Società | Jerusalem-Reportage

Grabeslärm

Das Grab Jesu ist Heiligtum und Zankapfel der Konfessionen, mitten in Jerusalem: Jetzt wird es renoviert.
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Eine steinalte Mönchs-WG: Die Grabeskirche in Jerusalemimg_6734.jpg
Foto: pepe egger

Zuerst erschienen im Tagesspiegel.

Jesus würde sich im Grab umdrehen, hörte er all das Gehämmere, Gebohre und Geflexe, mit dem seine letzte Ruhestätte derzeit restauriert wird: Vor dem Grab Christi, einem Kabuff, nicht größer als zwei Telefonzellen, in der Grabeskirche in Jerusalem, steht ein Baugerüst; an der grau-farblosen Steinbrüstung hängen gelbe Schutzhelme. In den Kerzenduft mischen sich Baustaub und Mörteldunst, und eine Hebebühne fährt die Archäologinnen und Arbeiter hinauf und herunter. Darunter stehen die Pilger Schlange.

Die Restaurierung und Instandsetzung der baufälligen Ädikula, wie die kleine Kapelle um das Grab Jesu herum heißt, ist ein ziemlich delikates Bauprojekt: Nicht nur weil das zerfallende Mauerwerk stabilisiert werden muss, nicht nur weil unter dem Grab ein Abwassersystem eingebaut wird, und die Steinplatten an den Seitenwänden mit Titanankern neu befestigt. Und nicht nur wegen des mutmaßlichen einstigen Kurzzeitnutzers des Grabes. Sondern, vor allem anderen: Weil die Grabeskirche seit Jahrhunderten der Zankapfel der sechs christlichen Mönchsgemeinden ist, die sie gemeinsam zur Ausübung ihres Glaubens nutzen, bewohnen, beanspruchen und manchmal umkämpfen.

Man mag es ihnen nachsehen, schließlich befindet sich selbst noch der Nabel der Welt hier, der Legende nach, nur ein paar Schritte vom Grab Jesu entfernt.

Pater Athanasius, Franziskaner, Texaner aus Austin, seit 27 Jahren in Jerusalem, macht erstmal die Hitze zu schaffen. Oder vielleicht sind es nur die Kleidungsvorschriften der Franziskaner, deren braune Kutte keine Sommerausführung zu kennen scheint. Zur Ordensmontur trägt er einen Cowboyhut, um sich vor der Sonne zu schützen. Dazu schnauft er, korpulent und mit gerötetem Gesicht, und schreitet langsam durch die dunkle Kirche.

„Die Griechen“, sagt Athanasius, hätten sich mit „den Armeniern“ darüber in die Haare gekriegt, wer die Kerzenreste am Fuße der Ädikula zu beseitigen habe. „Die Griechen“, das heißt: Die Mönche der griechisch-orthodoxen Gemeinde, die zusammen mit den armenisch-orthodoxen und katholischen Popen und Mönchen hier in der Grabeskirche den Ton angeben.

Das gilt auch für die Restaurierung des Grabes Christi: Ein Team der Universität Athen, geleitet von einer griechischen Wissenschaftlerin, Antonio Moropoulou, führt auf Einladung des griechisch-orthodoxen Patriarchen von Jerusalem die Arbeiten aus. „Griechen“ also, argwöhnisch beäugt von den anderen Gemeinden, selbst wenn die sämtlich dem Projekt zu gestimmt haben, und allesamt durch ihren jeweiligen Vertreter im gemeinsamen technischen Komitee den Fortgang begleitet. So als ob man genau darauf achten müsse, dass nicht unter der Hand der Archäologen und Bauarbeiter ein Machtzuwachs einer Gruppe zu Lasten der anderen erwachse.

