Politica | Italien

Steuersenkung für alle und jeden 

Die Parteien übertreffen sich im Wahlkampf mit kühnen Versprechungen.
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Foto: Danila S. Santagata
Es handelt es sich um ein indirekt proportionales Verhältnis: je lauter das Wahlkampfgetöse anschwillt, desto stärker wächst die Distanz der Bürger. Viele Wähler reagieren irritiert oder angewidert auf das politische Karussell, das von früh bis spät über die Fernsehkanäle der Nation flimmert.
Der Alltag der Italiener und das Gedöns der Parteien spielen sich auf Ebenen ab, die sich nicht begegnen. Das kann kaum verwundern angesichts der Auferstehung Silvio Berlusconis und seiner Vasallen. Unter permanentem Gerangel wurden in den letzten Tagen Kandidaten von einem Wahlkreis in den anderen verschoben oder nach wütenden Protesten wieder auf vordere Listenplätze gehievt.
Melodramatische Momente durften da nicht fehlen, etwa wenn die mit Berlusconi  verbündete Faschistin Giorgia Meloni vor der Kamera Krokodilstränen vergiesst beim Gedanken, wieviel Zeit sie ihrer kleinen Tochter mit diesem Wahlkampf entzieht. Vittorio Sgarbi übt sich in den gewohnt hysterischen TV-Schreiduellen. "Non vogliamo riciclati" wettert dagegen Lega-Chef Matteo Salvini und setzt tags darauf den 76-jährigen Parteigründer Umberto Bossi auf die Liste, der acht Legislaturen im Parlament hinter sich hat und letzthin wegen Missbrauchs öffentlicher Gelder zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Bossi wird sich im Kreis der Vorbestraften nicht einsam fühlen.
 
Auch sein christdemokratischer Freund Roberto Formigoni, seit 40 Jahren in der Politik und wegen Korruption zu sechs Jahren Haft verurteilt, leistet ihm Gesellschaft. In Kampanien führt mit Luigi Cesaro ein Abgeordneter die Liste an, dem Zusammenarbeit mit der Camorra vorgeworfen wird und dessen Brüder Aniello und Raffaele vor zwei Wochen verhaftet wurden.
Die Listen umfassen die Dutzende Politiker, die bereits verurteilt sind oder gegen die Ermittlungen laufen.  Dazu gehört der "König der Privatkliniken" Antonio Angelucci, der im Parlament bei 99,6 Prozent aller Sitzungen abwesend war und nun von Forza Italia mit dem ersten Listenplatz in Latium belohnt wurde.
 

Schlagabtausch in den TV-Duellen

 
In den Fernsehduellen ereifern sich Uralt-Politiker wie Massimo D'Alema, der im Vorjahr seinen Abschied von der Politik angekündigt hatte und sein Parteikollege Pier Luigi Bersani, der sich nach 40 Jahren in der Politik der neuen ultralinken Formation Liberi e uguali angeschlossen hat.
Im Labyrinth der eigens für diesen Wahlgang gegründeten Parteien haben die Wähler längst den Überblick verloren. Die offiziellen Listen werden vom Innenministerium erst am 8. Februar bekanntgegeben.
 
Auch für die mit einer Reihe Vorzeigekandidaten gestartete Fünfsterne-Bewegung läuft nicht alles nach Plan. Der Admiral Rinaldo Veri musste zurücktreten, weil er im Gemeinderat  Mitglied einer mit dem PD verbündeten Liste ist. Dasselbe gilt für Nicola Cecchi in Florenz. Der Senatskandidat Emanuele Dessì ist auf einem Video mit einem Mitglied des Mafia-Clans Spada aus Ostia zu sehen. Der Turiner Ökonom Paolo Turati hingegen versuchte vergeblich, im Internet alle Spuren seiner Mitgliedschaft bei Forza Italia zu tilgen. Die Abgeordnete und Kandidatin Alessia D'Alessandro ist aus Protest zurückgetreten: "Non posso riconoscermi in ciò che viene spacciato per Movimento, ma che si pone come la sua più volgare negazione. Mi ritrovo un leader, una struttura di partito e accanto a me in lista riciclati di altri partiti."
Im Labyrinth der eigens für diesen Wahlgang gegründeten Parteien haben die Wähler längst den Überblick verloren.
 
Der Ärger über den Stil der Kandidatenkür im M5S hat auch in unserer Region Spuren hinterlassen: die Fraktionssprecher und ehemaligen Bürgermeisterkandidaten in Rovereto, Riva und Arco, Flavio Prada, Giovanni Rullo und Paolo Vergnano haben ihre Ämter aus Protest niedergelegt. Im Veneto sorgte eine beschämende Aufforderung in der internen Chatline der Kandidaten für Empörung : "Bisogna tirare fuori il peggio sui propri concorrenti: nefandezze, foto imbarazzanti - tutto quello che può servire a fare campagna negativa su di loro."   
 

Die Schüsse von Macerata

 
Nun haben die Schüsse von Macerata das raue Wahlkampfklima weiter angeheizt. Prompt regiert Berlusconi mit der Forderung nach Abschiebung von 600.000 illegalen Immigranten.
Auch Salvini rührt die populistische Trommel: "Quando c'era la Lega al governo facevamo i respingimenti e l'UE ci richiamava ma noi difendevamo il nostro paese."  Natürlich hüten sich beide, Details zu nennen . Denn jeder weiss, dass Abschiebungen kostspielig und kompliziert sind, weil die Konsulate der betroffenen Staaten oft die Zustimmung verweigern. Zudem ist die Ausweisung in Kriegsgebiete untersagt. Wegen unerlaubter Abschiebungen ist Italien bereits vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden. 
Ein internationales Team von Sozialforschern hat die Einhaltung der Wahlversprechen der letzten zwei Jahrzehnte in 12 Ländern untersucht. Italien liegt mit 40 Prozent am letzten Platz.
Wie kompliziert diese Problematik ist, beweisen die Polemiken  in Deutschland um die jüngste Anschiebung von 26 Afghanen nach Kabul. In der Chartermaschine befanden  sich zudem 79 Polizisten, ein Dolmetscher, mehrere Ärzte und ein Frontex-Vertreter. Geschätzte Kosten: 350.000 Euro.
Doch die Wahlversprechen der Parteien muten nicht nur beim Thema Immigration grotesk an. Auch die versprochenen Steuersenkungen sind durchaus surreal. Ein internationales Team von Sozialforschern hat die Einhaltung der Wahlversprechen der letzten zwei Jahrzehnte in 12 Ländern untersucht. Grossbritannen führt mit 90 Prozent vor Schweden mit 80 und Portugal mit 78 Prozent. Italien liegt mit 40 Prozent am letzten Platz.
Ein Wert, der bei den kommenden Wahlen weiter sinken könnte - zumal die Regierbarkeit des Landes nach dem 4. März keineswegs gewährleistet ist.