Cultura | Salto Weekend

Reanimo

Ein Textauszug aus dem Buch „Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi“, dem Romandebüt des Autors Gernot Werner Gruber.
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Foto: edition raetia

Plötzlich hörte Dimitri Schreie, die von draußen ins Zimmer drangen und so klangen, als würden sie von dem Pathologen stammen. Er setzte sich im Bett auf, rieb sich die Augen und spitzte die Ohren. Er hörte noch mal hin. Dimitri zog sich rasch an, lief die Treppe hinunter und so schnell es ging auf die Terrasse. Hier hörte er den Pathologen klar und deutlich, nur sah er ihn nicht. Er verstand auch nicht, was der da schrie. Genauso wenig, wie er ausmachen konnte, ob es ein Hilferuf oder ein Jubelschrei war. Oder beides. Nach einigen Augenblicken sah Dimitri oben am Bergahornbaum etwas baumeln.
„Wow! Yiepieh! Ha ha!“
Es waren Jubel, Lachen und Begeisterung, obwohl der Pathologe kopfüber am Baum hing. Dimitri fühlte sich in diesem Moment an die Endphase im Leben seines Professors erinnert. Aufgrund des langjährigen Konsums von Selbstgebranntem hatte dieser häufig Deliriums-Zustände, in denen er unglaubliche Sachen anstellte. Aber so eine Nummer, wie der Pathologe am Baum mit einem Fuß zu hängen, kopfüber, so etwas hatte nicht mal sein Professor geschafft. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Pathologen direkt zu fragen. Dimitri rannte zu ihm hinüber.
„Machst du jetzt Pantschihupfen? Oder wolltest du dich selbst morden und hast falsches Ende angeknupft?“
Der Pathologe baumelte wie absichtlich von rechts nach links, streckte die Arme aus und rief: „Er ist so schön. Du solltest ihn sehen! Er ist so voller Kraft und so schnell. Es ist unglaublich. Ich könnte weinen.“ Hiermit war Dimitri endgültig davon überzeugt, dass die Ereignisse den guten alten Pathologen in den Wahnsinn getrieben hatten. Er begann darüber nachzudenken, wie er ihn von da oben herunterkriegen würde, ohne dass der Pathologe noch größeren Schaden nehmen würde. Da spürte Dimitri einen Schlag auf die Schulter und kippte nach vorne, weil ein Stock zwischen seinen Füßen ihn zum Stolpern gebracht hatte. Kaum stand er wieder gerade, drückte ihn eine Hand nach hinten bis zur
Holzwand des Gasthofes. Er knallte hart mit dem Rücken gegen die Wand, sodass er das Gefühl hatte, sein Kreuz habe lauter gekracht als die Bretter. Es war so, als würde sich das Gehirn aufgrund der Schmerzen zusammenziehen wie ein Muskel und seine Kontraktion an die Augen weitergeben, um damit seinen Blick zu schärfen für den Mann, der ihn nun an der Kehle festhielt. Dimitri war überzeugt, nun ebenso wahnsinnig geworden zu sein. Er schwor, ab nun für den Rest seines Lebens alkoholabstinent zu bleiben.
Vor ihm stand der Mann aus dem Eis. Kraftvoll. Zornig. Er näherte sich bis auf zwei Zentimeter mit seiner Nase dem Gesicht des Russen. Dann rammte er sein Kupferbeil in den Türstock, wenige Zentimeter neben den Kopf von Dimitri. Der Eismann atmete ruckartig, sodass seine Nasenflügel sich hoben und senkten.
Oben am Baum juchzte immer noch der Pathologe: „Ist das nicht geil? Schau, wie stark er ist!“
Dimitri konnte das g-Adjektiv zur Beurteilung seiner Situation nicht teilen.
„Gar! An pu bhrag gri!“, schrie ihn der Eismann an und ließ seine Kehle los, um ihn am Nacken zu packen und zu Boden zu stoßen. Er verschnürte ihn mit den Handgelenken an den Knöcheln. Dimitri kauerte nun mit dem Gesicht nach unten. Ötzi öffnete seinen Lendenschurz und begann, auf den russischen Molekularbiologen, der ihm gemeinsam mit dem baumelnden Pathologen sein Leben wiedergeschenkt hatte, zu urinieren, begleitet von einigen Urlauten und einem infernalischen Gelächter des Pathologen, der sich mit dem Kommentar begeisterte: „Ein Unterwerfungsritual! Wunderbar!“ Dimitri fand den Ammoniakgehalt der Flüssigkeit, die ihn nun über und über bedeckte, eher unausstehlich und war kurz davor, sich zu übergeben.
Der Eismann stülpte seinen Lendenschurz wieder über den Gürtel und verschwand in Richtung Hügel. Beide Herren konnten das in ihrer nicht vorteilhaften Situation gerade noch aus den Augenwinkeln heraus beobachten.