Società | Seniorenwohnheim

Leben mit Corona

“Wir haben viel gesehen, erlebt und gelernt.” Präsidentin und Direktorin des Seniorenheims Bethanien in Meran schildern, wie sie die vergangenen Wochen erlebt haben.
Seniorenheim Bethanien
Foto: Bethanien

“Dieser Bericht aus unserem Seniorenwohnheim soll dazu dienen, dass Menschen sich ein anderes, ein differenziertes Bild vom ‘Leben mit Corona im Seniorenheim’ machen können.” Mit dieser Nachricht wenden sich Susanne Ferstl und Waltraud Brugger an die Öffentlichkeit. Die Präsidentin und die Direktorin des Seniorenheims Bethanien in Meran Obermais schildern, wie sie, Mitarbeiter und Bewohner die vergangenen Wochen und Monate erlebt haben:

Im Dezember 2019 haben wir die ersten Nachrichten zur Coronakrise aus China wahrgenommen und es zog irgendwie an uns vorbei….und plötzlich war er da, der Moment, an dem das Gesellschaftsleben sich veränderte, hier in Südtirol, in Meran, in unserem Heim. Der Moment war da, an dem wir nicht mehr sagen konnten, das ist weit weg, an dem wir das Geschehen nicht mehr kontrollieren konnten und unser seelisches Gleichgewicht von Aussen durch Corona in Unordnung geriet, ja sogar verloren ging.

Wir in Bethanien haben versucht, die gesetzlichen Anforderungen (Gesundheitsministerium – Gesetz/Dekret vom 23.02.2020) einzuhalten und doch das „Normalitätsprinzip“ so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Unsere Tore blieben bis zum 10. März 2020 geöffnet – mit kontrollierten, einzelnen Besuchen, erhöhten Hygienestandards bzw. unter Einhaltung der 10 Verhaltensregeln vom 24.02.2020 (nuovo coronavirus, 10 comportamenti da seguire – Ministero della Salute). Und dann standen wir auch schon mittendrin: Mails, Nachrichten, Empfehlungen, Beratungen – in der Verwaltung wussten wir nicht mehr, wo uns der Kopf steht, was richtig und falsch ist.

Die Zugänge von außen wurden ab 11. März untersagt, inklusive den Vorstandsmitgliedern, Präsidentin und den Mitarbeitern, die Heimarbeit verrichten konnten.

Stillstand – Unsicherheit – und doch: MENSCH SEIN und DA SEIN für die betroffenen Personen, Gespräche führen mit Bewohnern, mit den Mitarbeitern, mit den vielen Anrufen der Angehörigen, täglich sich neu organisieren, Entscheidungen treffen, das war die neue Herausforderung für uns in der Führung und dem hausintern errichteten Krisenstab.

In der Verwaltung wussten wir nicht mehr, wo uns der Kopf steht, was richtig und falsch ist

Wir haben den Bewohnern das Händewaschen geschult, das Husten und Niesen, die Händedesinfektion; wir haben auch mitgeteilt, dass wir nach wie vor versuchen werden, ein „normales, gewohntes Alltagsleben“ weiterzuführen – eben anders. 

 

Das Bewusstsein der Endlichkeit 

 

Während der Quarantäne äußerten die Bewohner den Wunsch, den Garten, das Nebengebäude – sprich unsere Liegehalle – nutzen zu dürfen, eine Art seelischen religiösen Beistand zu haben durch das gemeinsame Gebet und den Gesang. Die Wünschebox, wurde eingerichtet, dort deponieren die Bewohner schriftlich, welche Alltagsgegenstände eingekauft werden sollten. Wir setzen vermehrt auf individuelle soziale Betreuung durch die Tagesgestaltung und die Physiotherapie, das sind Spaziergänge, Gespräche, Vorlesen, Spiele, Diskutierclub… Die Isolation nach außen erschien zu Beginn nicht so tragisch, die Bewohner beteuerten, sich sicher und wohl zu fühlen.

 

Die Atmosphäre wirkte etwas gedämpft, als zeitgleich vier Verdachtsfälle in den Zimmern isoliert wurden, darunter auch positiv getestete Bewohner, und die Mitbewohner beschlich das Unwohlsein, mit der Frage, wer ist der nächste? Bin ich das?

Und doch die Einstellung zum Leben, das Bewusstsein der Endlichkeit und das Sprechen darüber war eine große Hilfestellung. Der Grundtenor, den die meisten in dieser Art äußerten, war: „Ob ich heuer am Virus sterbe oder ein andermal an etwas Anderem, ist mir egal – ich stehe am Lebensende. Ich lebe gerne und das Leben ist endlich.“ Daraus ziehen wir den Schluss, dass die Mehrzahl der Bewohner lieber das erhöhte Risiko in Kauf nehmen, externe Besuche zuzulassen, als die Sicherheit in sozialer Isolation leben zu müssen.

Die Isolation nach außen erschien zu Beginn nicht so tragisch

Besonders herausfordernd war die Situation einer erkrankten Bewohnerin, die in ihrer Vergesslichkeit immer wieder das isolierte Zimmer verließ. Auf die Information, dass wir das Zimmer im 3. Stock sperren müssen, hat sie sehr wütend und auch ängstlich reagiert: „…dann springe ich aus dem Fenster.“ In diesem Fall eine Entscheidung zu treffen, war nicht einfach: was ist der größere Schaden, ein Suizidversuch oder eine Ansteckungsgefahr anderer Mitbewohner? Sobald diese betroffene Bewohnerin genesen den Speisesaal betrat, gab es auch große Freude und Anteilnahme der Mitbewohner.

