Cronaca | Second Hand

Schatten über London

Die Süddeutsche Zeitung zeichnet in einem großen Artikel den Dopingfall Alex Schwazer nach. Es ist die Chronik eines Sport-Skandals, der noch größere Kreise ziehen könnte
schwazer
Foto: süddeutsche zeitung
Am Freitag beginnt die Leichathletik-WM in London.
Einen Tag zuvor kann man in einer der größten deutschen Tageszeitungen Sätze lesen, die aufhorchen lassen:
 

Eine winzige Menge Flüssigkeit soll bald von Köln nach Parma reisen: zehn Milliliter Urin, ein halbes Schnapsglas. Diese zehn Milliliter bergen Sprengstoff für die Sportwelt. Sie sind der Schlüssel zum mysteriösesten Dopingfall der jüngeren Zeit - der Positivbefund des zum zweiten Mal gesperrten italienischen Weltklasse-Gehers Alex Schwazer. Es ist ein Fall, in dem italienische Richter den deutschen Kollegen vorwerfen, ihre Arbeit zu behindern - und ein Fall, in dem der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) und die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) kaum Interesse an Aufklärung zeigen. Deshalb wirft er seine Schatten auch auf die Leichtathletik-WM, die am Freitag in London beginnt.

 

Der Artikel

 
Die beiden Journalisten Johannes Aumüller und Thomas Kistner zeichnen in der Süddeutschen Zeitung (SZ) den Fall Alex Schwazer nach. Auf einer dreiviertel Seite haben die Autoren unter dem Titel "Sprengstoff aus Südtirol" die Langzeitgeschichte um den Südtiroler Geher detailliert nachrecherchiert.
Das Duo Aumüller/Kistner schreibt:
 
„So erzählt die Causa Schwazer am Ende eine Schmutzgeschichte, so oder so: Entweder handelt sie vom infamsten Betrug, den ein Athlet seit Dekaden angezettelt hat - weil Schwazer nach seinem ersten Sündenfall 2012 mit Spitzen der Anti-Doping-Bewegung arbeitete, und als Kronzeuge der Justiz. Oder sie ist eine Intrige des organisierten Sports: Weil dann einem Athleten, der die Integrität der Leichtathletik und ihrer Sachwalter bedroht, ein Dopingbefund untergeschoben wurde“.
 
In ihrem Artikel positionieren sich die beiden SZ-Journalisten deutlich. Sie schreiben:
 
Am 16. Dezember 2015 sagt Schwazer in Bozen gegen betrugsverdächtige Figuren in der IAAF aus. Insbesondere gegen den italienischen Arzt Giuseppe Fischetto, der nach Dokumenten, die der SZ vorliegen, jahrelang Bindeglied war zwischen dem früheren IAAF-Anti-Doping-Chef Gabriel Dollé und Russlands Anti-Doping-Funktionären. Just in den Jahren, als die Russen systematisch dopten, weshalb die IAAF sie von den Rio-Spielen aussperrte. Gegen Dollé ermittelt Frankreichs Justiz, er hatte dem Sohn des Weltverbandsbosses Lamine Diack Zugang zur Doping-Datenbank gewährt. Daten, die auch IAAF-Dopingexperte Fischetto verwaltete, darunter die der Russen. Damals presste Diack junior mit dem Wissen aus der Datenbank Betroffenen Schutzgeld ab; allein 1,5 Millionen Euro sollen aus Russland geflossen sein. Heute jagt ihn Interpol, sein Vater ist in Paris unter Hausarrest. Als Dollé im Herbst 2015 verhaftet wird, findet die Polizei 87 000 Euro Schmiergeld bei ihm.
In dieses Wespennest sticht Schwazer bei seiner Aussage vor Gericht im Dezember 2015. Er belastet den IAAF-Anti-Doping-Delegierten Fischetto schwer, der wegen "Beihilfe zum Sportbetrug durch Mitwissen" angeklagt ist und alle Vorwürfe bestreitet. Nur ein, zwei Stunden nach Schwazers Aussage weist die IAAF eine Dopingkontrolle bei ihm an. Aber nicht in Kürze, sondern erst in mehr als zwei Wochen: Am 1. Januar 2016. Eine ungewöhnlich lange Vorlaufzeit. Und warum gerade am Neujahrstag? Die ganze Branche weiß, dass das Kölner Labor dann geschlossen ist und der Urin zwischengelagert werden muss.
Bevor Schwazer erneut positiv getestet wird, erhält sein Trainer mysteriöse Anrufe
 