Es ist, für alle, die daran glauben, der heiligste Ort des Christentums: Jesu Kreuzigung, Begräbnis und Auferstehung sollen allesamt sich hier an diesem Ort ereignet haben. Weswegen sie hier Schlange stehen: Die Pilgerinnen und Pilger, Touristinnen und Touristen, die Wallfahrerinnen und Wallfahrer, die, die religiös verzückt und halb entrückt sind, und die, die das bloß mal gesehen haben wollten, sie stehen an, fotografieren, bekreuzigen sich unentwegt. Dann, wenn sie endlich dran sind, zwängen sie sich hinein ins Grab, bücken sich, um unter der kinderkopfhohen Pforte durch zu schlüpfen, ein griechisch-orthodoxer Pope winkt Kleinstgruppen von drei bis vier Leuten durch, denn in der riesigen Kirche, unter der himmelhohen Rotunde, steht man am Ende dann doch in der allerkleinsten Kammer, von Kerzen erleuchtet, und sieht: Nichts. Eine Marmorplatte, weich und speckig von all den Mündern, die sie geküsst, und den Händen, die sie berührt haben, ihre Rosenkränze, Kerzen, Stofftiere daran gerieben, um etwas von hier mitzunehmen, bis der Pope anzeigt, dass die nächsten dran sind, er schützt den Kopf beim Wiederauftauchen unter dem Einschlupf, da fasst einer der Pilger seine Hand und küsst sie, als gehöre der Pope zum Inventar des Heiligen dazu, als wäre er eins geworden mit diesen Steinen, diesen Mauern, dieser Kirche.

Ein Ort des höchst Heiligen, und trotzdem, oder gerade deswegen ein Ort der fast sprichwörtlichen Rivalität zwischen den christlichen Konfessionen, der sporadischen Rangel- und Prügeleien zwischen Ordensmännern und Priestern, wenn einer in den Bereich des anderen hineinzelebriert, die falsche Säule putzt, die falsche Stufe kehrt. Auch dass der Schlüssel für die Grabeskirche seit Jahrhunderten von zwei muslimischen Jerusalemer Familien aufbewahrt wird, rührt aus dem Argwohn und Zank unter den christlichen Brüdern her.

Pater Athanasius verdankt seinen Arbeitsplatz genau dieser Rivalität: Er ist als Vertreter der Katholiken dafür zuständig, die Beziehungen zu den anderen Konfessionen in der Grabeskirche zu unterhalten.

Alles hier, jedes Gebet, jede Prozession, jede Säule und jeder Putzplan ist genau geregelt und aufgeteilt, und folgt dem „Status quo“, so wie er seit 160 Jahren besteht: Damals, im Jahr 1852, dekretierte der türkische Sultan Osman III., weil die dauernden Zwiste unter den christlichen Konfessionen um die Vorherrschaft in der Grabeskirche ständig zu Konflikten führten, dass von nun an keine Veränderungen mehr in der Nutzung und Aufteilung der Grabeskirche vorzunehmen seien: Alles hat seitdem zu bleiben, wie es ist.

Daran hält man sich hier, bis heute, und so lebt man miteinander, nach einem Dekret eines muslimischen Herrschers, der sich auf die Scharia stützte, um den sich zankenden Christen Einhalt zu gebieten.

Das ist in ruhigen Zeiten kein großes Ding: Man guckt einfach, wie etwas im Jahr 1852 gehandhabt wurde, und hält sich dran. Wenn aber Neuerungen notwendig werden, wenn gar Veränderungen passieren sollen, dann wird das Ganze kompliziert. Derzeit, seit im Juni die Renovierung der Ädikula begonnen hat, ist es ein Vollzeitjob.

Zum Beispiel heißt es in dem Abkommen, die religiösen Zeremonien, die Messen, Prozessionen, Beweihräucherungen und Betstunden dürften von den Renovierungsarbeiten nicht beeinträchtigt werden; dies ist nun aber notwendig geworden, wenn es auch erst „die Griechen“ und „die Armenier“ betrifft. „Aber es hätte verhandelt werden müssen!“, findet Pater Athanasius.

