Società | Altenpflege überdenken

Erwin Böhm: "Den alten Leuten den Arsch abputzen reicht nicht"

Erwin Böhm referiert am 22. November auf der Tagung des Pflegeforum Südtirols. Böhm ist Vordenker, Querdenker und sagt im salto.bz Interview: "Den alten Leuten den Arsch abputzen reicht nicht." Noch immer sind es zu wenig Altersheime, die seine Gedanken wirklich aufgreifen.

Herr Böhm, seit vierzig Jahren plädieren Sie für ein Umdenken in der Pflege. Wo stehen wir heute? Sind sie zufrieden mit dem was umgesetzt wurde?
Ich bin überhaupt nicht zufrieden. Ich krieg ja auch die Südtiroler Heimzeitung zugeschickt. Da muss ich schon schmunzeln. Eigentlich geht gar nichts weiter. Begrifflichkeiten wie Demenz oder Alzheimer gehörten längst aus dem Umgang mit alten Menschen gestrichen.

Weil diese Diagnosen ein Urteil, eine Bewertung beinhalten?
Wenn ich zu jemanden sage: 'Du bist dement.', dann verhält sich der auch so. Er wartet ja nur darauf, dass er immer blöder wird. Demenz oder Alzheimer sind Eigenarten, die sich aus der Gefühlsbiographie ergeben. Wenn ich den Menschen und seine Seele sehen kann und nicht nur seinen Köprer, dann lass ich eine Rehabilitation zu. Mit einer Diagnose geb ich den Menschen ja verloren, es ist sozusagen nur mehr zu warten bis er/sie stirbt.

Was macht die Seele im Alter?
Die Seele im Alter hat verschiedene Eigenartigkeiten. Wenn sich ein Mensch schon immer zurückgezogen hat, oder aggressiv war, oder sehr extrovertiert, dann verstärken sich diese Muster aus dem frühen Leben zunehmend im Alter. Das hat nichts im Krankheit zu tun, das ist einfach eine Sicherheit, die Menschen brauchen, wenn um sie herum alles anders wird.

Das Alter, oder die Krise führen uns zurück?
Ja, das nennt man auch das Umkehrverhalten im Menschen. Wenn zum Beispiel eine schwarzhaarige Pflegerin mit tiefer Stimme ins Zimmer kommt und der Patient versteckt sich unter der Decke, dann ist der nicht blöd oder er hat vergessen wie "man" sich verhält, sondern er hatte vielleicht schon immer Angst vor schwarzhaarigen Frauen. Dieses Unwohlsein verstärkt sich im Alter, wenn ich es schon als Kind oder als Jugendlicher hatte. Es ist wichtig diese "Gschichertln" der Leute zu kennen.

Sie sagen Verwirrte sollen wir nicht verwirren.
Der Mensch ist einfach konstruiert, es genügt wenig, um ihn zufrieden zu stellen. Aber wir müssen den Menschen gut kennen, um seine Biographie Bescheid wissen. Es ist mir gleich ob ein Mensch gscheid ist. Heute wird ja viel von dem Intelligenzquotienten gesprochen. Das ist mir wurscht. Es geht darum, dass der Mensch lebt.

Sie arbeiten in ihren Häusern psychobiographisch. Was genau heißt das?
Psychobiographisch bedeutet, dass wir uns die Biographie der einzelnen Menschen genau anschauen. Wo sind sie aufgewachsen und wie? Welche Sprache haben sie in ihrer Kindheit und Jugend gesprochen? Es gibt eine Altersseele, und die wollen wir genau kennen. Es ist wesentlich, das „alte Milieu“ genauestens zu kennen. Mittlerweile sind 125 Häuser nach unserem Programm Europäisches Netzwerk für psychobiographische Pflegeforschung ENPP im deutschsprachigen, europäischen Raum zertifiziert. 64 Häuser sind in Ausbildung. Wir machen die Lehre direkt vor Ort, kommen in die Altenheim um wirklich in die Praxis einzusteigen.

Es gibt eine Altersseele, und die wollen wir genau kennen. Es ist wesentlich, das „alte Milieu“ genauestens zu kennen.

Auch ein Südtiroler Heim dabei?
Leider nicht. Wir haben einige Male in Südtirol referiert, und die Leute hören alle brav zu und sagen toll. Aber, reden und handeln, das sind zwei Paar Schuhe. In Südtirol gibt es keine leeren Betten, die Heimleitung ist da weniger zum Handeln gezwungen.

In einem Böhm Haus kann ich also meine Möbeln mitnehmen, aber das gibt es doch auch in anderen Pflegeeinrichtungen. Was ist noch anders, an ihren Einrichtungen?
Wir passen unsere Häuser dem Milieu der Menschen an. In jedem Zimmer gibt es die Sicherheitsecken. Da ist zum Beispiel der Dolomitenstein, den ich angreifen kann, weil der zu meiner Herkunft gehört. Oder der Herrgottswinkel, wenn ich eine gläubige Katholikin bin. Oder das Bild vom Kaiser Franz Josef, wenn ich den verehrt hab in meiner Jugend. Jeder braucht etwas anderes, damit es ihm gut geht. Die Krankenschwestern reden zudem den Dialekt der zu Pflegenden. Der Dialekt ist die Herzenssprache der alten Leute. Wenn ich eine alte Seiser Bäuerin auf Italienisch anspreche, dann wird sie sich nicht angesprochen fühlen. Auch das Hochdeutsche wird sie nicht annehmen. Umgekehrt braucht ein italienischer Herr aus Bozen eine Kontaktperson in seiner Sprache.

