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Der LitBlog stellt vor: Maria C. Hilber

Maria C. Hilber wuchs in Terenten auf, schreibt Theaterstücke für den Anreiterkeller Brixen und das Schauspielhaus Wien und tritt seit 2007 in Lesungen auf.

 

Auszug aus der Serie “Hyperlink-Essays”, 4/7

 

Das Kiemennest

am Axolotl flattert

ohne Jod. Alles Chemie.

Den Salamander in der Brust.

 

Man saß im Wartezimmer. Allergiezentrum. Man kennt nur das eine am äußeren Stadtzentrum Wiens. Im Erdgeschoss wohnt ein Bäcker, der sich “der Mann” nennt. Er wohnt da nicht wirklich. Besetzt aber auch das Sockelgeschoss.

Im Zentrum sitze ich im Wartezimmer. Es ist kein Zimmer mit abgeschlossener Tür, vielmehr ein Durchzugsort, an dem die meisten von uns mit geblähten Bäuchen oder bald juckenden Markierungen sitzen. Das Telefon scheppert fast immer und dermaßen heftig, dass ich mich wundern muss, weshalb es nicht vom Kästchen fällt. Die Dame am Telefon, immer gleich freundlich. Sie müssen den Termin verschieben? Tut mir leid, diese Woche habe ich leider nichts mehr frei. Ich kann Ihnen den 18. anbieten. Ja? Gleich um halb acht? Ihre Hand verlangsamt sich, während sie den Hörer wieder auf seinen Ursprungskörper legt. Sie scheint eine sanfte Beziehung zum Telefon zu haben. Oder sie hasst es. Falls das der Fall ist, wird ihre Selbstkontrolle von mir bewundert. Gleichzeitig: I wonder if she could get wild. Ich sehe sie vor mir, wie sie in Zeitlupe das Telefon mit beiden Händen und gut manikürten Händen am Sockel umfasst, zärtlich den Kabel herauslöst und, es vorher noch kurz küssend, an die Wand schmettert. Die Plastikhülle wird zerspringen und auf eine, ihr selbst unbekannte Weise erschüttert aufscheppern. Ein Plastikfingernagel wird an der zarten Wurfhand eingerissen sein. Frau Freundlich wird eine Schere nehmen und ihn abschneiden. Dann wird sie ihren Mantel holen, das Brustbein etwas nach vorne schieben, damit sich die zuvorkommenden Schultern aufrichten und mit einem großen Satz das Zerschepperte überspringen, nein, überschreiten. Sie wird jede einzelne Stufe im allergenen Stiegenhaus nehmen, am Bäcker Mann vorbeigehen und sich kein einziges Mal umdrehen. Ihre kleinen Absätze klappern dabei sehr regelmäßig.

Das Telefon insistiert wieder und man wird von rechts oben aufgerufen. Die weißliche Lösung wird einem im Plastikbecher angetragen. Man wird beobachtet während man trinkt. Man gibt diverse Informationen von sich preis sowie Beschreibung und Häufigkeit der Beschwerden. Die Zeitfrage wird gestellt. Schon immer möchte man antworten. Seit zwei Jahren antwortet man. Man ekelt sich etwas, weil die Flüssigkeit lauwarm ist und wird dann zurückgeschickt. Man setzt sich in den Durchzugsort, man versucht die Aufmerksamkeit weder auf den geringen Abstand der Sitzgelegenheiten zueinander, noch auf die Gesichter der Mitwartenden zu schicken, sondern sich vollkommen dem Mageninhalt zuzuwenden. Jedes Glucksen wird bemerkt, man wundert sich wieder mal über die beeindruckende Hebung und Senkung des Brustkorbes, der wohl der eigene zu sein scheint und hochkonzentriert dem Magen übergeordnet ist. Man wartet auf das Unwohlsein, fast ungeduldig, denn sicher wird die Milchige nicht vertragen. Das weiß man auch ohne Test.

Doch man erwartet sich nicht, was nach 15 Minuten passiert. Ein sanfte Wärme breitet sich von der Körpermitte ausgehend aus, eventuell könnte der Nabel als Zentrum ins Spiel gebracht werden. Wellenartig, süßlich und unter den Schulterblättern entlang kriechend. Die Augenlider schließen sich von selbst, angelockt von einer gnadenlosen Entspannung, man lässt sich in die imaginären Arme fallen, die einen umfassen, man fühlt sich hinausgezogen, hinein in den Winterabend, man badet in heißer Milch mit Honig, sogar in einer Höhle befindet man sich, leise blökend an Mutters Brust. Der Atem seufzt leise auf und zieht sich dann in flachere Ebenen zurück. Man sinkt tiefer in die Geborgenheit, es gibt keinen Zugluft mehr, keinen allergenen Brunnen, keine getesteten Gesichter. In Watte gepackt wird man in das eigenen Zentrum geworfen, hinein in allumfließende Sicherheit. Alles bebt.