Und: „Wir hätten die archäologische Aspekt der Arbeiten diskutieren sollen. Derzeit haben wir eine Übereinkunft, die besagt, dass die drei Gemeinden zustimmen, dass diese Arbeiten stattfinden, und wer sie ausführt. Aber es gibt keinen detaillierten Arbeitsplan, was wie und wann gemacht wird.“

Pater Athanasius erzählt, dass bereits einmal, nach einer Übereinkunft der verschiedenen Konfessionen, umfangreiche Renovierungsarbeiten vorgenommen worden sind: 1979 bekam die Grabeskirche eine neue Kuppel, und neue Säulen in der Rotunde rund um Jesu Grab. Zwar hat es damals mehrere Jahrzehnte gedauert, nach dem Erdbeben 1929, bis man sich zusammengerauft hat, aber am Ende hat man es hingekriegt.

Dieses Mal aber berühren die Arbeiten das „Herz des Schreins“, „den Ort, an dem jeder begehrt zu sein“, wie es Athanasius nennt.

Im Grunde wird, in dieser Kirche in Jerusalem, nicht weniger als die Möglichkeit ausgelotet, wie die Menschen koexistieren könnten, wenn jeder überzeugt ist, Gott und der Wahrheit noch ein Stück weit näher zu sein als seine Brüder und Nachbarn.

Einer der Kirchenfürsten, die hier die Vorherrschaft beanspruchen, ist der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem Theophilus III. Seine Seligkeit, so der Titel des Patriarchen, empfängt im „Patriarchat“, er ist Grieche, aber mehr noch „Grieche“ im Jerusalemer Sinn. Ein Kirchenfürst, der den längsten und ehrwürdigsten weißen Bart trägt; um ihn herum eine kleine Schar von schwarz gekleideten Popen, sein Stab, sein Hof, der Anliegen vorträgt, Entscheidungen einholt, und seine Hand küsst, bei jedem Kaffee, der serviert und jedem Papier, das überreicht wird.

Theophilus vereint in seiner Person die unverrückbare Gewissheit des Glaubens, nicht Ethik, Moral oder Spekulation, sondern Offenbarung einer tieferen Wahrheit, einer wirklicheren Wirklichkeit. Und die Rhetorik des Zusammenlebens, des einander Aushaltens in der Verschiedenheit. Jerusalem gehöre allen, sagt Theophilus, allen Völkern, allen Religionen, und meint doch bloß die drei monotheistischen Religionen des Buches.

„Es war an der Zeit“, sagt er, „die Renovierung anzugehen. Und wir haben es geschafft, wir als drei Gemeinden, die die Hüter und Diener der heiligen Stätten sind, einen Konsens zu finden, die Renovierung anzustoßen, ohne die Einmischung dritter.“

Dann lässt Theophilus sich den Hirtenstab reichen, und posiert für ein Foto unter seinem kleinen Baldachin. Nach dem Interview überreicht er eine kleine Ikone.

Man muss sich das erst einmal bewusst machen: Die Grabeskirche ist eben eigentlich gar keine Kirche, sondern so was wie eine große, fast 1.000 Jahre alte Mönchs-WG, mit Wohnquartieren für griechisch-orthodoxe, katholische und armenisch-orthodoxe Patres und Popen, mit Rund-um-die-Uhr-Gebetsbetrieb, und mit unzähligen Seitenkapellen und Altären: Mindestens einen für die Kopten, einen für die Syrisch-Orthodoxen, einen bei den Äthiopiern, zwei in der Grotte, drei da, wo Helena das Kreuz fand, zwei bei den Katholiken, einen am Grab Adams, und zwei bei den Armenisch-Orthodoxen im oberen Stock. Auf dem Dach der Kirche stehen ein paar Hütten, wo dreißig äthiopisch-orthodoxe Mönche ein Kloster betreiben, in einem Kleinstraum ein Souvenirshop. Davor sitzt ein Pope in der Mittagshitze und flickt sich die Hose.

