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50 Tage und kein bisschen müde

Der Vulkan auf La Palma kommt nicht zur Ruhe. Das führt zu auch bedenklichen Begleiterscheinungen auf der Insel.
La Palma Vulkan
Foto: lmg

Am 19. September 2021 hat auf La Palma eine neue Zeitrechnung begonnen. Um 14.12 Uhr Ortszeit (15.12 Uhr in Südtirol) gab es in der Bergkette Cumbre Vieja im Süden der Insel einen Vulkanausbruch. Einen Namen hat der Vulkan auch sieben Wochen später noch keinen. Doch er bestimmt weiterhin das Leben der Menschen. Seit sechs Wochen bin ich selbst auf der Kanareninsel. Und erlebe die schier unbeschreiblichen Kontraste hier aus nächster Nähe. Die Bilder, die diesen Text begleiten, habe ich alle selbst gemacht – wer spektakuläre Fotos des Ausbruchs oder der Auswirkungen auf der Insel sucht, findet diese zuhauf über Google oder die sozialen Netzwerke.

 

Die bisherige Bilanz

 

Heute, Sonntag, schreibt man auf La Palma Tag 50 seit Beginn des Vulkanausbruchs. Auch wenn es in den vergangenen Tagen erste Anzeichen für ein absehbares Ende gab – noch immer spuckt der Namenlose Feuer, Lava und Asche in den Himmel. Wer ihn dabei beobachten will, kann das über diverse Livestreams machen, unter anderem auf Youtube. Seit Samstag gibt es erneut heftige Eruptionen und Lavafontänen, begleitet von riesigen Aschewolken. Eine gute Nachricht zuerst: Menschen sind bislang keine zu Schaden gekommen.

Knapp 1.000 Hektar Land haben die Lavaströme bisher unter sich begraben: eine Fläche drei Mal so groß wie der Central Park in New York oder die Gemeinden Kuens, Kurtinig, Waidbruck und Plaus zusammen. Wohnhäuser, Bananen-, Wein- und Avocadoplantagen, Straßen, Kirchen, Gärten, Spielplätze sind nicht mehr. Gut 2.600 Gebäude und Infrastrukturen liegen unter schwarzem Gestein und Asche begraben. Über 7.000 Menschen mussten zwischenzeitlich evakuiert werden. Viele von ihnen konnten wieder in ihre Häuser zurückkehren. Wer sein Zuhause verloren hat, ist entweder bei Familienangehörigen, Freunden, Bekannten, in Hotels oder Notunterkünften auf La Palma untergebracht oder hat die Insel verlassen: über 2.000 Einwohner der Gemeinden Los Llanos de Aridane, El Paso und Tazacorte. Vor einigen Tagen wurden die ersten Holzhäuschen geliefert, die obdachlos Gewordenen Obdach bieten sollen.

Dort, wo die Lava ins Meer fließt, ist die Insel inzwischen um über 40 Hektar gewachsen. Das sind 56 Fußballfelder.

 

Während ich diese Zeilen schreibe – es ist Sonntag Abend –, beginnt der Tisch, an dem ich sitze, zu wackeln. Schon wieder ein Erdbeben in Vulkannähe, das bis hier in den Norden herauf zu spüren ist. Stärke 4,8 erfahre ich später. In den letzten 90 Tagen verzeichnete das Nationale Geografische Institut (Instituto Géografico Nacional, IGN) über 5.600 seismologische Ereignisse. Das bisher stärkste Beben gab es am Morgen des 30. Oktober, mit einer Stärke von 5,0 auf der Richterskala.