Wieder von rechts oben aufgerufen, fast irritiert steht man auf, links mit gellendem Telefon, frontal gequälte Gesichter. Ein kurzer Kontrollblick zeigt, dass sich alle anderen noch an ihrem Platz befinden und anscheinend nichts bemerkt haben. Man darf in ein Röhrchen blasen, die Wasserstoffmoleküle gluckern auf. Zurückgehen. Bedauerlicherweise bedeutet die Rückkehr zum Sitzplatz nicht Rückkehr in die weiße Geborgenheit. Viel mehr nun unruhiger Mittelkörper. Dünner Atemfluss, leichte Geneigtheit nach vorne, Gärung. Irritation ob der verloren gegangenen Welt. Weitere Irritation aufgrund des erkannten Zusammenhangs zwischen der Milchigen und dem zerronnenen Zustand. Geborgtes Wohlbefinden. Dennoch anhaltende Befriedigung und Entspannung auf tieferer Ebene. Lust auf viel mehr. Lust auf Winter von früher. Stattdessen stetig ansteigendes Glucksen im Bauch. 

Man verlässt das Zentrum Stunden später. Kurz flammt eine kleines Lichtlein auf und folgt einem belohnend. Aufgenommen in den Clan der Intoleranzen. Wie wir stolz uns die Brosche anstecken, leise aufstöhnen, seufzend erklären, was wir denn alles nicht essen dürfen.

Ich bin nun offiziell in eine Gemeinschaft aufgenommen, der ich vorher nicht angehört habe. Es nützt nichts, dass ich mit Kühen aufgewachsen bin. Die Kuhmilch praktisch mit der Muttermilch vermischt in mich eingeflossen ist. Nein, der Körper weigert sich das gutzuheißen. Er mag die Unpasteurisierte nicht. Auch die Geborgenheitsmilch hat sich inzwischen mit Wehmutsmilch vermischt. Es scheint keine Winterabende gegeben zu haben, sondern chemische Reaktionen. Mir ist kalt.

Manche behaupten, dass die Milch von Kühen, ja für große Säugetiere sei. Der Mensch aber eher ein mittleres Säugetier wäre. Also ist die große Milch viel zu groß für ihn. Ich denke an den Wal, der ja noch viel größer ist und wahrscheinlich die Statistik nach oben treiben würde. Ich denke an die Katzen, die ja noch viel kleiner sind als die Menschen. Man sollte alle Bilder von milchschleckenden Katzen aus allen Büchern der Welt löschen.

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http://de.wikipedia.org/wiki/Neotenie

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man fragt sich, ob man das frau verwenden soll, um ein Zeichen zu setzen. man entscheidet sich für das nicht definierte man. man erkennt die Angst vor dem Ich. denn ein Ich ist viel weniger als man zu glauben meint. das schreibende Ich besteht aus so vielen mans, wie es die Aufmerksamkeit gestattet.   

man konsultiert den kollektiven Konsens. man hat 5 Euro an wikipedia gespendet. 

[1] die Leute (im Sinne von: die Öffentlichkeit)

[2] gedachte Person, die nach eigenem Ermessen richtig handelt (meist bezogen auf gesellschaftliche Umgangsformen)

[3] irgendjemandirgendetwas (im Sinne einer bestimmten Person, zum Beispiel des Sprechers selbst, eines Unbekannten oder einer Personengruppe)

[4] jemandeiner/eine (im Sinne von jemandem, der auch für eine beliebige Person stehen kann)

[5] oft ironisch: statt eines Personalpronomens der zweiten oder dritten Person (du, Sie, er/sie, ihr, sie), um ein Distanzverhältnis in der Gesprächssituation anzudeuten

[6] ichwir (die eigene Aussage oder Handlung auf die Allgemeinheit übertragend)

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Doch sobald das man abgezogen wird, brodelt am eigenen Herd eine imaginierte heiße Milch. Die Weiße fließt langsam, betont langsam in die Tasse, wird fast dickflüssig in ihrer Betonung und verschmilzt mit der gelben Honigmasse zu Gold, während sie sich mit kleinen Luftperlen auflöst, kleine Fettaugen an die Oberfläche schickt und sich dem Mund entgegen sehnt. Sehnsucht gehört dem Bauch.