Bei all dieser Vielfalt, und diesem Zwist in der Vielfalt, ist es bemerkenswert, wie ungeschützt und offen die Grabeskirche ist: Mitten in Jerusalem, in einem Land, in dem bewaffnete Soldaten und Polizisten zum Stadtbild gehören, in einer Stadt, in der manchmal täglich Anschläge geschehen, Messerattacken auf Soldaten oder Polizisten, gewaltsame Zusammenstöße zwischen palästinensischen Jugendlichen und der Polizei, gibt es nicht einmal eine Rucksackkontrolle, keine Security, nichts: Jeder kommt herein, wie er möchte, ohne Ansehen von Nationalität oder Glauben.

Jerusalemer Teenager verabreden sich hier zum Rendezvous, vor allem solche, deren Eltern sie der Konfession wegen in der Grabeskirche eher nicht suchen würden. Und in manch dunklen Ecken halten nicht religiös verzückte, sondern verliebte Teenager Einkehr.

Antonia Moropoulou, die Leiterin des Restaurierungsprojekts, ist Wissenschaftlerin, Griechin und „Griechin“ im Jerusalemer Sinn. Moropoulou, die an der Nationalen Technischen Universität in Athen unterrichtet, hat das Vertrauen des griechisch-orthodoxen Patriarchen Theophilos, und ist völlig überzeugt von der kulturellen Bedeutung und Heiligkeit des Ortes, und der mit ihr aufgeladenen Mauerwerke: Sie sagt: „Die Heilige Ädikula“, „der heilige Fels“, und darin, „das Heilige Grab“.

Das aber ist bedeckt von verschiedensten Bebauungen aus unterschiedlichen Zeiten, byzantinisch, aus der Zeit der Kreuzfahrer, immer wieder beschädigt,  erneuert und restauriert, bis in die jüngste Vergangenheit.

Die Restauratoren arbeiten sich schrittweise vor, sowohl mit ihren Analyseinstrumenten als auch mit dem Auseinandernehmen der Steinverkleidung der Ädiküla, deren Verformung Anlass zur Sorge gegeben hatte, dass es einsturzgefährdet sei.

Jetzt wird neuer Mörtel eingespritzt, um die Mauern zu stabilisieren, und den Druck von den Überresten des Grabfelsen zu nehmen; es wird versucht, den Ursprung für die eindringende Feuchtigkeit zu beseitigen, indem man unter der Ädikula ein Abwassersystem einbaut.

„Für mich als Wissenschaftlerin und als gläubige Christin“, sagt sie, „ist die Bewahrung des Heiligen Grabes ein Unternehmen, welches das gegenseitige Verständnis zwischen Menschen verschiedenen Glaubens fördert.“

Antonia Moropoulou betont, dass bis jetzt bei der Restaurierung alles harmonisch ablaufe, „weil es scheint, dass die wissenschaftliche Leitung glaubwürdig ist, und Entscheidungen aufgrund von wissenschaftlichen Gründen getroffen werden können“, anstatt aufgrund von jahrhundertealten Gewohnheitsrechten. Oder eben nicht getroffen werden, weil man sich nicht einigen kann.

Man kann sich ausmalen, wie schwierig es sein wird, wenn die Restaurierung Umbauten, Veränderungen notwendig macht, die dann auch bleiben wären: Bis jetzt gehen ja alle hier, ganz getreu dem Status Quo, davon aus, dass nach den Arbeiten alles genau so wie vorher sein wird.