Die wirtschaftlichen Schäden sind derzeit nicht abzusehen. Auf mehrere hundert Millionen Euro sollen sich alleine die Schäden an Gebäuden und Infrastrukturen belaufen. La Palma lebt vor allem vom Bananenanbau und dem Tourismus – zwei Branchen, die die Auswirkungen des Vulkanausbruchs am stärksten zu spüren bekommen. Fast jede nutzbare Fläche unterhalb von 400, 300 Metern bis hin zur Küste wird für Bananenplantagen genutzt. Laut kanarischem Verband der Bananenanbauer (Asociación de Organizaciones de Productores de Plátanos de Canarias, Asprocan) generiert die Bananenindustrie 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von La Palma, über 5.300 Produzenten und rund 10.000 Familien hängen direkt vom Bananenanbau ab. Die größten Plantagen stehen in Tazacorte, Los Llanos und Puerto Naos und damit in Gebieten, in denen die Lava die größten Zerstörungen angerichtet hat. In den betroffenen Gemeinden, so schätzt der Verband, sind über 30 Prozent der Bewohner im Bananensektor beschäftigt.

 

Im Herbst und im Winter ist La Palma ein beliebtes Reiseziel, vor allem für Wanderer, Mountainbiker und Wassersportler. Das milde Klima und die abwechslungsreichen wie fordernden Landschaften machen die Insel zu einer attraktiven Urlaubsdestination. Viele, vor allem Deutsche, überwintern gerne hier. Die Corona-Situation ist, wie in ganz Spanien, äußerst entspannt. Die 7-Tage-Inzidenz auf den Kanaren liegt bei 29,9, auf La Palma selbst bei 20,2 (Stand: 7. November 2021).

Jetzt hagelt es Stornierungen. Viele warten mit einer Buchung ab, wie sich die Situation weiter entwickelt. Die Fluglinien, die La Palma anfliegen, haben 17 Prozent der Plätze für den Winter gestrichen. Planbarkeit ist weder für die Touristen noch für die Tourismustreibenden der Insel gegeben. Der Vulkan bleibt unberechenbar. Je nachdem, woher die Winde wehen, bewegt sich die Aschewolke und mit ihr der Ascheregen über die Insel. Das führt dazu, dass von einen Tag auf den anderen oder noch kurzfristiger der Flughafen auf der Ostseite gesperrt werden muss und Flüge ausfallen. Dann verlagert sich der Reiseverkehr auf und von der Insel auf das Wasser. Mit den Fähren, die von Teneriffa in der Hauptstadt Santa Cruz de la Palma anlegen, kommen auch Hilfsgüter nach La Palma. Genauso wie Feuerwehrleute, Soldaten, schweres Gerät und Fahrzeuge von den Nachbarinseln und dem Festland. Sie helfen, Straßen von der Asche zu säubern, noch nicht vollständig in der Vulkanasche versunkene Gebäude freizuräumen und Anwohnern, ihre Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen.

 

Die Solidarität mit den Betroffenen und den Palmeros insgesamt ist überwältigend. Über sieben Millionen Euro an Spenden sind bislang beim Inselrat – der Cabildo de La Palma ist die insulare Lokalverwaltung unterhalb der Provinz Santa Cruz de Tenerife und oberhalb der Gemeindeverwaltungen –, der von den Sozialdemokraten angeführt wird, eingegangen. Sowohl die Regierung der Kanaren als auch die spanische Zentralregierung haben rasche Hilfe in Millionenhöhe zugesagt. Ministerpräsident Pedro Sánchez war seit Beginn des Vulkanausbruchs fünf Mal auf La Palma. Bei seinem vorerst letzten Besuch Ende Oktober kündigte er Steuerbefreiungen für betroffene Bürger an. Die kanarische Fluggesellschaft Binter Air lässt Studenten aus La Palma – zu studentischen Zwecken – gratis auf die Nachbarinseln fliegen, Betroffene dürfen die öffentlichen Verkehrsmittel, sprich den Bus, gratis nutzen. Zahlreiche Veranstalter haben angekündigt, ihre Erlöse an die betroffenen Palmeros zu spenden, Asprocan bringt Bananen in den Handel, die vom Vulkan Schaden davon getragen haben, wovon eine Etikette auf den Früchten berichtet.

