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Nonturismo

Reiseführer mit Geheimtipps von und für Einheimische und Reisende. Ein Gastbeitrag aus der Zeitschrift "Kulturelemente" (#161).
Nonturismo
Foto: Ediciclo editore

Nonturismo – deviazioni inedite raccontate dagli abitanti. Sinngemäß etwa: Nichttourismus – Einheimische verraten unausgetretene Pfade, Abzweigungen und Umwege. Nonturismo ist eine von Ediciclo herausgegebene und von Sineglossa und Riverrun zusammengestellte Reihe von Reiseführern, die zwei Ziele verfolgt. Einerseits ist es eine Antwort auf die Notwendigkeit kleiner Ortschaften, sich wiederzufinden, sich neu zu entdecken: Es ist eine einmalige Gelegenheit für die Einheimischen, sich selbst die Geschichte ihrer eigenen Region zu erzählen, ohne Postkartenglanz, ohne Absicht, Besucher anzulocken. Es geht einzig und allein um ihre eigene Identität; um ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sorgfältig wählen sie dabei Geschichten aus, die charakteristisch für ihre Region, für ihre Stadt sind. Was dabei herauskommt, entspricht aber auch dem Bedürfnis der heutigen Touristen, die ihre Reisen eben nicht als Touristen, sondern als moderne Flaneure, als Bürger auf Zeit erleben wollen. Sie möchten sich der Gegend, die sie erkunden, zugehörig zu fühlen, und sei es auch nur für eine kurze Zeit. Der nicht-touristische Reiseführer ist somit ein Instrument, das es ihnen ermöglicht, Menschen und ihre Orte mit einem ganz anderen Blick zu erleben.

Nonturismo erzählt sowohl aus der Perspektive der Einwohner*innen, die bleiben wollen, als auch aus der Perspektive von Rückkehrer*innen. Es geht um Visionen, die potentiell bereits vorhanden sind, aber ausgesprochen und erörtert werden müssen, um in die Praxis umgesetzt zu werden. Der Reiseführer entsteht unter der Leitung eines lokalen Trägervereins mit starker Bindung an die Region; mit dem Ziel, dass die Einwohner*innen gemeinsam mit Künstler*innen und Expert*innen an diesem Projekt teilhaben. So wird daraus eine lokale Redaktion bzw. gemeinschaftliche Erzählung, die das Format eines Reiseführers annimmt, der von den Beteiligten als intuitive, emotionale Erzählung wahrgenommen wird. Im Zuge des Nonturismo Projektes entdecken die Einwohner den genius loci wieder und erkennen die Vielseitigkeit und Dynamik ihres Ortes als Schnittpunkt und Kreuzung verschiedenster sozialer Beziehungen auf vielen Ebenen. Die Teilnehmer erkennen, dass die emotionale Bindung an das eigene Umfeld ein Prozess ist, der Zeit und Aufmerksamkeit erfordert und nicht als gegeben genommen werden kann. Anders gesagt, dass ein Mensch sein Dorf, sein Umfeld, seine Region liebt, ist nicht bloß der Tatsache geschuldet, dass er dort lebt.

Die nicht-touristisch Reisenden wiederum lernen durch die im Buch versammelten Erzählungen von Einheimischen deren Orte ganz anders kennen und ziehen daraus im besten Fall einen großen Mehrwert. Sie erleben die Zeit, die sie dort verbringen, mit einem anderen Wissen und werden sich der Orte dadurch bewusst. Auf diese Weise wird auch das Risiko minimiert, dass die typisch urbane Konsumdynamik der permanenten Verfügbarkeit in ländliche Gebiete oder Bergregionen getragen wird. Die Orte sind nun nicht mehr Häkchen auf der Landkarte der Orte, die man gesehen haben muss. Es geht auch nicht mehr darum, die Anzahl der Ankünfte und Übernachtungen zu messen. Diese Orte sind lebenswerte Orte mit einem nachhaltigen Zugang gegenüber dem gesamten Ökosystem.