Aber, und Antonia Moropoulou versucht das, man kann den Horizont auch ein bisschen erweitern, wenn sie sagt: „Am Grab Jesu steht man nicht alleine, bloß mit seiner eigenen Verantwortung, sondern so, als stünde man vor der Zukunft, vor zukünftigen Generationen.“

Jetzt soll das Grab Christi geöffnet werden, erzählt man sich aufgeregt, seit zweihundert Jahren zum erste Mal wieder ein Blick hineingeworfen. Moropoulou drückt sich noch vorsichtig aus, und sagt, sicher, wenn es im Rahmen der Renovierung notwendig sei, werde das Grab geöffnet werden, „natürlich mit dem Einverständnis der drei Gemeinden“.

Ein palästinensischer Fremdenführer aus Nazareth, der, sehr abgeklärt, hier deutsche Pensionisten in ihrer ganz eigenen Dreifaltigkeit aus Sandalen, Socken, Sonnenhut herumführt, meint, die Öffnung des Grabes sei wie bei einer Wassermelone: Man wisse nie, was eine tauge, bis man sie endlich öffne. Dabei insistieren hier alle darauf, dass das Grab leer ist, leer sein muss, dass all diese Aufregung um ein leeres Grab sich dreht.

Worauf die „Hüter und Diener“ des Grabes hier antworten würden: „Ja! Weil es hier passiert ist!“, die Auferstehung, die anastasis, wie die Griechen dazu sagen, weswegen all das hier veranstaltet wird.

Antonia Moropoulou findet, die Vertreter der drei tonangebenden Konfessionen hätten „bis jetzt ihre Bereitschaft gezeigt, in einen Dialog zu treten, untereinander und mit uns als Wissenschaftlern, und Entscheidungen zu treffen, die sowohl den Anforderungen der Wissenschaft genügen als auch ihren kulturellen und religiösen Werte Genüge tragen.“

Wo hier die Betonung zu liegen hat, auf dem „bis jetzt“, oder auf dem Umstand, dass sich der Dialog zwischen Religion und Wissenschaft bis jetzt trägt, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Der Abschluss der Arbeiten ist für März nächsten Jahres, spätestens aber zum Osternfest 2017 geplant, wo die Gläubigen die Kirche wieder ganz für sich und ihre Vielfalt haben wollen.

Drinnen herrscht Seligkeit und Zwist, draußen herrscht Jerusalem.

In der Altstadt von Jerusalem, von den Israelis mit dem Ostteil der Stadt besetzt, oder vereint als ewige Hauptstadt der jüdischen Nation, je nach Standpunkt, gehen die Gassen eng und steil auf und ab, steinerne Wege, aus hellem Kalkstein. Auf einer Stufe verkauft eine alte Palästinenserin Rucola in kleinen Bündeln, dort liegt der beste Hummusladen der Stadt. Da drüben die Siedler, die immer mehr Häuser auch in der Altstadt übernehmen, über Mittelsmänner kaufen, die Polizeieskorte, die Stimmung so schwer, dass in nur einem Augenblick sich alles entzünden kann, von einem Streit unter Kindern, bis zum Einschreiten von mit Waffen behangenen und dick gepolsterten israelischen Soldaten nur Sekunden, ein blitzschnelles sich Aufschaukeln aus gerufenen Drohungen, vor, zurück, dann wird gespuckt, und wenn nicht einer gehalten wird, sich beruhigt, oder einsieht, dass er noch anderes vor hatte, als in einem Raufhändel zu enden, dann kann alles passieren.

Dabei haben die Jerusalemer eigentlich jene gelassen-abgeklärte Unfreundlichkeit von Leuten, die alles schon gesehen haben, und die es über sich ergehen lassen, dass jedes Jahr hier hunderttausende vorüberziehen, dass hier tausende jeden Tag ankommen, die hier „ihre Stadt“ suchen, sie mit all den Geschichten überfrachten, die sie zu „ihrer Stadt“ machen, Glaubensgeschichten, politischen Geschichten, alten und neuen, die immer neue Ansprüche gründen, Kreuzzügler, muslimische Eroberer, osmanische Herrscher, britische Kolonialherren, jordanische Könige, israelische Eroberer, Pilger, Wallfahrer und Touristen.

