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Wer wohl in Stockholm triumphieren wird?

Selten findet die Verleihung des Literaturnobelpreises einmütige Zustimmung. Das liegt auch an den wenig transparenten Auswahlkriterien des Jurorenkomitees. 
Nobel
Foto: Wikipedia

Haruki Murakami zählt zuverlässig zu den üblichen Verdächtigen, wenn unter Literaturkritikern der nächste Nobelpreisträger gehandelt wird. Gewonnen hat der Japaner die begehrteste aller literarischen  Auszeichnung bislang nicht. Auch dieses Jahr besitzt er so gut wie keine Chance.

Wer kann sich noch an die letztjährige Preisträgerin erinnern?

Das hat mit der merkwürdigen Arithmetik zu tun, die den Auswahlkriterien der Jury zugrunde liegt. Schön abwechslungsreich soll es zugehen, nicht nur Schriftsteller aus den wichtigsten Marktregionen Nordamerika und Europa zum Zuge kommen und auch mal eine Überraschung drin sein. Zumindest letzteres ist dem Stockholmer Komitee des öfteren gelungen.
Wer kann sich noch an die letztjährige Preisträgerin erinnern? Kein Wunder, erstreckt sich der Bekanntheitsgrad von Louise Glück doch allenfalls auf literarisch gut informierte Kreise ihres Heimatlandes USA. Es mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Autorin Lyrikerin ist, also einer Sparte zugezählt wird, die alle Jahrzehnte einmal an der Reihe ist. Davor war dies bei Tomas Tranströmer der Fall, ein damals 80-jähriger Schwede, den 2011 niemand auf der Liste hatte und dessen Name allenfalls den Mitarbeitern des ihn publizierenden Verlags etwas sagte. Nicht einmal dies konnte anno 2000 von Gao Xingjiang guten Gewissens behauptet werden. Als während der Frankfurter Buchmesse die Stockholmer Kür über die Hallenmikrofone verkündet wurde, stürzte eine Handvoll besonders findiger Journalisten zum Stand des deutschen Verlags, der den Chinesen in Übersetzung im Programm hatte. Dort zeigte man sich komplett ahnungslos: Gao Xingjiang? Nie gehört. Statt auf der riesigen Ausstellungsfläche des Frankfurter S. Fischer Verlags präsentiert zu werden, rotteten die wenigen auf Deutsch erschienenen Werke in einer Lagerhalle vor sich hin. Womöglich ist schnell jemand herübergefahren und hat ein paar Exemplare eingesammelt, damit man auf der Messe nicht allzu belämmert dastand. 

Letzter deutschsprachiger Gewinner übrigens war vor zwei Jahren Peter Handke, keinesfalls unumstritten, jedoch literarisch über jeden Zweifel erhaben.

Schauen wir uns doch mal die Liste der diesjährigen Favoriten an. Bei den Buchmachern liegt neben Murakami ein Quintett vorn: Die beiden Kanadierinnen Margaret Atwood und Anne Carson, Ludmila Ulitzkaja aus Russland, die Französin Maryse Condé und der Kenianer Ngugi Wa Thionogo. Die ersten drei haben das Pech, dass in jüngerer Zeit jemand aus ihrem Land den Preis gewann: Kazuo Ishiguro vor vier beziehungsweise Alice Munro vor acht Jahren. Ludmila Ulitzkaja Chancen schmälert der Triumph der Polin Olga Tokarczuk vor drei und der Weißrussin Swetlana Alexijewitsch vor sechs Jahren: Beide Gewinnerinnen kommen aus Ulitzkajas unmittelbarer geografischer  Nachbarschaft. 
Bleiben Maryse Condé und der Kenianer Ngugi Wa Thionogo. Letzterer stammt aus Afrika, ein hinsichtlich Nobelpreisen, zumal für Literatur,  chronisch unterrepräsentierter Kontinent. Der letzte Gewinner aus dieser Erdregion hieß John Maxwell Coetzee, ein weißer Südafrikaner mit britischen und niederländischen Wurzeln und inzwischen australischer Staatsbürger. Letzte in Stockholm gekürte Schwarze war die US-Amerikanerin Toni Morrison 1993, letztausgezeichneter schwarzer Afrikaner der Nigerianer Wole Soyinka sieben Jahre zuvor. Dazwischen hatte Derek Walcott reüssiert und das recht einsame Trio schwarzer Literaturnobelpreisträger komplettiert. Die Chancen für Ngugi Wa Thionogo stehen also so schlecht nicht. Doch gibt es eine kaum weniger aussichtsreiche Konkurrentin: Maryse Condé ist zwar Französin, stammt aber aus dem Überseedepartment Guadeloupe und würde geografisch dem Karibikraum zugerechnet. Auch sie ist schwarz und mit 84 ein Jahr jünger. 

Und der letzte Italiener, der in Stockholm ausgezeichnet wurde? Die Älteren mögen sich erinnern: Er hieß Eugenio Montale...

Gut möglich, dass an diesem Donnerstag, wenn die Jury zusammentritt, eine(r) der beiden Letztgenannten das Rennen macht. Letzter deutschsprachiger Gewinner übrigens war vor zwei Jahren Peter Handke, keinesfalls unumstritten, jedoch literarisch über jeden Zweifel erhaben. Der halb slowenischstämmige Handke hatte über Jahre den letzten jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević unterstützt; selbst dann noch, als dieser vor dem Haager Tribunal angeklagt und als Kriegsverbrecher verurteilt worden war. en Zu Handkes Entlastung muss angeführt werden, dass er ja nicht für den Friedensnobelpreis vorgesehen war.
Und der letzte Italiener, der in Stockholm ausgezeichnet wurde? Die Älteren mögen sich erinnern: Er hieß Eugenio Montale, gewann 1975 und führte vor und nach der Preiswürdigung ein literarisches Exotendasein als Lyriker.