 

Die Begleiterscheinungen

 

Die Behörden auf La Palma sind äußerst bemüht und schaffen es hervorragend, die Menschen auf der Insel rasch und unkompliziert zu informieren: über Straßensperren zum Beispiel; oder die Luftqualität und eventuelle Vorsichtsmaßnahmen wenn sie sich aufgrund der veränderten Wetterlage verschlechtert. Vergangene Woche wurden wegen der hohen Luftbelastung 22 Schulen geschlossen. Darunter auch jene in den Gemeinden Tijarafe und Puntagorda im Nordwesten La Palmas – dort, wo ich mich aufhalte. 30 Kilometer Luftlinie vom Vulkan entfernt. An bestimmten Tagen bemerke auch ich ein Kratzen und Brennen im Hals: Feinstaub und Gase aus dem Vulkan schaffen es bei ungünstiger Wetterlage mit der Asche bis in den Norden. Steigt die Schadstoffbelastung bedenklich an, gilt es, Aktivitäten im Freien zu vermeiden bzw. dabei eine FFP2-Maske zu tragen. Risikogruppen sollen das Haus erst gar nicht verlassen. Die Erfahrung, seinen Alltag völlig nach dieser Naturgewalt und all ihren Begleiterscheinungen ausrichten zu müssen, ist frustrierend und faszinierend zugleich.

 

Wenn ich mich auf eine Wanderung über die bis zu 2.400 Meter hohen Gipfel freue, kann es passieren, dass es beim Aussteigen aus dem Auto stark nach faulen Eiern stinkt – ein Hinweis auf Schwefelgase – und der gesamte Vulkankessel, an dem ich entlang wandern will, mit einer dichten Staubwolke gefüllt ist, die mich an den Smog in der Pianura Padana denken lässt. Lege ich mich abends schlafen, begleitet mich das Grollen des Vulkans, manchmal auch ein Erdbeben. Und wenn ich selbst in den abgelegensten und verstecktesten Winkeln der Insel auf Vulkanasche stoße, weiß ich: Der Natur ist der Mensch und seine Befindlichkeiten herzlich egal. Umgekehrt staune ich über das ungebrochene Interesse an dem Feuerspucker und mit welcher Professionalität und Ausdauer der Vulkan im Auge behalten wird. Er zieht Forscher aus der ganzen Welt an. Jeden Tag werden unzählige Daten veröffentlicht. Sie einzuordnen, ist für Laien nicht leicht.

Kaum verwunderlich also, dass bestimmte Informationen instrumentalisiert werden, um Menschen bewusst in die Irre zu führen. In Postings, die seit Wochen auf Facebook zirkulieren, heißt es: “Der Vulcan in La Palma hat in den letzten Tagen so viel böses CO2 ausgestoßen wie Deutschland in den nächsten 100 Jahren einsparen will und das ist nur einer von vielen Vulkanausbrüchen am Tag.” Oder: “Der Vulkan in La Palma hat, stand heute, bereits mehr CO2 und hochgiftige Schadstoffe ausgestoßen, wie das was alle Fahrzeuge aus ganz Deutschland in 100 Jahren nicht schaffen werden! Erzählen euch dass die Medien und die Politik nicht?!?… Na klingelt, was für ein Schwachsinn der ganze Klima Hype und FFF Aktionen doch sind?” Gleich mehrer Faktenchecks haben diese Behauptung als falsch entlarvt (z.B.: AFP, dpa, Correctiv). Laut Vulkanologen fehlen im Falle des aktuellen Vulkanausbruchs auf La Palma noch die Daten zum CO2-Ausstoß. Davon abgesehen sorgen Vulkane nur für einen Bruchteil der globalen CO2-Emissionen.

 

