Società | Interview

“Das war eigentlich noch harmlos”

Vor Kurzem war Giulia Fellin als internationale Beobachterin in Honduras. Als sie Opfer einer Einschüchterungskampagne der Regierung wird, verlässt sie das Land.

Wer in Honduras offen gegen Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Gewalt einsteht, riskiert nicht selten sein Leben. Anfang März wurde die indigene Menschenrechtsaktivistin Berta Cáceres in ihrer Heimatstadt La Esperanza ermordet. Sie war eine der Galionsfiguren im Kampf für die Rechte der indigenen Bevölkerung von Honduras. Aktiv war Cáceres zuletzt im Rat der indigenen und sozialen Bewegungen Honduras’ COPINH. Darin haben sich über 200 Lenca-Gemeinden organisiert. Die Lenca sind die größte indigene Bevölkerungsgruppe in Honduras und wehren sich mithilfe von COPINH seit mittlerweile zwanzig Jahren gegen große Bauvorhaben, die oft als Entwicklungsprojekte auf ihrem Territorium umgesetzt werden sollen. Eines davon ist das Wasserkraftwerk Agua Zarca im Westen des Landes. Die Proteste werden häufig gewaltsam niedergeschlagen, immer wieder kommt es zu Entführungen und Morden.

Wer den Machthabern von Regierung, Militär und Wirtschaft nicht passt, wird versucht, mundtot zu machen, diffamiert und von offizieller Seite an den Pranger gestellt. Das hat auch die gebürtige Südtirolerin Giulia Fellin kürzlich erfahren. Im April hat sie an einer dreitägigen Gedenkfeier für Berta Cáceres in der honduranischen Hauptstadt teilgenommen. Was der 27-Jährigen, die als internationale Beobachterin vor Ort war, dann passiert ist und warum sie aus Honduras geflohen ist, erzählt sie eine Woche nach ihrer Rückkehr in ihren Wohnort Berlin im salto.bz-Interview.

salto.bz: Giulia, warum bist du im April nach Honduras gereist?
Giulia Fellin: Vom 13. bis 15. April gab es in der Hauptstadt Tegucigalpa ein internationales Treffen unter dem Titel “Berta Cáceres Vive!”, also “Berta Cáceres lebt!”. Am 3. März wurde sie umgebracht. Ganz sicher wegen ihres Einsatzes gegen das Wasserkraftwerk Agua Zarca am Río Blanco, die Ausbeutung indigener Gebiete und zum Teil gegen den Staat und die Korruption. In Reaktion auf ihren Mord haben zahlreiche lokale und internationale Organisationen beschlossen, dass eine starke Aktion nötig war und wollten ein Zeichen setzen.

Du warst bei dem Treffen dabei?
Ja, genau. Ich habe als Vertreterin einer europäischen Organisation teilgenommen. Es waren über 1.500 Leute aus 20 Ländern da. Gemeinsam wurde überlegt, wie man nach dem Mordfall auch auf internationaler Ebene weiter vorgehen kann. Man muss sich vor Augen halten, dass in Honduras 98 Prozent der Morde straffrei bleiben. Es gibt kein Vertrauen in die Justiz und die Ermittlungen des Staates.

Ich wurde als gewalttätige Italienerin, die COPINH berät und Gewalt schürt, beschuldigt.

Es war nicht dein erster Aufenthalt in Honduras.
Vor zwei Jahren war ich für sechs Monate dort und habe COPINH als Menschenrechtsbeobachterin begleitet. In Berlin bin ich in zwei Gruppen recht aktiv, die sich in und für Honduras engagieren.

Was hat dich dazu bewogen, sich für das Land und seine indigene Bevölkerung einzusetzen?
Für mich persönlich ist es sehr spannend zu sehen, wie sich – nicht nur in Honduras sondern in ganz Lateinamerika – bäuerliche und indigene Gruppen organisieren, um gezielt Alternativen zu einem Entwicklungsmodell zu finden, das ihnen aufgedrängt wird. Eine Alternative zu extraktivistischen Projekten, die für sie selbst nichts bringen außer Landeinteignugen, Umweltverschmutzung oder Krankheiten. Und dabei ihre Idee von Entwicklung, vom guten Leben (‘buen vivir’) umsetzen.

