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Gespenstisches Italien

In der Reihe "Wiedergelesen": Eric Amblers abenteuerliche Geschichte einer Flucht durch ein gespenstisch anmutendes Oberitalien erscheint heute wieder merkwürdig aktuell.
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Foto: Cause for Alarm

In Mailand gestrandet: Dieses Szenario schildert Eric Ambler in seinem Roman Anlass zur Unruhe. Und wie von dort wegkommen, wo alle Straßen, Bahnhöfe und öffentlichen Plätze überwacht und Denunziationen an der Tagesordnung sind? Die Grenzen nach Frankreich, zur Schweiz und nach Österreich sind hermetisch dicht. Doch ein Schlupfloch bleibt … 

„Positano geht unter die Haut. Es wirkt nicht real, wenn du dort bist, und es wird verlockend real, wenn du gegangen bist.“ So beschrieb John Steinbeck den Ort, an dem er bevorzugt seine Urlaube verbrachte. Dort hätte er Schriftstellerkollegen wie Tennessee Williams, Jean Cocteau und Alberto Moravia treffen können oder traf sie sogar. Und auch Patricia Highsmith: Die Autorin der Ripley-Pentalogie schuf in ‚Mongibello‘, wie es bei ihr hieß, den ersten von fünf Thrillern um ihren psychopathischen Antihelden. Pablo Picasso, Paul Klee und M. C. Escher ließen sich ebenfalls an der Amalfiküste künstlerisch inspirieren und trugen dazu bei, dass Positano bei Italophilen zum Synonym für ‚pittoresk‘ wurde. 
Schon lange vorher zog das idyllische Fischerdorf, das es womöglich nie gewesen ist, Reisende aus ganz Europa an. Einer davon war Eric Ambler. Drei unbeschwerte Sommermonate verbrachte der künftige Bestsellerautor, noch in seinem ursprünglichen Beruf bei einer Londoner Werbeagentur angestellt, im Ferienhaus seines Ex-Kollegen John French, der sich mittlerweile als Maler versuchte. Die Zeit in Positano könnte als gewöhnlicher Italienurlaub mit Fischerromantik und Strandfaulenzen abgehakt werden, hätten sich Ambler und French nicht zu einem Abstecher nach Rom entschlossen. In der Hauptstadt absolvierten sie zunächst das übliche Touristenprogramm, bevor sie am Vittoriano eine Ausstellung besuchen.

Ingenieur Nicholas Marlow, fädelt im Auftrag einer Waffenschmiede aus dem englischen Wolverhampton in Mailand einen Deal ein, der völlig aus dem Ruder läuft.

