Società | salto Gespräch

“Wie hätte Luzi entschieden?”

Alexander Nitz erinnert Luzi Lintner, ihren bedingungslosen Einsatz für Ausgegrenzte, ihr Vermächtnis – und die Schattenseite der Rittner “Visionärin und Grenzgängerin”.
Luzi Lintner
Foto: Privat

Es war der 3. Februar 2008. Die Nachricht erschütterte nicht nur Menschen in Bolivien, sondern auch viele hier in Südtirol. Luzia Lintner, die alle nur “Luzi” nannten, ist nicht mehr. Die 56-jährige gebürtige Rittnerin war beim Überqueren eines reissenden Flusses ums Leben gekommen. In ihrer zweiten Heimat Bolivien.

Bereits in den 1970er Jahren begann sie sich in der Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen, engagierte sich später in der Organisation für eine solidarische Welt (oew) und für das Haus der Solidarität in Brixen. Unermüdlich war Luzis Engagement für die Ausgegrenzten, Geächteten, Mittellosen auf der ganzen Welt unterwegs. Irgendwann hat auch Alexander Nitz sie kennen gelernt. Luzi wurde zur Wegbegleiterin und Freundin des heutigen Leiters des Hauses der Solidarität. Jetzt erinnert Nitz ihr Wirken und wie brandaktuell die Werte, für die sich Luzi einsetzte,  zwölf Jahre nach ihrem Tod sind.

salto.bz: Herr Nitz, erinnern Sie sich an den 3. Februar 2008, als Sie vom Tod Luzi Lintners erfahren haben?

Alexander Nitz: Ja, als wär’s erst gestern gewesen. Das erste, was wir hörten, war, dass Luzi verschollen sei. Allmählich erfuhren wir mehr: dass sie in einen reißenden Fluss in ihrer zweiten Heimat San Antonio de Lomerio in Bolivien gestürzt ist, dass sie vorher einem Jugendlichen helfen wollte, sich mit zwei Seilen über den Fluss zu hangeln, dass eines der Seile gerissen ist, der Junge das rettende Ufer erreichte, Luzi von den Wassermassen hinweggerissen wurde. An jenem Tag glaubten wir alle, Luzi wird es schon schaffen. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie im Wasser verschwunden war.

An jenem Tag aber schaffte sie es nicht.

Je länger die Suche dauerte, desto gewisser war es. Am Abend kamen ganz spontan fast hundert Menschen zusammen, Freunde, Wegbegleiter*innen, Verwandte von Luzi. Die Stimmung war gedrückt. Wir saßen zusammen und teilten unsere Trauer. Irgendwann fing aber einer an, eine Anekdoten zu erzählen, der nächste fiel ein und so ging es noch eine ganze Weile. Am Ende gingen wir alle gelassen, ja fröhlich auseinander. Genauso hätte es sich Luzi immer gewünscht. Und so ging es am nächsten Abend auch. Am dritten Tag fand man den toten Körper Luzis.

Luzi war jemand der vorausging, und Menschen nachzog

Sie haben Luzi schon früh kennengelernt. Wie war Ihre erste Begegnung?

Ich war Zivildiener bei der Caritas, wo Luzi arbeitete. Sie kam ins Büro und meinte: “Magst Du mit mir kurz unter die Brücke gehen?”

Unter die Brücke?

Sie meinte die Talferbrücke in Bozen, wo damals mehrere Menschen ohne Obdach lebten. Sie brachte dem einen die Wäsche, die sie zuhause gemeinsam mit ihrer Schwester gewaschen hatte, dem anderen einige Lebensmittel und dem dritten eine warme Jacke. Ich erinnere mich, dass es sehr kalt war. Und ich war erstaunt, dass sie mit den Menschen wie mit sehr guten Freunden umging. Ich hatte vorher noch nie mit einem Obdachlosen gesprochen. Und plötzlich sah ich nicht mehr den “Sandler”, sondern Jörg, Elmar, Nico.

 

Immer wieder war Luzi in Ländern des Südens unterwegs, wohin Sie sie auch begleitet haben. Was haben Sie davon mitgenommen?

Ich war mit ihr in Peru. Sie hat sich dort genauso daheim gefühlt wie hier in Südtirol. Und auch dort scharrten sich innerhalb kurzer Zeit die Menschen in Notlagen um sie. Aber auch Menschen, die sie begeisterte, und die dann gemeinsam ihr Werk fortsetzten.

Was hat Sie an dieser Frau beeindruckt?

Luzi hatte einen extrem ausgebildeten Wunsch, Menschen in schwierigen Lebenslagen ein Stück weiterzuhelfen. Für dieses Ziel tat sie alles und ließ sich von nichts und niemanden aufhalten: von den eigenen zeitlichen und finanziellen Grenzen ebenso wenig, wie von der öffentlichen Meinung, von rechtlichen Anforderungen genauso wenig wie von politischen Anfeindungen. Sie verstand es, Menschen zu begeistern und mitzureißen, freilich auch zu überfordern. Sie hat Menschen am Rande der Gesellschaft genauso behandelt wie jene, die im Mittelpunkt standen.

Die Anzahl jener Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht mehr mitkommen, steigt ständig. Schauen wir aber tiefer, so nehme ich immer mehr junge Menschen wahr, die da nicht mehr mitmachen

Gab es auch Seiten an ihr, die Ihnen weniger gefallen haben?

Es war nicht immer ganz einfach mit ihr: Sie hatte einen harten Kopf.

Wie hat sich das gezeigt?

