seitenlinie gedrängt und geht in Opposition.

 

Doch Ratas’ Deal entpuppt sich bald als Pakt mit dem Teufel: Immer wieder durchrütteln politische Fehltritte des Koalitionspartners EKRE das Regierungsbündnis. So etwa die Aussage des Gründers und langjährigen Chefs Mart Helme, er sei gegenüber Homosexuellen „wirklich unfreundlich“ gestimmt und sie sollten nach Schweden gehen. Ein weiterer Skandal: Die Regierung will rund 200.000 Euro an einen neu gegründeten Verein von Abtreibungsgegnern zahlen.

Vor wenigen Wochen schlägt die Empörung der estnischen Bevölkerung ihre höchste Welle, und es kommt zum erneuten Paukenschlag im estnischen Polit-Drama: Ratas’ Partei wird Korruption bei der Vergabe eines staatlichen Darlehens für ein Immobilienprojekt vorgeworfen; der Premier verkündet daraufhin seinen Rücktritt.

So kommt die Siegerin der Parlamentswahl von 2019, Kaja Kallas, doch noch zum Zug. Nicht einmal zwei Wochen nach dem Aus der Regierung Ratas steht bereits die neue Kallas-Regierung und mit ihr ein bewusst gewähltes gender-balanced Kabinett, ausgeglichen auch zwischen älteren, erfahrenen und jungen, frischen politischen Mandatstragenden, sowie zwischen den politischen Kräften Reformpartei und Zentrumspartei. Seitdem wird Estland – gemeinsam mit der Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid – als eines der wenigen Länder von einer weiblichen Doppelspitze geführt.

 

 

Von einer Regierungskrise wie in Italien kann man somit, angesichts der volksdemokratisch legitimen Wendung und raschen Neubesetzung der Regierung, nicht wirklich sprechen.

Es hallen in der estnischen Presselandschaft dennoch kritische Stimmen nach, die sich wundern, dass die Reformpartei ausgerechnet mit der vom Korruptionsskandal gezeichneten Zentrumspartei eine Koalition eingeht. Es wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen, ob Ex-Premier Ratas der neuen Regierungschefin selbst als Koalitionspartner zum Verhängnis wird, oder ob die liberale Reformpartei sich als Stabilitätsgarant für das 1,3 Millionen-Einwohner-Land im europäischen Norden bewährt.

 

Niederlande: Regierungssturz kurz vor Parlamentswahl

 

Spekulationen über einen möglichen Rücktritt des Kabinetts von Premier Mark Rutte geisterten schon seit Tagen durch die niederländische Presse. Der Grund: die sogenannte „Beihilf-Affäre“.

Eine Untersuchungskommission stellte im Dezember fest, dass zwischen 2013 und 2019 mehr als 20.000 Familien um ihre staatlichen Kinderbeihilfen gebracht wurden. Die Steuerbehörden hatten ihnen fälschlicherweise Schummeleien bei den Anträgen auf das Kindergeld vorgeworfen, woraufhin die finanzielle Unterstützung nicht nur eingestellt wurde, sondern etliche Familien hohe Summen an das Finanzamt zurückzahlen mussten.

Am 15. Januar war es soweit: Premier Rutte übernahm die Verantwortung für die Fehler des Finanzamtes und kündigte seinen Rücktritt an. Als Entschädigung an die betroffenen Eltern stellte das Land 500 Millionen Euro bereit, jede Familie soll 30.000 Euro erhalten.

Somit ist die Koalition aus Ruttes rechtsliberalen Partei VVD, zwei christlichen Parteien und den linksliberalen D66 gefallen. Zumindest formal. Denn bis zur Bildung einer neuen Regierung bleibt die jetzige Koalition geschäftsführend im Amt.

 

 

Anders als in Rom, wo Neuwahlen inmitten einer Pandemie als die zeitlich ungünstigste Alternative gelten, spielte sich die niederländische Regierungskrise zu einem für Amsterdam geeigneteren Zeitraum ab: kurz vor den anstehenden Parlamentswahlen am 17. März.

Regierungschef Rutte, der seit 10 Jahren das Land führt, will auch bei der nächsten Parlamentswahl als Spitzenkandidat ins Rennen gehen. Damit würde er zum vierten Mal eine Koalitionsregierung leiten. Wie stark die „Beihilf-Affäre“ den Spitzenkandidaten ausbremsen wird, bleibt abzuwarten.

 

Verbindet man die Puzzleteilchen, ergibt sich ein merkwürdiges Bild, das sich durch alle drei Länder zieht: Egal, wie sehr eine politische Kraft es sich bei den eigenen Leuten vertut – ob sie korrupte Deals abschließt, Familien unrechtmäßig das Kindergeld entzieht, oder aus egoistischem Entsinnen heraus die politische Stabilität eines Landes mitten im wirtschaftlichen Sturzflug platzen lässt – am Ende ist das noch kein Garant dafür, dass diese Kraft von der politischen Bühne verschwindet. Die Krallen scheinen oft tiefer im Sessel zu stecken als gedacht.