 

Würde und Freiheit des Individuums

 

Trotz Coronakrise entschieden wir uns mit 1. April 2020 die lang geplante Änderung der Essenszeiten für die Bewohner und Arbeitszeiten der Mitarbeiter umzusetzen sowie das Frühstücks-Büfett einzuführen. Damit wollten wir auch bewusst ablenken, den Fokus auf andere Themen lenken, die es zu diskutieren galt, sehen, was die größeren Freiheiten bei der Einnahme des Frühstücks bewirkten. Für Manchen mag es gewagt erscheinen, aus unserer Sicht ist es sehr gut gelungen, auch unter Einhaltung aller gesetzlichen Auflagen.

Wir haben Mitarbeiter belächelt, die bereits Ende Februar vermummt und mit Handschuhe Auto fuhren und ins Haus kamen und deren Hilflosigkeit und das damals unvorstellbare Ausmaß der Coronakrise erst später erkannt.

 

Wir glauben behaupten zu können, dass das Virus bereits länger bei uns im Hause kursierte; denn wir sahen die beschriebene Symptomatik einiger Bewohner bereits im Dezember 2019, dass es sich um diesen Krankheitserreger handeln könnte. Und uns fiel auf, dass ab Ende Dezember nach und nach auch zahlreiche Mitarbeiter krankheitsbedingt ausfielen, die über dieselben Symptome von sich und ihren Familienangehörigen berichten.

BEISTAND zu leisten, die Grundwerte des Hauses klar und deutlich zu vermitteln und zu leben, die Ängste und Unsicherheiten zu akzeptieren und vor allem aber auch Beistand zu erhalten in Krisenzeiten, das ist ein ganz ganz großes Geschenk, das wir von außen erleben durften und dürfen.

Wir glauben behaupten zu können, dass das Virus bereits länger bei uns im Hause kursierte

Eine große Erkenntnis ist auch, wie energieraubend negative Schlagzeilen, persönliche Angriffe und Beschuldigungen in der Akutphase waren und gleichzeitig das Bewusstsein, dass es nur gemeinsam erarbeitete Lösungen geben kann. 

Wenn zu Beginn die Meldung von einer symptomatischen Bewohnerin bis zum 1. Test nicht weniger als 9 Tage vergingen, so ist es nun ein großer Fortschritt, wenn dieser Weg innerhalb von 24 Stunden stattfindet.

 

Die Heime haben nicht versagt

 

Überrascht nehmen wir Aussagen zur Kenntnis, dass uns ein Maulkorb verordnet wurde, überrascht deshalb, weil wir in der akuten Phase einfach die Vereinbarungen unserer sehr hilfreichen Partner eingehalten haben, nicht mehr und nicht weniger.

Wortlos hingegen machte uns die Schlagzeile „Massensterben im Altersheim“: Ja, wir arbeiten mit Menschen, die am Lebensende angelangt sind und im letzten Lebensabschnitt Begleitung und Dienstleistungen in der Alltagsbewältigung in Anspruch nehmen; ja, unsere Menschen in den Heimen sterben – täglich, monatlich, jährlich – ohne Zeitplan, nämlich dann, wenn der bestimmte Augenblick gekommen ist. Wir kennen zumindest in unserer beruflichen 30-jährigen Tätigkeit niemanden, der übrig geblieben ist – auch wenn er nach Hause entlassen wurde.

Wir haben die Erkenntnis, das Corona Virus bedeutet nicht gleich Tod

„Die Führungen der Heime haben total versagt...“ – diesen Aussagen stehen wir betroffen und hilflos gegenüber: 

- betroffen, weil wir Mitarbeiter erleben, die sehr gerne zu uns arbeiten kommen, und nun in Krisenzeiten sich sogar aktiv anbieten.

- hilflos, weil es scheinbar um beabsichtigte Forderungen geht, ohne Lösungsvorschläge für die Anwerbung junger Menschen für einen Betreuungs- und Pflegeberuf – der, wie wir sehen, einen sehr wichtigen Teil der Gesellschaft darstellt und mit diesen Abwertungen der scheinbar inkompetenten Führungskräfte die Arbeitsplätze sehr unattraktiv erscheinen lässt,

- und noch hilfloser, weil es Ängste schürt in der Gesellschaft, Ängste in Familien und bei Einzelpersonen: HILFE – Altersheim, HILFE – Sterben, HILFE – ansteckend......

 

Wir haben die Erkenntnis, das Corona Virus bedeutet nicht gleich Tod, von unseren vier Verdachtsfällen sind alle genesen.

Nun ist für uns im Seniorenwohnheim Bethanien der Zeitpunkt gekommen, wo wir gestärkt aus der akuten Phase aussteigen und bereit sind, die nächste Phase aktiv zu planen, umzusetzen und anzunehmen, um uns im normalen Alltag, im Leben mit Corona weiter zu entwickeln.

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Walter Waldner Gio, 05/07/2020 - 10:21

... auch ich war sehr berührt von diesem Bericht. Aus eigener Erfahrung und Beobachtung weiß ich, dass in diesem Haus die Würde eines jeden Seniors und einer jeden Seniorin auch dann hochgehalten wird, wenn es ihnen gesundheitlich schlecht geht.
Meine Hochachtung dem Personal und der Führung und ich freue mich, dass es ihnen gelungen ist, auch die vier COVID-19 Infizierten über den "Berg" zu bringen.

Gio, 05/07/2020 - 10:21 Collegamento permanente