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Von der An- und Abwesenheit

Performative Länderbeiträge auf der 58. Biennale von Venedig. Ein Gastbeitrag von Hannes Egger aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kulturelemente.
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Foto: Hannes Egger

Es ist erneut geschehen und wird wohl nicht das letzte Mal gewesen sein: Der Gewinner des Goldenen Löwen der 58. Biennale Venedig, der litauische Pavillon, hebt einmal mehr die herausragende Rolle des Performativen in der zeitgenössischen Kunst hervor.

Sonnenliegen, Badetücher, Strandtaschen, Schwimmobjekte und dazwischen – ähnlich den nahen Adriastränden – liegen Menschen in Schwimmoutfits an diesem künstlichen und rund um die Uhr schattenlos ausgeleuchteten Urlaubsparadies.

Sun & Sea (Marina) ist die skurrile Performance-Oper der Filmemacherin Rugil Barzdžiukait, der Schriftstellerin Vaiva Grainyt und der Komponistin Lina Lapelyt. Zu sehen ist in einer heruntergekommenen Magazinhalle, von einer Mezzanin-Galerie aus, ein aufgeschütteter Sandstrand. Sonnenliegen, Badetücher, Strandtaschen, Schwimmobjekte und dazwischen – ähnlich den nahen Adriastränden – liegen Menschen in Schwimmoutfits an diesem künstlichen und rund um die Uhr schattenlos ausgeleuchteten Urlaubsparadies. Unter anderem spielen Kinder und auch ein Hund ist auszumachen. Im Grunde eine alltägliche Szene, die allerdings von Sänger*innen gespielt wird. Die Strandbewohner*innen singen zum Teil solo und zum Teil im Chor mit minimalistischer Begleitung von den Sonnen- und Schattenseiten des Strandurlaubs und damit auch vom – nicht nur vom sommerlichen Reiseverkehr hervorgerufenen – Klimawandel. Die verdienten Sieger*innen des Goldenen Löwen beweisen das zweite Mal in Folge – nach dem deutschen Pavillon mit Anne Imhofs Faust vor zwei Jahren –, dass die Biennale und damit die Kunstwelt endgültig in der (post)performativen Ära angekommen ist.

Die Performance funktionierte also auch in ihrer Abwesenheit...

Sogleich nach den Eröffnungstagen der Biennale offenbarte sich eines der zentralen Probleme vieler performativer Interventionen: Sie sind zeitlich begrenzt, da Menschen meist nicht rund um die Uhr zur Verfügung stehen bzw. kostenintensiver sind als Objekte. Sun & Sea (Marina) wird bis zum Ende der Biennale am 24. November jeden Mittwoch und Samstag von 10 bis 18 Uhr aufgeführt. An allen anderen Tagen bleibt der Strand menschenleer und die Musik erklingt aus der Lautsprecheranlage. Um herauszufinden ob es sich lohnt, den Pavillon ohne die Performer*innen zu besuchen, bin ich eigens noch einmal hin und fand die Intervention erneut sehr poetisch, auch – oder vielleicht gerade deshalb – weil sich die Aufführung bei mir als Kopfkino abspielte. Es waren kaum Menschen vor Ort und ich konnte in Ruhe über das Geländer der Galerie gelehnt der Musik lauschen, auf den Strand und seine Objekte blicken und mir die Performance vorstellen. Eine Freundin begleitete mich, welche zum ersten Mal den litauischen Pavillon besuchte und nichts über diesen wusste. Zuerst blickte sie etwas verdutzt und fragte verwundert, ob das wirklich der grandioseste Beitrag auf der 58. Biennale von Venedig sei? Als Antwort suchte ich ein Video auf Youtube von der Performance und zeigte es ihr. Sie sah es sich auf das Geländer der Galerie gestützt an und schien äußerst zufrieden. Die Performance funktionierte also auch in ihrer Abwesenheit, dank persönlicher Erinnerung oder gestützt von den sozialen Medien.

 

Über das Verhältnis von An- und Abwesenheit reflektiert auch ein anderer nationaler Beitrag auf der Biennale. Dem Kunstforum International zufolge ist er „der wohl intelligenteste, hintergründigste, witzigste, gewagteste, subversivste und radikalste aller nationalen Beiträge“ (Kunstforum International, Band 261, Köln, 2019, Seite 334). Ein konzeptionell ausgezeichneter Pavillon, der allerdings viel weniger spektakulär als Sun & Sea (Marina) ist und im zweiten Stock der Sala d’Armi im Arsenale etwas untergeht. Leider, oder auch besser, da die Intervention eins zu eins erlebt werden muss und nur so ihre ganze Kraft entfalten kann. Der ukrainische Pavillon ist ziemlich unauffällig gestaltet. Es finden sich ein paar kleine Tische im Raum, eine an der Wand angebrachte Projektbeschreibung mit der Liste der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler und eine Videoprojektion an einer mitten im Raum stehenden Wand. Das Konzept von The Shadow of Dream cast upon Giardini della Biennale des Kurator*innen-Kollektivs Open Group (Yurii Biley, Pavlo Kovach, Stanislav Turina, Anton Varga) ist klar definiert: In der Ukraine wurde in sowjetischer Zeit das weltgrößte Flugzeug, die Antonow An-225 „Mrija“ gebaut, und ebendieses sollte am 09. Mai 2019 um 12 Uhr über Venedig fliegen und seinen Schatten auf die Biennale werfen. Im Laderaum des Flugzeugs sollte ein digitales Verzeichnis aller lebender ukrainischer Künstlerinnen und Künstler transportiert werden.


Ob das Flugzeug wirklich über Venedig flog oder nicht, war nicht zu verifizieren, da an besagtem Tag Wolken die Sicht auf den Himmel über der Lagune trübten. Was sicherlich flog, waren die Träume (Mrija bedeutet soviel wie Traum) der 1.143 teilnehmenden Künstler*innen. Im Pavillon selbst wird an einem der Tische von einer Person in einem persönlichen Gespräch unter vier Augen vom Flug bzw. Flugzeug berichtet. An einem anderen Tisch hingegen klärt eine junge Dame über das inhaltliche Konzept des Beitrags auf und wieder an einer anderen Station berichtet ein Herr mit Bart von einem Künstler, der aufgrund seiner kulturpolitischen Vernetzung bereits sicher war, den ukrainischen Pavillon zu bespielen, das Auswahlteam sich aber dennoch – sehr zum Missfallen des Ersteren – für das Konzept von Open Group entschied. Weitere Aspekte des Projekts werden an den anderen Tischen behandelt. Es sind allesamt Erzählungen, wahr oder unwahr, die mündlich vorgetragen werden und sich in die Gehirnwindungen der Zuhörenden einnisten, während den Sprechenden direkt in die Augen geblickt wird. Eine schöne Mischung aus direktem menschlichen Kontakt und hochtragenden Traumvorstellungen, vorgetragen durch körperliche Anwesenheit und in Abwesenheit des eigentlichen Inhalts: Weder das Flugzeug noch die Künstler*innen selbst sind vor Ort.

Salto in Zusammenarbeit mit Kulturelemente