Schwazer wird am Morgen des 1. Januar kontrolliert. Der Labortest Anfang Januar in Köln zeigt keine Auffälligkeit. Doch kurz vor Ende der Aufbewahrungsfrist erhält das Kölner Labor den Auftrag, die negative Probe erneut zu untersuchen. Die IAAF legt Steroid-Profile ihrer Athleten an, um die Entwicklung individueller Werte zu prüfen; bei Schwazer soll ein Verdacht vorliegen; fünf Proben sollen genauer untersucht werden. Auch die vom 1. Januar.
Parallel geschieht Mysteriöses: Donati wird - jeweils vor den Rio-Qualifikationen über 50 bzw. 20 Kilometer Gehen im Mai - von einem Rennrichter angerufen: Er soll seinen Schützling zurückhalten. Donati schneidet diese Gespräche mit und übergibt sie den Behörden. Darin legt der Anrufer (der dafür später 18 Monate gesperrt wird) dar, andere Athleten seien als Sieger auserwählt. Beim ersten Mal will Donati das ignoriert haben; Schwazer siegt locker. Beim zweiten Mal rät er Schwazer zur Vorsicht, Rang zwei, den er später schafft, reiche ja auch zur Qualifikation für Rio.
Erst jetzt, Schwazers Favoritenrolle für die Spiele steht fest, eröffnet die IAAF dem Athleten am 21. Juni: Ein Nachtest im Mai habe Testosteron aufgezeigt.
 

Kampf um Urin

 
Im Artikel wird auch der Kampf des Bozner Landesgerichtes um die Herausgabe der Schwazer-Proben beschrieben. Die schreiben vom "bizarrer Kampf um Schwazers Urin". Den Autoren liegen dabei auch die Emails der russischen Hackertruppe Fancy Bear vor. Sie schreiben dazu:
 
„Zwischen Wada, IAAF und Labor glühen die Drähte, per Mail, per Telefon. Der IAAF liegt sehr daran, dass auch das Labor widerspricht. Sie übt, nach Unterlagen, die der SZ vorliegen, Druck aus. Sieben Tage nach der IAAF legt das Labor Widerspruch ein. Im Kern argumentiert der Weltverband so: Die Probe gehört ihm, er hat sie abgenommen. Für etwaige Nachanalysen sei es wichtig, dass sie in einem Wada-akkreditierten Labor verbleibt - alles andere würde die Doping-Beweiskette unterbrechen. Aber die ist seit Beginn löchrig. Der Urin lagerte eine Nacht in einem Stuttgarter Büro, ehe er in Köln ankam. Sogar der Herkunftsort Racines stand auf der Sendung, obwohl im Labor strikte Anonymität gilt - das Alpendörfchen Racines hat nur einen Top-Athleten. Die zuständige Kontrollfirma äußerte sich ob der Einwände nicht.“
So wird, was diese  Leichtathletik-WM  in London wirklich wert ist, am Ende auch in Bozen geklärt.“
Und weiter:
 
„Das Sportsystem aber wendet immer größere Energie auf, um das Verfahren zu blockieren. IAAF und Wada arbeiten Hand in Hand, obwohl Letztere zu strikter Neutralität verpflichtet wäre. Erwogen wurde anfangs gar, ob sich die forensische Analyse in Italien ganz unterbinden ließe. Davon rieten die Anwälte ab; beim Gericht könnte der Eindruck entstehen, die IAAF habe etwas zu verbergen. Eine SZ-Anfrage, wie sie zu dem Fall und dem Verschwörungsverdacht steht, und warum sie die B-Probe nicht für eine forensische Analyse herausgeben wollte, reicht die IAAF gar an ihre erst im April geschaffene, sogenannte unabhängige Integritätseinheit AIU weiter. Eine Antwort gibt es von keiner Stelle.“
 
Die zentrale Frage dabei: Steckt Schwazers DNA in der Urinprobe? Oder wurde sie nachträglich manipuliert?
 
Die SZ:
 
„Zudem geht es auch um die Originalbehälter, auch die hat Bozen angefordert. Denn wie Probenflaschen nachträglich geöffnet und wieder versiegelt werden können, haben forensische Experimente schon bewiesen; ebenfalls im Zuge der Dopingermittlungen zur Russland-Affäre. Unter dem Mikroskop muss nach Kratzspuren gesucht werden.“
 

Der Hintergrund

 
Für die deutschen Sportjournalisten hat der Fall Schwazer einen eindeutigen Hintergrund:
 
Vielleicht beginnt das Problem also gar nicht am Neujahrstag 2016. Vielleicht beginnt der Fall Schwazer im Sommer 2013. Damals machten italienische Dopingfahnder bei Fischetto eine Razzia. Wenig später wurden Telefonmitschnitte publik. Der IAAF-Delegierte klagte darin einem Vertrauten, bei ihm sei Datenmaterial beschlagnahmt worden, von dem er hoffe, es werde nie publik - es könne einen "internationalen Skandal" auslösen: "Stell dir vor, die Daten der Russen gingen raus, oder die der Türken, oder andere!"
Den Skandal gab es bald darauf. Aber Fischetto, der damalige Prophet, blieb dem Sport bis heute erhalten. Eine Entscheidung der Justiz wird im Herbst erwartet. So wird, was diese  Leichtathletik-WM  in London wirklich wert ist, am Ende auch in Bozen geklärt.“