Cultura | Interview

"Der Rassismus von heute ist die Folge von damals"

Interview mit der Schweizer Künstlerin Sasha Huber

In der Ha'Riviera Gallery in Tel Aviv haben die beiden Kuratorinnen aus Südtirol Kathrin Oberrauch und Marion Oberhofer vom 27. Juni bis 25. Juli 2015 eine Ausstellung mit dem Titel "No Man is an Island" gezeigt. Sie brachten zeitgenössische israelische und Schweizer KünstlerInnen zusammen, die über die Gegenwart und Geschichte von Gefügen und Territorien mit den Mitteln der Kunst nachdenken: Marina Belobrovaja, Beni Bischof, Sasha Huber, Miro Schawalder, Fatma Shanan Dery, Tamir Zadok, Ariel Reichman, Belu Simion Fainaru, Roy Brand, Ori Scialom und Keren Yeala Golan.
Anlässlich dieser Ausstellung haben wir Sasha Huber, eine der teilnehmenden KünstlerInnen interviewt. Sie hat in Israel einen Ausschnitt aus ihrem Arbeitskomplex "Rentyhorn" gezeigt.

Der ursprüngliche Ausgangspunkt von Sasha Hubers künstlerischer Arbeit war die Erforschung ihrer haitianisch-schweizerischen Wurzeln und ihrer Identität über die Kolonialgeschichte. Dieser Ansatz hat sich im Laufe der Zeit erheblich erweitert, um mehrere Geschichten und postkolonialen Realitäten einzuschließen.
Im Jahr 2007, als Huber dem transatlantischen Komittee "Demounting Louis Agassiz" beigetreten ist, das von dem Schweizer Historiker und politischen Aktivisten Hans Fässler initiiert wurde, nahm ihre Arbeit eine neue Richtung. Der in der Schweiz geborene Natur- und Gletscherforscher Louis Agassiz (1807- 1873) war ein einflussreicher Rassist und ein Befürworter der Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Agassiz' vollständige Geschichte war bis dahin fast vergessen. Ziel war es, Licht in Agassiz dunkle Geschichte durch das Umbenennen des Schweizer Berges "Agassizhorn" in "Rentyhorn" zu bringen, in Gedenken an Renty und weiterer Rassismus-Opfer. Renty war ein versklavter Mann aus dem Kongo, der einer von vielen für die Forschung von Agassiz fotografierten Menschen war.
2008 begann Sasha Huber ihre erste Intervention. Sie brachte eine Metallplakette mit dem neuen Namen auf die Spitze des Agassizhorns und startete eine internationale Online-Petition (www.rentyhorn.ch). Seit dieser Zeit realisiert sie Interventionen, die sie anhand von Videos, Fotos, Zeichnungen und Büchern dokumentiert, die in Zusammenarbeit mit Autoren und Forschern produziert werden. Ab 2010 erweiterte sie den Arbeitskomplex "Demounting Louis Agassiz" in Residencies in Brasilien, der Schweiz, Schottland und Neuseeland.

Salto arts: Die Arbeit "Rentyhorn" ist 2008 entstanden. Du bist nach wie vor am Thema dran, derzeit in Neuseeland, wo es wie in der Schweiz Orte gibt, die nach dem Gletscherforscher und Rassisten Agassiz benannt wurden . Gibt es konkrete politische Fortschritte diesbezüglich zu berichten? Und: ist es dein Anspruch, alle (mehr als 60) Orte auf der Welt zu bereisen und umzubenennen, die nach ihm benannt wurden?

Sasha Huber: Dank dem Zusammenspiel der Kampagne "Démonter Louis Agassiz" mit meinen Arbeiten ist es gelungen, die öffentliche Wahrnehmung nachhaltig zu verändern. In der Schweiz kann heute niemand mehr einfach behaupten, Louis Agassiz sei einfach nur ein großer Naturforscher gewesen. Die Forderung nach der Umbenennung des Agassizhorns bleibt bestehen und wird auf immer wieder neuen Wegen angestrebt.
Als ich die "Rentyhorn-Intervention" gemacht habe, wusste ich nicht, dass mich dieses Thema der Aufdeckung von Agassiz' Rassismus so lange beschäftigen wird und ein so großer Werkkörper entstehen würde, welcher mich inzwischen von der Schweiz über Brasilien und Schottland nun nach Neuseeland brachte. Es hat auch damit etwas zu tun, dass fast überall, wo ich durch die Kunst hinkomme, auch ein Ort nach ihm benannt ist.
Es geht aber nicht immer um Umbenennungen. In Neuseeland zum Beispiel ging es um die Entnennung des Agassiz-Gletschers auf der Südinsel. Ungefähr 100 Orte in Neuseeland wurden im 19. Jahrhundert vom Geologen und Naturforscher Julius von Haast umbenannt, obwohl die meisten Orte bereits Maori-Namen hatten. Der Agassiz-Gletscher und die Agassiz-Bergkette, die beide auf der Südinsel sind, hatten vorher jedoch keine Maori-Namen. Die Entnennung ging anhand einer Karakia-Zeremonie, was ein Maori-Gebet ist, durch Jeff Mahuika (Kati Mahaki, Poutini Kal Tahu) vonstatten, um den Gletscher von dem Namen symbolisch zu befreien. Ich bin mit der Stammesbehörde der Südinsel, Kai Tahu, in Verbindung und sie würden es unterstützen, Maori-Namen für die beiden Orte zu finden, was ihr Vorschlag war. Das war eine große Überraschung und ich werde in Kontakt bleiben, weil so eine Entscheidung längere Zeit beanspruchen wird. Das war ein sehr spezielles Ereignis für mich.