Im Museum gegenüber dem Denkmal für König Viktor Emmanuel gedachte die faschistische Bewegung ihrer frühen Märtyrer, „allesamt ehemalige Abgeordnete des italienischen Parlaments“, erinnert sich Ambler in seiner Autobiografie, „und sie waren in den Posen festgehalten worden, die sie in dem Augenblick einnahmen, als sie von kommunistischen Attentätern erschossen oder erstochen wurden.“ Mit Giacomo Matteotti sei freilich auch ein sozialistischer Abgeordneter ermordet worden, mokierte sich Ambler halblaut angesichts der kitschigen Opferfolklore. Dies hätten, fügte er zu French gewandt hinzu, die Faschisten, auf deren Konto die Tat gegangen war, bewusst verschwiegen. Einer der Schwarzhemden, die am Schrein der Märtyrer eine Ehrenwache stellten, hatte wohl mitgehört. Abrupt löste er sich aus der Habachtpose: „Er zischte jetzt einen unverständlichen Befehl und versetzte, wie zum Nachdruck, dem Kolben seines Gewehrs einen Schlag.“ Dann legte er mit entsichertem Karabiner auf Ambler an.
Ambler und French gaben Fersengeld und entgingen nur knapp einer Verhaftung. Wie bei Thomas Mann, dem der Auftritt eines mussolinibegeisterten Magiers den Urlaub im Badeort Forte dei Marmi vergällt hatte, hinterließ die geschilderte Begegnung bei Ambler einen nachhaltigen Eindruck, und wie Mann mit Mario und der Zauberer brauchte auch Ambler einige Jahre, um das Erlebte literarisch zu verarbeiten.
Das Ergebnis war der Roman Anlass zur Unruhe.* Sein Ich-Erzähler, der Ingenieur Nicholas Marlow, fädelt im Auftrag einer Waffenschmiede aus dem englischen Wolverhampton in Mailand einen Deal ein, der völlig aus dem Ruder läuft. Ein deutscher Agent will mitmischen, gegen die italienischen Belange, und Marlow verstrickt sich, indem er alle Interessen zu bedienen versucht, in Korruption und Ränke. Schließlich soll er wegen Spionage verhaftet werden. Mit Hilfe eines sowjetischen Agenten kann er entkommen. Die folgende Flucht durch die Lombardei, Venetien und das Friaul hin zur jugoslawischen (heute: slowenischen) Grenze nimmt mehr als ein Drittel des Buchs ein. Ihre Schilderung gerät Ambler zur meisterhaften Beschreibung des Alltags im totalitären Italien.
Schon bei der Ankunft in Italien erscheint Mailand als düstere, beklemmende Stadt. Der Duce ist omnipräsent, sein Porträt prangt in allen öffentlichen Gebäuden. Schwarzhemden paradieren, die Giovinezza, die Hymne der Faschisten, plärrt von den Plätzen, und die OVRA, Organisation zur Überwachung und Bekämpfung des Antifaschismus, hat ihre Fühler bis in Marlows Mailänder Büro ausgestreckt; sein Assistent Bellinetti gehört dieser italienischen Gestapo an. Es dauert lange, bis der Gast seine Umgebung in einem anderen Licht sehen darf. Zum ersten Mal halbwegs wohl in Italien fühlt sich Marlow, als sich sein Mailandaufenthalt bereits zu Ende neigt. Er macht einen Ausflug an den Comer See, dessen Silhouette der Amalfiküste an Schönheit kaum nachsteht, und hat endlich Muße für die Annehmlichkeiten des Landes. Doch die Positanoromantik währt nur kurz: „Ich würde schon nächste Woche nach Hause fahren“, bekennt Marlow noch in Como, „hinaus aus dieser elenden Atmosphäre von Betrug, Intrige und Gewalt.“
Hätte er nur! So verstrickt sich Marlow weiter ins ungewollte Abenteuer, bis die OVRA ihn hochnimmt. Nur dank seines Büronachbarn Zahleshoff, einem russischen Kommunisten, der ebenfalls bei den Waffengeschäften seine Hände im Spiel hat, kann er in letzter Minute entkommen. Como, Verona, Vicenza, Udine sind die Stationen der Flucht; allesamt pittoreske Adressen, die viel Raum in Italienreiseführern einnehmen. Ambler erwähnt sie nur am Rand. Viele seiner Leser werden dort gewesen sein. Ob sie sich außer an die Sehenswürdigkeiten auch an die Widrigkeiten des Faschismus erinnern? Marlow und Zahleshoff, der ihn begleitet, haben nur Blicke für Stiefel und Uniformen, denn diese bedeuten Gefahr. Aus der Perspektive der von der Staatsgewalt Gehetzten gewinnt Amblers Publikum den Eindruck, sich in einem Überwachungsstaat zu bewegen.

Ambler nimmt die stereotype Haltung der westlichen Staaten und ihrer Bewohner gegenüber Faschisten wie Hitler und Mussolini aufs Korn.