Gingen Entscheidungen nicht so, wie sie es gerne gehabt hätte, versuchte sie diese wieder und wieder in ihre Richtung zu wenden. Und die Standards, die sie an sich ansetzte, setzte sich auch bei anderen an. Das führte immer wieder zu Überforderungen, enttäuschten Erwartungen, Demotivation. Ich würde sagen, Luzi war jemand der vorausging, und Menschen nachzog. Aber sie hat sich manchmal zu wenig umgedreht und auf ihre Mitstreiter*innen gewartet. Und sie hat auf jedem Fall zu wenig auf sich geschaut. Letztlich hat sie Raubbau mit sich selbst betrieben. Ihr kurzes Leben ist dem geschuldet.

 

Sie sind seit Anfang der 2000er Jahre im Haus der Solidarität in Milland bei Brixen tätigt. Auch dort war Luzi Lintner immer wieder anzufinden.

Bei der Gründung war Luzis Rolle nicht zentral. Sobald das HdS aber seine Tore geöffnet hatte, hat Luzi entscheidend mitgewirkt. Sie war es, die die Wohngemeinschaft bunt gemacht hat.

Obdachlose, Mittellose, Heimatlose – Luzi hat sich um Menschen gekümmert, die vieles, manchmal alles verloren hatten. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie Sie bei Ihrer Arbeit vermutlich selbst erfahren. Warum fällt Solidarität so schwer?

Vielleicht hat es damit zu tun, dass es in heutigen Zeiten nicht so in ist. Die Vorbilder sind jene, die es geschafft haben: Sportler*innen, Künstler*innen, Politiker*innen, Manager*innen. Vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass Armut unangenehm ist.

Man schaut lieber nicht hin?

Einen Bettler auf der Straße in die Augen blicken und ihm ein Lächeln zu schenken, ist schwerer, als an ihm vorbeizugehen ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Aber er schafft es, unser Gewissen zu regen. Und immer mehr Menschen haben das Gefühl: Der Grat zwischen jenen, die abgerutscht sind, und ihnen ist ein sehr schmaler. Es braucht nicht viel, dass es auch uns treffen könnte.

Ich war erstaunt, dass sie mit den Menschen unter der Brücke wie mit sehr guten Freunden umging

Wer sind heute die Menschen am Rande der Gesellschaft, die mit dem Haus der Solidarität einen Platz haben, den sie anderswo nicht finden?

Vor allem sind es immer mehr: Suchtkranke, Haftentlassene, Kranke, Analphabeten, Alleinerziehende, ältere Menschen, … – mit oder ohne Migrationshintergrund. Es sind Menschen, die zwar Arbeit haben, aber kein leistbares Zimmer finden. Es sind Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Menschen, die die Geschwindigkeit unserer Gesellschaft ausbremst.

Hass, Ausgrenzung, Gleichgültigkeit erfahren viele dieser Menschen nach wie vor. Was kann das Leben und Wirken von Luzi lehren, um sich dem entgegenzustellen?

In dem Moment, in dem wir mit dem Häftling, dem Süchtigen, dem Flüchtling reden, steht plötzlich ein Mensch vor uns. Die Zuschreibungen rücken in den Hintergrund. Vor diesem Hintergrund empfinde ich Einrichtungen wie das HdS immer weniger als Notunterkünfte und immer mehr als Stätten der Begegnung.

 

Wenn Sie die Gelegenheit dazu hätten – wie würden Sie Luzi die heutige Welt erzählen?

Auf den ersten Blick scheint sich Vieles verschlimmert zu haben: Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Mehr und mehr Menschen versuchen, bei uns ein neues Leben zu starten. Die Anzahl jener Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht mehr mitkommen, steigt ständig.

Gibt es neben diesen negativen Entwicklungen Grund, optimistisch zu sein?

Ja. Schauen wir tiefer, so nehme ich immer mehr junge Menschen wahr, die da nicht mehr mitmachen, Menschen, die ein nachhaltiges Leben führen wollen, Betriebe, die enkeltauglich entscheiden. Das gibt Hoffnung – Hoffnung, die auch Luzi immer und überall versprühte.

Was machte Luzi  zu einer “Visionärin und Grenzgängerin”, als die sie bis heute erinnert wird?

Ihr bedingungsloser Einsatz für Ausgegrenzte, Arme, Außenseiter*innen. Und ihre unvoreingenommene, vorurteilsfreie Art, auf Menschen zuzugehen.

Einen Bettler auf der Straße in die Augen blicken und ihm ein Lächeln zu schenken, ist schwerer, als an ihm vorbeizugehen ohne ihn eines Blickes zu würdigen

Welches Erbe hat sie hinterlassen, welche Botschaft?

Es gibt immer noch viele Menschen, die Luzi sehr verehren. In vielen Menschen hat sie Spuren hinterlassen. Diese setzten sich heute in ihrem Sinne für Menschen ein, denen es nicht so gut geht, wie uns.

Das hört sich ein bisschen nach einer Heiligen an?

Luzi war keine Heilige, aber ein Stern, der noch heute, zwölf Jahre nach ihrem Tod, leuchtet.

Und Sie sorgen mit dafür, dass dieser Stern nicht verglüht?

Jahr für Jahr gedenken wir ihrer in einer Messe. Bei Schulbesuchen und Begegnungen mit Gruppen erinnern wir an sie und erzählen von ihr. Und in schwierigen Situationen fragen wir uns: Wie hätte Luzi entschieden? So ist sie doch immer wieder in unserem Alltag präsent.