Sasha Huber, Rentyhorn Schild, graviertes Aluminium auf Holz, 31.5 x 33 cm, 2008.
Courtesy of Museum of Contemporary Art Kiasma


Sasha Huber, KARAKIA The Resetting Ceremony, video 4:30 min, 2015. Still-Fotografie von Tom Hoyle.

Salto arts: Was hat Dich damals und heute als Künstlerin mit haitianisch-schweizerischen Wurzeln motiviert, Dich mit der über 100 Jahre zurückliegenden Geschichte von Agassiz und in Folge der Umbenennung der nach ihm benannten Ortschaften zuerst in der Schweiz, dann international, zu beschäftigen?

Sasha Huber: 2005 habe ich das Buch "Reise in Schwarz-Weiß: Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei" von Hans Fässler gelesen. Das hat mich dermaßen beschäftigt, dass ich Hans kontaktierte, um ihn zu treffen. So wurden wir Freunde und als er 2007 die "Démonter Louis Agassiz-Kampagne" gründete, hat er mich ins Kommittee eingeladen, was mich dann dazu bewegt hat, die "Rentyhorn-Intervention" zu machen. Das war der Anfang und aus dem Einen hat sich das Andere ergeben. Es ist eine sehr spannende Arbeit, die es mir ermöglicht, mit Hans und anderen Spezialisten zusammenzuarbeiten. Es ist mir auch ein Anliegen, dass ich mit meiner Arbeit dazu beitragen kann, die Zusammenhänge und Ursachen des bis heute andauernden Rassismus, der vielen Menschen weltweit unnötig das Leben zur Hölle macht, durch die Kunst zu vermitteln. Diese Auseinandersetzung scheint mir unumgänglich und ich habe für mich realisiert, dass ich dieses schwierige Thema am besten durch Kunst verarbeiten und bearbeiten kann.
 


Sasha Huber, Rentyhorn - Die Intervention, 4:30 min, 2008. Still-Fotografie von Siro Micheroli.

Salto arts: Der Rassismus von Gestern und der Rassismus von heute: im jetzigen Europa traut sich niemand mehr, wie Agassiz Fotos von SchwarzafrikanerInnen zu machen, um ihre rassische Minderwertigkeit zu behaupten. Jedoch lassen wir Flüchtlinge aus Afrika und den Ländern des Nahostens an unseren Grenzen ertrinken - meistens dunkelhäutige Menschen. Ich habe mich einmal gefragt, ob es anders wäre, wenn diese Menschen Weiße wären, ob wir dann eher Hilfe gewähren würden.
Kann sich Rassismus durch die Erinnerung daran verändern? Oder sind wir heute mit einem neuen Rassismus konfrontiert, der erst formuliert/enttarnt werden muss?

Sasha Huber: Leider werden in Europa auch heute noch Leute dokumentiert und sogar auch Fingerabdrücke genommen, um sie zu klassifizieren. Das finde ich ziemlich ähnlich, wie es Agassiz damals machte, außer dass er Leute nackt von allen Seiten hat ablichten lassen, ohne dass die Fotografierten wussten, wofür diese Fotografien gemacht wurden. Anhand dieser Bilder wollte er die Minderwertigkeit von Schwarzen beweisen. Das würde Weißen nie passieren, und die Betroffenheit in der Bevölkerung ist tatsächlich immer stärker, wenn 'eigene' Leute zu Schaden kommen. Die Leute sind regelrecht abgestumpft, wenn sie lesen, dass wieder einmal 800 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind. Der Rassismus von heute ist die Fortsetzung von damals. Der Rassismus ist eine ungebrochene Geschichte von der Verachtung und Herabsetzung von schwarzen und afrikanischen Menschen im Kontext von Sklaverei und Kolonialismus bis zur Verdrängung des Flüchtlingselends aus der Dritten Welt.