Auf den Bahnhöfen wimmelt es von Polizisten und Milizionären, Aktivisten in schwarzen Hemden und Schnüfflern in Zivil. Denunziationen drohen auch von Bahnpersonal, Buffetbetreibern oder misstrauischen Besitzern der Cafés, in denen sich Marlow und Zahleshoff die Nächte um die Ohren schlagen. In Brescia rettet sie ein barmherziger Kommunist, der klandestin leben muss, in Verona entgehen sie nur knapp einer Razzia. Von Udine aus wären es zwanzig Kilometer bis ins slowenische Nova Gorica, doch ist die Grenze zu scharf bewacht. Statt dessen geht es weiter nach Norden, über Gemona, Venzone, Pontebba nach Tarvisio. Die Stadt liegt gleich weit entfernt von der österreichischen wie von der jugoslawischen Grenze. Da die Bahnlinie nur nach Österreich weiterführt, wäre der Ausstieg an irgendeinem Bahnhof entlang der Strecke und ein anschließender Übertritt per pedes nach Jugoslawien die unverdächtigere Alternative.
In Tarvisio-Boscoverde verlassen Marlow und Zahleshoff den Zug. Sie haben keine zehn Kilometer Fußmarsch mehr vor sich, verirren sich aber, mitten im Mai, in einem Schneetreiben in den Bergen. Diesmal werden sie nicht denunziert, sondern gerettet, von einem Bologneser Universitätsprofessor, der mit Berufsverbot belegt wurde und gemeinsam mit seiner erwachsenen Tochter in Fusine (slowenisch: Bela Peč), dem letzten Dorf vor der Grenze, in einer Art innerer Emigration lebt. Nachdem der Sturm abgeebbt ist und die Flüchtenden eine Nacht im Haus des Professors verbracht haben, führt die Tochter sie auf einem Schleichweg bis in die Nähe des slowenischen Rateče.
Über Zagreb und Belgrad reist Marlow nach London aus. Die letzte Szene des im Frühjahr 1938 fertiggestellten Romans ist Amblers politischen Absichten geschuldet. Er lässt Marlow ein letztes Mal nach Wolverhampton reisen. Auf der Rückfahrt im Zug eröffnet ihm ein unbekannter Herr, er sei „unterwegs nach Italien. Ferienreise.“ Voll des Lobes fügt er hinzu: „Der ideale Ferienaufenthalt, dieses Italien. Jetzt, wo Mussolini hinterher ist, laufen die Züge beinahe so gut wie unsere.“ Ambler nimmt die stereotype Haltung der westlichen Staaten und ihrer Bewohner gegenüber Faschisten wie Hitler und Mussolini aufs Korn. Tenor solcher Beschwichtigungen: So schlimm ist es dort nun wieder auch nicht, die totalitären Regime haben auch ihre guten Seiten. Zahleshoff kritisiert im Roman genau diese Einstellung: „Wir flüchten in die Lüge. Wir machen uns nicht mal die Mühe, gut zu lügen. Wenn man etwas nur oft genug sagt und es glauben will, dann muß es ja wahr sein.“
Wie um Ambler zu bestätigen, endete zeitgleich mit dem Erscheinen des Romans im Herbst die Münchner Konferenz, auf der die Tschechoslowakei, eine der fortschrittlichsten Demokratien in Europa, den Interessen der Großmächte geopfert wurde. Zuvor bereits hatte sich in Spanien, dank auch der massiven militärischen Intervention Italiens, der Sieg der Aufständischen unter dem faschistischen General Franco gegen die gewählte – und von Frankreich und Großbritannien im Stich gelassene – demokratische Regierung abgezeichnet.
Anlass zur Unruhe sollte sein Publikum aufrütteln. Wie weit würde der Vormarsch der Faschisten noch gehen? Und wann die Westmächte endlich eingreifen, statt Mussolini und Hitler immer wieder nur gewähren zu lassen und sogar zu hofieren? Fragen, hoffte der Autor, welche sich auch die Leser stellen würden. Ambler fühlte sich gar bemüßigt, einen Epilog anzuschließen. Es ist ein fiktiver Zeitungsbericht über Marlows eingefädelten Waffendeal, der zu einer Verstimmung zwischen Deutschland und Italien führt: In der Folge verpflichten sich die Gegner Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten endlich zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Achsenmächte. Es blieb beim Wunschdenken. Nach dem Münchner Verrat war zunächst, in den Worten Premierminister Chamberlains, „peace for our time“ angesagt – ein Trugschluss, wie sich nur elf Monate später herausstellte.
Ambler gab sich zuvor bereits keinerlei Illusionen hin, sein Buch könne einflussreiche Kreise aufwecken oder gar zu einem Umdenken bei den bislang zögerlich agierenden westlichen Staatschefs führen: „Kaum ein vernünftiger Mensch, und nur eine kleine Schar törichter Politiker glaubte, daß sich der Weltkrieg auf unbestimmte Zeit verschieben ließe.“ Immerhin war Ambler mit seinem Roman eine treffende Schilderung des faschistischen Alltags gelungen; einem Alltag, dem sich kein freiheitsliebender und an den aufrechten Gang gewöhnter Zeitgenosse ausliefern möchte, selbst wenn allem Anschein nach überall Frieden herrscht. Nicht nur in der aktuellen Krise bewahrt Amblers Zeitdokument von 1938 seine Gültigkeit.