Pater Athanasius, der texanische Franziskaner, setzt sich zum Interview auf eine Kirchenbank in jenen Bereich der Grabeskirche, der den Katholiken vorbehalten ist. Während er spricht, beäugt er aufmerksam, was die andere Mönche in der Kirche treiben, wer sich wo aufhält, wer welchen Bereich der Kirche betritt. „Das ist einer von unseren Jungs“, sagt er, und deutet auf einen Priester in Zivil.

Heute verbannt Pater Athanasius in den „off the record“ all das, was als abfällig oder ablehnend gegenüber den anderen Konfessionen interpretiert werden könnte. Das ist ein Fortschritt, wenn man bedenkt, wie sich die Mönche verschiedener Konfessionen hier in der Vergangenheit beharkt haben. Andrerseits ist es kein Geheimnis, dass es auch heute noch böses Blut gibt.

„Für diesen Bereich hier“, sagt Athanasius, „haben wir kolorierte Karten, wem was gehört, zwischen uns und den Griechen. Zum Beispiel diese Säule dort, wir nennen sie Säule Nr. 18, da gibt es einen eingefärbten Plan, wem welche Hälfte der Säule gehört. Aber leider ist nicht alles in der Karte aufgeführt und davon abgedeckt.“

Und es gibt immer wieder Streitfragen, die daraus entstehen, wenn Neuerungen notwendig werden. Zum Beispiel der Streit zwischen „den Griechen“ und „den Armeniern“ wegen der Kerzen. Die Eisenträger rund um das Grab Jesu wurden im Jahr 1947 von den Briten angebracht, um die Ädikula zu stabilisieren; seitdem stellen die Pilger ihre Votivkerzen drauf. Aber es ist strittig, wer die Kerzen von den Eisenträgern sammeln darf, weil es sie zu Zeiten des Dekret des osmanischen Sultans über den Status quo eben noch nicht gegeben hat. Für Athanasius macht das Sinn: „Klarerweise hat das vor 1852 niemand gemacht, und deshalb gibt es auch keine Übereinkunft dazu.“

Man muss sich das vorstellen: Seit dem Dekret des Sultans begründete Theodor Herzl den Zionismus, es zerfiel das Osmanische Reich, die Briten besetzten Palästina, es ereigneten sich die Verwüstung zweier Weltkriege, die deutsche Vernichtung der Juden, es entstand der Staat Israel, mit Unabhängigkeitskrieg und Vertreibung hunderttausender Palästinenser, acht weitere Kriege, je nach Zählung, folgten einer auf den nächsten, hier, um diese Kirche herum, und doch streitet man drinnen darüber, wer wann und wo zur Prozession antreten darf, wer welche Stufe zu fegen hat.

Umso erstaunlicher, dass man sich jetzt geeinigt hat, das Grab endlich zu restaurieren. Gearbeitet wird vor allem in der Nacht, wenn die Touristen weitergezogen sind und sich nur noch die Mönche in der Kirche einschließen lassen, um ihren nächtlichen Andachten nachzugehen. Drinnen wird gebetet, gehämmert, gebohrt und geflext, draußen ist die Stadt ein stilles Geheimnis. Die Gassen sind von einer warmen Dunkelheit, bloß noch Katzen streunen herum, und die, denen diese Stadt jetzt allein gehört.

P.S Beim Nocheinmal-Lesen scheint mir, dass man dem Text eine leichte Form des Jerusalem-Syndrom anmerkt: Hält man sich auch nur wenige Stunden in der Kirche auf, scheint die Deklination des Namen Jesus völlig angebracht und einzig richtig: Hier, das Grab Jesu Christi! Dort kreuzigte man Jesum, auf diesem Stein salbte man Jesu Leichnam, dort legte man Jesum ins Grab...