Giulia Fellin (Mitte) 2014 mit zwei COPINH-Mitgliederen vor dem Begegnungszentrum La Utopia, das COPINH gehört und für Kurse, Workshops, Versammlungen mit den Mitgliedern der Gemeinden verwendet wird. Foto: privat

Wie kann man sich die Situation der indigenen Bevölkerung in Honduras vorstellen? Auch im Hinblick auf die Menschenrechte.
Speziell in Honduras ist der Kontext sehr schwierig und gewaltvoll. Die Menschenrechtslage ist besorgniserregend, indigene Bevölkerungsgruppen haben extreme Schwierigkeiten, ihre Rechte einzufordern und geltend zu machen. Wer sich für die eigenen Rechte einsetzt und sich gegen die Regierung ausspricht, setzt sein Leben aufs Spiel. Und mit dem Mord an Berta Cáceres ist ein starkes Zeichen gesetzt worden, an alle, die sich in Honduras für ihre Rechte einsetzen.

Inwiefern?
Es ist noch gefährlicher geworden.

Wie gefährlich, das hast du am eigenen Leib miterlebt…
Am letzten Tag des Treffens im April sind wir zu dem Fluss gegangen, wo das Wasserkraftwerk Agua Zarca geplant ist. Es war eine Solidaritätsbekundung mit der lokalen Bevölkerung, die sich seit Jahren gegen das Projekt wehrt und deswegen bedroht wird. Dabei sind wir Zeugen der Gewalt geworden, die in dem Gebiet bereits vorhanden ist.

Was ist passiert?
Wir waren eine Gruppe von mehreren hundert Leuten. Als wir ankamen, wurden wir von einer Gruppe Befürwortern bedroht. Und auf dem Rückweg wurden wir mit Steinen beworfen und mit Macheten bedroht.

Zur selben Zeit ist eine Studentin für ein paar Stunden verschwunden, weil sie eine Masterarbeit zu einem kritischen Thema schreibt. Das sind viel krassere Sachen als mein Fall.

Was ist dir dabei durch den Kopf gegangen?
Es ist besorgniserregend mit welcher Gewalt die Lokalbevölkerung konfrontiert ist. Welche Gewalt ein “Entwicklungsprojekt” im Bereich grüne Energie mit sich bringt.

Du hast damals aber beschlossen, weiter in Honduras zu bleiben?
Nach dem Treffen bin ich ein paar Wochen länger in Honduras geblieben, ja. Um COPINH noch weiter zu unterstützen und zu begleiten. Es wird ja weiterhin gezielt versucht, die Organisation und ihre Mitglieder einzuschüchtern. Ihnen wird mit Mord gedroht oder sie werden auf der Straße verfolgt.

Von wem kommen diese Einschüchterungsversuche? Vom Staat?
Man vermutet es. Aber man weiß nicht, wer in den Autos sitzt oder woher die Droh-SMS kommt. Wahrscheinlicher ist, dass die Firma dahinter steckt, die das Wasserkraftwerk bauen will. In die Sache ist aber auch der Staat verwickelt, ebenso wie die großen Familien des Landes, die Banken, das Militär. Daher ist es schwer zu sagen, ob die Morddrohungen und Einschüchterungen gezielt vom Staat kommen oder von einer sonstigen Seite.

Du bist selbst Opfer solcher Einschüchterungsversuche geworden.
Genau. Am 9. Mai wollte COPINH vor dem Präsidentenhaus eine Kundgebung machen, um verschiedene Dinge einzufordern: eine unabhängige internationale Kommission, die den Mord an Berta Cáceres aufklären soll; den Stopp des Wasserkraftwerks Agua Zarca und aller sonstigen Projekte auf dem Territorium. Die Kundgebung wurde nach kürzester Zeit extrem gewaltsam aufgelöst. Es wurden Tränengasbomben abgefeuert. Polizei und Sicherheitskräfte sind mit Knüppel auf die Menschen los gegangen.