Der Nichttourismus kann im Wesentlichen als ein praktisches, politisches und künstlerisches Mittel zur Mobilisierung von Gemeinschaftsbildungsprozessen angesehen werden; als Instrument der Teilhabe, der die gemeinsame Anstrengung von Einwohnern und Außenstehenden zugrunde liegt. Durch die Beteiligung von Expert*innen aus Soziologie, Botanik, Anthropologie, Geschichte sowie Kunst und Literatur kann der authentische Geist eines Gebietes, eines Ortes, einer Region immer wieder neu entdeckt werden. Die Einwohner*innen erforschen die Gegenwart, definieren Probleme und schaffen neue Bilder. Damit gewinnt die lokale Gemeinschaft ihr Erbe der gemeinsamen Erinnerung, ihr kollektives Gedächtnis, zurück.

 

 

Ein Beispiel dafür ist die Nonturismo-Edition zum Dorf Ussita, die mit dem Premio ITAS als bester Bergführer 2020 ausgezeichnet wurde. Das 383-Seelen-Dorf liegt in den Sibillinischen Bergen in den Marken. 2017 wurde es von einem Erdbeben heimgesucht und verwüstet. Als Gemeinde in einem stark erdbebengefährdeten Gebiet ist Ussita Teil der „nationalen Strategie für das Landesinnere“. Erklärtes Ziel dieser Strategie ist es, entlegene Gebiete in den Alpen und im Apennin wiederaufzuwerten, die durch schlechten Zugang zu Dienstleistungen, geografische und berufliche Marginalisierung, Überalterung der Bevölkerung und fortschreitende Vernachlässigung gekennzeichnet sind.

Die Arbeit mit den „Redakteuren“ der Gemeinde, die etwa ein Jahr lang dauerte, führte zu einem Reiseführer, der sich nicht scheut, auch die heikelsten Aspekte eines Ortes im Wiederaufbau zu zeigen, einschließlich des unfreiwilligen Zusammenlebens in den Notunterkünften (SAE), in denen die meisten Bewohner bis heute untergebracht sind. Es sind aber auch Chimären entstanden, wie das Wolfsschaf, das es sogar auf das Titelblatt des Reiseführers schaffte. Der Wolf und das Schaf kehrten in den kollektiven Erzählungen immer wieder, und die Entscheidung, sie in einem imaginären Tier zu vereinen, verkörpert somit den Gemeinschaftsgeist: eine Kombination aus Stärke und Sanftheit, Zähigkeit und Zärtlichkeit.

Der prozesshafte Charakter des Projektes und der intensive Meinungsaustausch kam noch deutlicher zum Ausdruck in dem Versuch, das goldene Zeitalter von Ussita zu definieren. Dieses Thema lag der Gemeinschaft sehr am Herzen, denn es ist der Versuch zu verstehen, wohin es gehen soll und wie man neu anfangen kann. Mit Hilfe eines Wirtschaftshistorikers stellte sich heraus, dass Ussita zwei goldene Zeiten erlebt hat: die 1950er Jahre, die mit der Forst- und Landwirtwirtschaft verbunden waren, und der Wirtschaftsboom der 1980er Jahre, der mit der Errichtung der Skipisten zusammenhing. Die Schilderung dieser beiden Vergangenheiten führte zu heftigen ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern über mögliche Zukunftsszenarien. Die Rolle der Gemeinschaftsredaktion bestand darin, einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Erwartungen an ein und dasselbe Gebiet anzustreben, so dass verschiedene wirtschaftliche Dimensionen nebeneinander bestehen können.

Nonturismo ist gekennzeichnet von einem tiefen Verständnis der eigenen Umwelt als durchlässiges Ökosystem. Es ist das praktische Ergebnis des Lebens und Handelns der Einzelnen vor Ort. Dieses Umdenken gibt den lokalen Gemeinschaften die Macht der Handlungsfähigkeit zurück – durch einen Dialog und Prozess der Ko-Konstruktion und Ko-Evolution, der auch Nicht-Touristen für die Dauer ihrer Reise miteinbezieht.

 

salto.bz in Zusammenarbeit mit Kulturelemente.