Cultura | Salto Afternoon

Sein Menschsein ist Hochstapelei

Morgen jährt sich der Todestag von Peter Oberdörfer. Ein Gastbeitrag zur Figurenkonzeption in seinen Texten von Christine Kofler. Aus dem Buch „Temperaturen der Wahrheit“
Peter Oberdörfer
Foto: Salto.bz

„Man kann sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet
wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“
M. Foucault, Die Ordnung der Dinge.

Es sind Außenseiter, Menschen auf der Suche und prekäre Existenzen, die Peter Oberdörfers Kurzprosa und frühe Erzählungen bevölkern. Meist Männer mittleren Alters, wie Max Remmecker aus Braunschweig, gescheitert in jeder Hinsicht, als Student, Fußballspieler, Unternehmer, Sohn. Oder der Erzähler aus Sonntagmorgen, der von einer „namenlosen Musik“ in seinem Kopf fast in den Wahnsinn getrieben wird. Oder Herr Graupich, der Kunstmaler, Sprachlehrer und Briefeschreiber mit dem minutiös geplanten Tagesablauf aus der Kurzgeschichte Takt, der im Roman Namen oder die Macht des Hintergrunds als Nebenfigur wieder auftaucht. Er erschafft sich selbst ein Gefängnis aus Zeit, um nicht in das als bedrohlich empfundene Chaos der Welt abzugleiten: „Jeden Abend stellt Herr Graupich unerbittlich seinen unerbittlichen Wecker pünktlich auf sieben Uhr ein, ehe er das Lämpchen ausknipst, um in der Dunkelheit dazuliegen, […]. Bis ihn der Wecker pünktlich um sieben Uhr in die grellwache Gegenwart seines steifen, schmerzenden, verknoteten Körpers zurückholt. Dennoch hat es sich Herr Graupich noch niemals in den beinah fünfzig Jahren erlaubt, den Wecker abends nicht pünktlich auf sieben Uhr einzustellen, […].“

Es sind Gestalten, die auf einem schmalen Pfad durch ihr Leben balancieren, doch jeden Moment – so befürchtet man beim Lesen – könnten sie aus dem Gleichgewicht kippen, herausfallen aus ihrer Existenz. Wie etwa der Bankangestellte Theodor Friedrich Kalauer aus der Kurzgeschichte Stoßzeit, von den Nachbarn als unauffällig, freundlich und höflich beschrieben, der plötzlich einen ihn anrempelnden Jungen zu Tode prügelt. Wie kann das passieren?
Was viele Figuren aus Oberdörfers Kurzprosa eint: Sie blicken mit einer irritierenden Distanz auf ihr Leben. Bokelsohn etwa, der Protagonist der gleichnamigen Erzählung, der aufbricht in den Wald, seine Familie zurücklässt, im Moos kauert, Fische fängt, Gedanken durch sich hindurchziehen lässt und – in der Tradition von Thoreaus Walden und Jon Krakauers Into the Wild – alles Gesellschaftliche hinter sich lässt. Diese Entscheidung ist nur konsequent, ist Bokelsohn, wie die Leserin vom Erzähler erfährt, doch nie Teil davon gewesen, nicht der Familie, nicht des Dorfes: „Es ist ihnen [Vater, Mutter, Geschwistern] nichts vorzuwerfen. […] Es ist nur, dass Bokelsohn wenig versteht von den Dingen der Menschen, von den Dingen der Tiere, von der Erde, von Geburt, Tod, Fraß und Verdauung, von Mord und Liebe. Es ist, dass Bokelsohn sich niemals gewöhnt hat, an die wechselnden Zustände seines Magens, die Helligkeit am Tage, die Dunkelheit bei Nacht, an das Oben und Unten, an die Kälte und die Hitze, an die seltsame Fähigkeit zu sprechen.“ Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommt der Erzähler aus dem Roman Namen oder die Macht des Hintergrunds, einer Art Vorstudie zum 2005 erschienenen Roman Gischt. Dort heißt es über Hans, einen der Protagonisten: „Ja, das ist es. Er hat sich niemals daran gewöhnt, ein Mensch zu sein. Und dass er da sitzt, in seiner Küche und auf die Wanduhr blickt und sieht, dass es kurz nach acht Uhr ist und dass er Hans heißt und eine Frau und Kinder hat und eine Geschichte, dann muss er sich eingestehen, dass er mit alledem letztendlich nichts gemeinsam hat. Es ist wie ein Zitat. Er kommt sich vor, wie ein Hochstapler. Sein Menschsein, ist Hochstapelei, denn er begreift die Voraussetzungen dafür nicht.“

Die beiden Zitate skizzieren die Grundzüge der Suche, die viele Figuren aus Oberdörfers frühen Erzählungen und Kurzgeschichten umtreibt. Beide, Bokelsohn und Hans, sind nicht nur fremd unter den Menschen, sie sind sich selbst fremd. Während der eine selbst seinen eigenen Körper objektiviert, ist der andere, Hans, nur ein Schauspieler in seinem eigenen Leben. Dasselbe gilt auch für Charlie, Protagonist der Kurzgeschichte Titanic. Er weiß selbst nicht so recht, warum er auf dem Dach der Scheune steht. Um sich umzubringen? Oder einfach nur so? „Der Junge ist sich selbst das größte Rätsel“ schrieb Peter Oberdörfer in seinen Anmerkungen zu Titanic. Charlie, Bokelsohn, Hans und Theodor blicken mit großer Distanz auf sich; leben ihr Leben aus einer Beobachterposition heraus; sind Fremde ihrer eigenen Existenz. Und so kann jederzeit alles passieren. Auch, dass Theodor Friedrich Kalauer, der geschiedene, höfliche, unauffällige Bankangestellte, einen Jungen totschlägt.

Oberdörfer nimmt sich über die Figurendarstellung einer in den Literaturwissenschaften und in der Philosophie viel diskutierte Frage nach der Identität des Subjekts und dessen Zustandekommen, nach dem Kern des Menschseins, an. Ist die seltsame Entfremdung, die irritierte Zuschauerposition bei Hans und Charlie die Konsequenz aus der Entmündigung des autonomen Subjekts? Sicherlich hinterfragt Oberdörfer mit seinen Figuren die Position des Subjekts in der Gegenwart und lotet das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Heteronomie sowie schwierige Verhältnisse zwischen dem Selbst und der Welt aus. Sein
Interesse daran zeigt sich nicht nur in seinen Prosatexten, sondern auch in seiner Lyrik und ebenso in seinen dramatischen erken. So lässt der Autor im Stück Die Temperatur der Wahrheit die Figuren und die Lebensgefährtinnen des Marquis de Sade, dem großen Zertrümmerer des handlungsfähigen Subjekts, aufeinandertreffen.

Ich kannte Peter Oberdörfer nicht. Und so erschuf ich mir, als ich mich durch seinen Nachlass las, – nur halb bewusst – einen fiktiven Autor. Dabei setzte ich mir meinen Peter Oberdörfer aus der Art und Weise seines literarischen Erzählens und aus der Konzeption seiner literarischen Gestalten zusammen. Wenn Johanna Porcheddu schreibt, dass „der Alleingang Piets ideale Dimension war, nicht nur in der Arbeit“, dann sind zumindest einige seiner Figuren, wer weiß, entfernte Verwandte ihres Schöpfers. Schade nur, dass ich keine Gelegenheit mehr habe, mit ihm darüber zu sprechen.