Società | Resilienz

"Schweigen wurde zur Schutzfunktion"

Sabine Tiefenthaler schreibt ihre Doktorarbeit über die Resilienz geflüchteter Frauen in italienischen Erstaufnahmezentren.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
Sabine Tiefenthaler
Foto: Sabine Tiefenthaler

Sabine Tiefenthaler promoviert an der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Bozen und verfasst ihre Arbeit zum Thema Resilienz geflüchteter Frauen. Im Zuge des partizipativen Teils der Doktorarbeit, in Zusammenarbeit mit der Fotografin und Produzentin Gemma Lynch, ist das Fotoprojekt „Immigrant Sisterhood“ entstanden, das derzeit im Frauenmuseum in Meran ausgestellt wird. 

Frau Tiefenthaler, welches Thema haben sie in Ihrer Abschlussarbeit erforscht?

Sabine Tiefenthaler: In meiner Doktorarbeit geht es um die Resilienz von geflüchteten Frauen in Erstaufnahmezentren in Italien. Für die Beantwortung meiner Forschungsfrage, habe ich einen ethnographischen, partizipativen Zugang gewählt. Ich habe mit der teilnehmenden Beobachtung begonnen und anhand der partizipativen Methode „PhotoVoice“ die Frauen in die Wissensproduktion miteinbezogen. Aus dem partizipativen Teil der Arbeit ist das Fotoprojekt entstanden.

Wie konnten die Frauen in die Forschung miteingebunden werden?

Das Fotoprojekt hat in einem Erstaufnahmezentrum für Frauen in Sardinien begonnen. Die Frauen lebten gemeinsam in einem Apartment und haben eine eigene Forschungsfrage formuliert, Fotos über selbstgewählte Motive gemacht und anhand der Fotos Einblicke in ihr Leben und die spezifische Situation gegeben. Bei dem Projekt, das im Zeitraum eines Jahres abgewickelt wurde, waren nicht stets alle Frauen beteiligt, da einige das Zentrum verlassen haben bzw. andere dazugekommen sind. Bei der Ausstellung ist die Dokumentation von vier Frauen zu sehen.

Ohne Zugang zum Feld ist Forschung unmöglich.

Sie haben die Feldforschung auf Sardinien durchgeführt. Warum Sardinien?

Es ist sehr schwierig, Zugang zum Feld zu bekommen und ohne Zugang ist Forschung unmöglich. Die meisten Institutionen wollen nicht, dass in den eigenen Zentren geforscht wird. Vielfach geht es um die Angst, dass Informationen nach außen getragen werden oder Forschung auf nicht optimale Aspekte aufmerksam machen könnte. Nach vielen Absagen hat mir schlussendlich ein Bekannter auf Sardinien Zugang zum Feld ermöglicht. Sardinien ist vor allem aufgrund der geographischen Lage und der wirtschaftlichen Situation eine typische Transitregion, was großen Einfluss auf die Resilienz der Frauen hat, bis dato aber kaum erforscht wurde.

 

 

Was sind wichtige Erkenntnisse Ihrer Doktorarbeit?

Bei der Analyse des gesamten Materials hat sich manifestiert, wie wichtig soziale und informelle Netzwerke für die Frauen sind und wie wenig eigentlich das politische System dazu beiträgt Resilienz zu fördern und hingegen Vulnerabilität produziert. Soziales Kapital verschafft den Frauen Informationen über Italien bzw. das Asylverfahren und verhilft ihnen zu kulturellem Kapital, das in den Zentren nur begrenzt ermöglicht wird. Außerdem ist es für geflüchtete Frauen sehr schwer, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Einige Frauen haben es, dank einer guten Vernetzung, geschafft, an informelle Jobs, zum Beispiel Haare flechten, zu kommen und dadurch soziales in ökonomisches Kapital umzuwandeln.

Viele Frauen wurden zum Beispiel auf der Straße als Prosituierte angesprochen, weil sie schwarz sind. 

Konnten durch das Fotoprojekt zusätzliche Einblicke gewonnen werden?

Das Fotoprojekt hat vor allem gezeigt, wie auf intersektionale Diskriminierung reagiert wird. Dabei gibt es verschiedene Strategien. Interessant war, dass vor allem die Nicht-Aktionen, also das Nicht-Handeln, Ignorieren und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sehr hilfreich waren. Auch innerhalb der Zentren wurde wenig über Gewalterfahrungen gesprochen, weil kein geeigneter Raum zur Verfügung stand. Das Schweigen wurde demnach auch zur Schutzfunktion. Viele Frauen wurden zum Beispiel auf der Straße als Prostituierte angesprochen, weil sie schwarz sind (Anmerkung: Das Wort „schwarz“ wurde von den Forschungsteilnehmerinnen als Selbstbeschreibung gewählt, um auf die gemeinsame Betroffenheit von rassistischer Diskriminierung hinzuweisen und wird daher in diesem Kontext verwendet.). Daraufhin haben viele beschlossen, als Gruppe rauszugehen, um Belästigungen und Übergriffe zu vermeiden oder die Sprache zu lernen, um sich zu wehren.

 

 

Wie schätzen Sie die Benachteiligung auf Grund des Geschlechts ein?

Das Geschlecht, die Hautfarbe und der soziale Status überschneiden sich, machen Rassismus und Diskriminierung stärker spürbar und sind als intersektional zu betrachten. Frauen werden in den Hintergrund gedrängt und erfahren auch im Zentrum Benachteiligung. Auch medial werden geflüchtete Frauen oft als Stereotyp der armen und Hilfe brauchenden Frau, die sich in einer völligen Opferrolle befindet, dargestellt. Mit diesem Projekt haben wir versucht Stereotype aufzubrechen und eine Plattform zu schaffen, um der Mehrschichtigkeit und Komplexität der Erfahrungen Platz einzuräumen, ohne Gewalterfahrungen dabei zu banalisieren.

Das Geschlecht, die Hautfarbe und der soziale Status überschneiden sich, machen Rassismus und Diskriminierung stärker spürbar.

Was nehmen Sie persönlich mit?

Die prekären Bedingungen in europäischen Aufnahmezentren haben mich schockiert. Die Frauen, die trotz schwieriger Lebensbedingungen, die Kraft und Hoffnung finden weiterzumachen, sich einzusetzen und Widerstand zu leisten, sind beeindruckend, wobei auch das Sich-Zurückziehen und Schweigen genauso als Widerstand zu betrachten ist. Mit dem Fotoprojekt wollen wir einen Beitrag dazu leisten den Frauen einen Raum geben, ihre Stimme zu zeigen.