Mit dem Flyer links wird Giulia später über soziale Medien, Blogs und WhatsApp in Honduras als ausländische Agitatorin angeprangert. Rechts die Version von COPINH, der sich bei Giulia bedankt und seine Solidarität ausdrückt.

Du warst auch vor Ort?
Als internationale Beobachterin, ja. Gemeinsam mit weiteren internationalen BeobachterInnen und der Presse wollten wir das, was passiert, dokumentieren. Es waren rund 150 Leute anwesend: RepräsentantInnen der verschiedenen Gemeinden, Kinder, Jugendliche, Ältere…

Wie ist der Tag weiter verlaufen?
Die Kundgebung sollte rund 300 Meter weiter fortgesetzt werden. Nach einer Stunde zirka ging die zweite Repressionswelle los. Mit Wasserwerfern und Tränengasbomben. Mehrere Leute wurden verletzt, es hat auch Festnahmen gegeben. Am selben Tag noch hat ein Regierungssprecher eine offizielle Erklärung abgegeben. Ihre Version: Die Kundgebung von COPINH ist gewalttätig gewesen und die anwesenden AusländerInnen haben die Gewalt geschürt. Es wurde auch gesagt, dass gegen diese AusländerInnen vorgegangen werden wird.

Ich würde sehr gerne wieder hinfahren, auch nur um meine Freunde dort zu besuchen. Ich habe sie dieses Mal umständehalber nicht verabschieden können.

Wie hast du darauf reagiert?
Ich war sehr besorgt. Am nächsten Tag ist es dann noch schlimmer geworden.

Ja?
Tags drauf sind in den sozialen Medien und auf Blogs Fotos und Videos von mir publiziert worden. Es waren Fotos von mir auf der Kundgebung und danach. Mit all meinen persönlichen Daten: Name, Geburtsdatum, Nationalität. Ich wurde als gewalttätige Italienerin, die COPINH berät und Gewalt schürt, beschuldigt. Die Anschuldigungen waren das Zeichen für mich, dass es jetzt kritisch wird.

Was hast du gemacht?
Ich habe alle internationalen und nationalen Kanäle, die mir zur Verfügung standen, aktivieren müssen, um die Anschuldigungen zurückzuweisen und mich zu schützen.

Wie hat sich dein Alltag nach den Vorfällen um den 9. Mai verändert?
Ich bin bei Freunden untergetaucht, war nicht mehr alleine unterwegs. Es hat zwei Momente gegeben, wo mich Leute von den Fotos wiedererkannt haben. Aber obwohl die Kampagne gegen meine Person gerichtet war, war es auch eine Warnung für alle anderen internationalen Beobachter und Leute von außen, die in Honduras arbeiten: Passt auf, was ihr macht, weil uns passt das nicht. Und die Kampagne hat sehr gut funktioniert.


Dieses Video wurde verbreitet, um Giulia Fellin einzuschüchtern. Darin wird sie als “Ausländerin, die zur Unruhe anstiftet und ausgewiesen werden muss” bezeichnet.

In welcher Hinsicht?
Viele AktivistInnen haben sich etwas zurückgezogen und zeigen sich öffentlich nicht mehr so, zum Beispiel bei Demonstrationen, wo die Anwesenheit von internationalen BeobachterInnen bisher sehr wichtig war. Die Blogs, auf denen die Fotos von mir veröffentlicht wurden, machen dasselbe jetzt gezielt auch mit anderen Leuten. Es wird versucht, sie zu denunzieren, zu diskreditieren, zu diffamieren.

Hast du eine Erklärung für dieses Vorgehen?
Man kann das ein bisschen so lesen, dass sich nach dem Mord an Berta Cáceres unglaublich viel internationale Solidarität mobilisiert hat. Es hat eine enorme Aufmerksamkeit auf das Land und das, was dort passiert, gelenkt. Einige europäische Banken haben sich bereits aus Honduras und dem Wasserkraftprojekt Agua Zarca zurückgezogen und wollen in keine Projekte mehr investieren. Dass kommt der Regierung natürlich nicht gelegen.