Sie zertifizierten Altenheime nach Ihren Pflege-Vorstellungen, unterstützen auch Pflegekräfte zu Hause. Was ist jetzt besser? Eine Pflege zu Hause oder im Heim?
Da brauch ich gar nicht lange nachdenken. Natürlich daheim. Aber unter bestimmten Voraussetzungen. Bitte keine neurotischen Töchter, die aufopferungsvoll ihre Mütter pflegen.

Die Töchter lassen sich ein schlechtes Gewissen machen?
Die Politiker waren schlau genug um die Neurosen der Töchter auszunutzen. Das muss endlich aufhören. Pflege daheim ja, aber es braucht eine fachliche Pflege. Die Emotion muss draußen bleiben. Jede Familie ist ja ein Kriegsschauplatz. Da ist der, der der Pflegefall ist, ist der Betroffene. Daher brauch ich in diesem Familienverband ein Neutrum. Die aufopfernde Pflege der Tochter ist krankhaft.

Pflege daheim ja, aber es braucht eine fachliche Pflege. Die Emotion muss draußen bleiben. Jede Familie ist ja ein Kriegsschauplatz. Da ist der, der der Pflegefall ist, ist der Betroffene.

Sie plädieren dafür, dass Pflegekräfte auf die Selbständigkeit der PatientInnen großen Wert legen sollen. Das Selbstwertgefühl  darf nicht verloren gehen.
Wenn ich eine Hauskrankenpflegerin hab mit einem übertriebenen Muttertrieb, dann lege ich mich als Patient irgendwann nieder. Ich kann nicht mehr gehen, denn ich muss ja nichts tun. Sie nimmt mir alles ab. Der Mensch aber muss reaktiviert werden, wieder angetrieben werden selbst die Dinge in die Hand zu nehmen. Da geht es nicht darum, dass alle gemeinsam basteln, oder Kuchen backen. Es geht darum, dass die Eigenarten und die Gewohnheiten der PatientInnen zum Vorschein kommen. Eine Frau, die nicht gern gekocht hat, soll bitte keine Kartoffeln schälen müssen.

Es reicht wenig und doch vereinsamt eine ganze Generation von alten Menschen. Der Suizid im Alter nimmt zu.
Bleiben wir nicht beim Suizid stehen, das beginnt viel früher, nämlich mit einem Zurückziehen der alten Menschen. Wenn ich nicht mehr will, nicht mehr kann, dann gehen meine Haxen zwar noch. Aber meine Seele ist tot, ich bin dann psychisch tot. Deshalb ist das Pflegpersonal ja so wichtig.

Keine Verantwortung den alten Menschen, keine den jungen Menschen.  Diagnosen scheint unser Allheilmittel geworden zu sein. Verlernt unsere Gesellschaft zunehmend Menschen so sein zu lassen wie sie sind? Braucht es für alles eine medizinische Einordenbarkeit?
Der Mensch war im Krankheitsfall noch nie menschlich. Menschen lieben Diagnosen so wurde auch der Alzheimer berühmt. Eine ärztliche Diagnose entlässt die Verwandten aus ihrer Schuld. Es ist ein Sündennachlass in der Familienproblematik.
 
Was haben wir verlernt? Oder nie gelernt?
Eine Menschlichkeit in der Altenpflege war nie gefragt da die Leute vor der Senilität gestorben sind. Heute wird der Mensch älter als es seine Seele verkraftet. Die Seele braucht Pflege, dann bekommt sie der Körper automatisch.

Sie sind jetzt ja selbst Mitte 70, welche rückwärtsgewandten Tendenzen merken Sie an sich selbst?
(lacht) Ich treibe mich gern auf Flohmärkten herum, den Geruch von alten Dingen, das liebe ich. Ich merke, dass ich nostalgisch werde. Ja, das Alter führt einen wieder zurück.

Am 22. November findet die Tagung des Pflegeforums Südtirol statt. Von 9 bis 16.30 Uhr wird zum Thema "Ein anderes Denken in der Pflege" referiert. Das Pflegeforum ist eine Initiative vom Südtiroler Bildungszentrum, ASAA und dem Pflegeforum Alpbach.

 

 

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Michael Bockhorni Mer, 11/06/2013 - 22:20

sehr weise worte (und taten). ich hoffe für die alten menschen in südtirol (und deren anghörigen) , dass seine ideen doch auch hier niederschlag finden.

Mer, 11/06/2013 - 22:20 Collegamento permanente
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Michael Bockhorni Mer, 11/06/2013 - 22:56

alte menschen gibt es überhaupt kein adäquates angebot: psychiatrisch kranke, suchtkranke, ehemals wohnungs- bzw. obachlose menschen haben kaum eine chance auf einen platz im alten- bzw. pflegeheim. sie brauchen auch eine andere art des zuhause und der betreuung. leider sind alle angebote für diese zielgruppe nur als übergangs in die integration gedacht, es fehlt an dauerwohnplätzen.

Mer, 11/06/2013 - 22:56 Collegamento permanente