Jüngst sind hingegen andere, bedenkliche Daten bekannt geworden: Seit Beginn des Vulkanausbruchs sind die Anzahl der Anrufe wegen geschlechtsspezifischer Gewalt auf La Palma drastisch gestiegen. Alleine im September gingen 72 Notrufe von Frauen, die Gewalt erfahren haben, ein. Die höchste Zahl seit Jänner 2019, 84 Prozent mehr als im September 2020 und 75 Prozent mehr als im August 2021. Das belegen die Zahlen, die dem Kanarischen Institut für Gleichberechtigung (Instituto Canario de Igualdad, ICI) vorliegen. Für Oktober fehlten zwar noch die nach Inseln aufgeschlüsselten Daten, doch laut ICI hat es zwischen 19. September und 18. Oktober 2021 insgesamt 63 Anrufe von Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind, bei der Notrufnummer 112 ein – 57 Prozent mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. Für die Direktorin des ICI liegt auf der Hand, dass die Zunahme etwas mit dem Vulkanausbruch zu tun hat: “Wann immer eine drastische Situation eintritt, rechnen wir immer damit, dass es einen Anstieg geben könnte.” Die Unterbringungsmöglichkeiten für Frauen auf La Palma, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind, sind momentan voll. Die Regierung der Kanaren hat Ressourcen für Unterkünfte und Personal wie Anwälte, Psychologen und Sozialarbeiter zugesichert.

 

#Masfuertesqueelvolcan – stärker als der Vulkan. Unter diesem Slogan sprechen sich die Menschen auf La Palma seit sieben Wochen Mut zu. Der lokale Tourismusverband hat eine Kampagne gestartet, die Reisewilligen zeigt, welche Schönheiten die Insel abseits des Vulkans bereit hält und welche auch in der momentanen Lage gefahrlos bestaunt werden können. Ich habe sie bald alle besucht, fällt mir auf: die Lorbeerwälder, die schwarzen Strände, die natürlichen Meeresschwimmbecken, die Drachenbaumhaine, die Städtchen, Höhlen und Berggipfel. Dabei habe ich, obwohl 4.000 Kilometer weit weg, oft an Zuhause, an Südtirol denken müssen: Beim Blick auf die vielen Weinreben. Beim Gedanken an die Bedrohungen durch die Monokultur hier. Beim Spaziergang über den Bauernmarkt. Wenn plötzlich ein Teppich an Kastanien den Weg vor mir bedeckt oder ich an den Hängen Bienenkästen entdecke. Wenn ich abends die Glocken höre, die hier zwar an den Hälsen der vielen Ziegen und nicht an denen von Kühen hängen, aber gleich läuten. Allerspätestens wenn mich im im Supermarkt Vinschger Äpfel anlachen. Ja, auch das jüngste offizielle Tourismus-Werbevideo kommt mir bekannt vor. Selbst das Grollen des Vulkans erinnert mich immer noch an das Gewitter, das über die Alm heranzieht.

Die allermeisten Menschen, die aktuell nach La Palma kommen, suchen etwas anderes: das Spektakel. Am vorigen verlängerten Wochenende – Allerheiligen ist auch in Spanien ein Feiertag – waren die verfügbaren Unterkünfte auf La Palma so gut wie ausgebucht. 10.000 Touristen kamen auf die Insel – um den Vulkan zu sehen. Der Ansturm sorgte für erhebliches Chaos auf den Straßen – unzählige Autos standen trotz Parkverbots entlang der Straßen und verursachten Staus sowie Verkehrsblockaden – und spaltet die Inselbewohner. Die einen freuen sich über die Besucher, die sich vom Vulkan nicht abschrecken lassen. Die anderen können angesichts der Zerstörung und der Verzweiflung, in der der Vulkan viele Einheimische gestürzt hat, mit den Schaulustigen nichts anfangen. Der Inselrat organisierte kostenlose Shuttle-Busse zu den besten Aussichtspunkten, um das Naturschauspiel beobachten zu können. Bis zu 1.500 Personen nutzten das Angebot. Für die Linkspartei Podemos “eine Schande”. Inzwischen bieten auch lokale Reise- bzw. Wanderveranstalter “Vulkan-Watching”-Fahrten an, Guide inklusive. Für dieses Wochenende kündigten die Behörden verstärkte Verkehrskontrollen an.

 

Isla Bonita, “die Schöne” wird La Palma auch genannt. Derzeit erlebe ich sie nicht nur als schön. Sondern als atemraubend schön. Im positiven wie im weniger positiven Sinn, gepaart mit dem Wunsch, dass die Menschen hier bald wieder Luft holen können. Um ihre Heimat wieder schön und noch schöner zu gestalten.