Hast du in deiner Lage selbst auch Solidarität erfahren?
Auf jeden Fall, ja. Für mich war es sehr schön zu sehen, wie sich sehr schnell ganz viele Leute in Europa und Honduras organisiert haben, um mir zu helfen: um mir einen sicheren Schlafplatz zu beschaffen, mit mir zur Polizei zu gehen, mich zur Botschaft zu begleiten, psychologische Unterstützung. Und um schließlich auszureisen.

Es ist bewundernswert, mit welcher Überzeugung trotz den widrigen Umständen für eine Alternative zum herrschenden System gekämpft wird.

Du wolltest weg aus Honduras?
Es war eine unangenehme Situation, die hätte schlimmer werden könnte. Deswegen habe ich beschlossen, nach Nicaragua auszureisen. Ich wurde von mehreren Leuten zur Grenze begleitet, darunter ein Anwalt. Es war schön zu sehen, wie das funktioniert. Andererseits, es hat funktioniert, weil es nicht das erste Mal war. Es hat sich ein Netzwerk von solidarischen Leuten gebildet, das aktiv wird, wenn solche Fälle – es hat schon viel schlimmere gegeben – eintreten.

Schafft man es in einer solchen Situation einen klaren Kopf zu bewahren?
Was mir geholfen hat, mich nicht verrückt zu machen, war der Gedanke, dass das, was mir passiert ist eigentlich noch harmlos ist, im Gegensatz zu dem, was sonst in Honduras passiert. Zur selben Zeit als ich dort war, ist zum Beispiel eine Studentin für ein paar Stunden verschwunden, weil sie eine Masterarbeit zu einem kritischen Thema schreibt. Das sind viel krassere Sachen als mein Fall.

Ein Transparent mit dem Konterfei von Berta Cáceres, das bei der Kundgebung am 9. Mai mitgeführt wurde: “Dein Kampf wird uns ein Beispiel sein”. Am 15. Juni findet ein weltweiter Aktionstag im Gedenken an Cáceres statt. Foto: Hondurasdelegation

Seit einer Woche bist du wieder in Berlin. Wie fühlst du dich jetzt, wo du weißt, wieder in Sicherheit zu sein?
Meine Gefühle sind gemischt. Ich bin besorgt um die Leute, die ich kenne, um die, die sich jeden Tag für ihre Rechte einsetzen und die lokale Bevölkerung am Río Blanco. Die wird jetzt fast noch mehr bedroht als vorher. Es herrscht Angst vor Racheakten nach dem Rückzug der Banken. Und diese Menschen haben nicht das Privileg wie ich, einfach auszureisen um in Sicherheit zu sein. Aus diesem Grund habe ich sehr gemischte Gefühle.

Hältst du Kontakt zu den Menschen, die du in Honduras kennst?
Ja. Und wir machen ziemlich viele Aktivitäten hier in Berlin. Wir versuchen Lobbyarbeit bei Regierung und Botschaft zu machen, damit diese mit den Mitteln, die sie haben, auf die honduranische Regierung Druck ausüben. Wir machen sehr viel Solidaritätsarbeit und versuchen so weit als möglich Organisationen und AktivistInnen in Honduras zu unterstützen.

Nach dem was du erlebt hast, planst du, nach Honduras zurückzukehren?
Das wird sich noch zeigen. Grundsätzlich würde ich sehr gerne wieder hinfahren, auch nur um meine Freunde dort zu besuchen. Ich konnte sie dieses Mal umständehalber nicht verabschieden. Aber es bleibt erst einmal abzuwarten, wie sich die Situation dort entwickelt, ob weiterhin gegen mich ermittelt wird. Eine Anwältin in Honduras verfolgt die Sache für mich. Entschieden ist noch nichts.

Aber dein Einsatz geht weiter?
Ich habe sehr viel Respekt vor den Leuten, die sich jeden Tag einsetzen und ihr Leben riskieren. Es ist sehr bewundernswert, mit welcher Überzeugung trotz den widrigen Umständen für eine Alternative zum herrschenden System gekämpft wird. Der Glaube daran, dass es sie gibt und dass man sie auch finden kann, fehlt hier in Europa ja oft.