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„Die leschte Roas“

Das Geheimnis der Maridl Innerhofer: Vor fünf Jahren ist die legendäre Mundartdichterin gestorben. Nun würdigt ein neues Buch ihr Leben und ihre heimelige Poesie.[Teil 1]
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Foto: Foto: Edition Raetia

Ein Gastbeitrag von Johann Holzner

Marling gehört nicht zu jenen Orten, die man ganz leicht mit anderen verwechseln kann. Der Turm der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt, der Ortskern, der Waalweg ... vieles andere mehr wäre hier hervorzuheben, um diese Würdigung zu be­kräftigen: Anders als so manches Dorf, das im Verlauf der diversen Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte keinen Zug versäumt und stolz jede Mode­-Bausünde mitgemacht hat, bis es endlich auch sich selber gewandelt hat zu einem geschichts- und gesichtslosen Raum, ganz anders hat es Marling verstanden, seine Identität(en) im kulturellen und historischen Wandel nicht aufzugeben.
Aber es sind nicht nur steingewordene Monumente, die das kollektive Gedächtnis dieses Ortes (mit-)bestimmen; in Marling hat man sich auch dazu durchgerungen, aufzube­wahren und lebendig zu halten, was über die Jahrhunderte passiert ist, was die Menschen in diesem Dorf bewegt, ge­freut, durchgebeutelt hat: Die groß-angelegte, vierbändige Dokumentation „Die Urkunden von Marling“ (herausge­geben von der Raiffeisenkasse des Ortes), die Zeugnisse vom 13. bis zum 20. Jahrhundert versammelt, ist ein Kom­pendium, das in Südtirol (und nicht nur dort) seinesgleichen sucht.

Maridl Innerhofer hat an diesem Werk von allem Anfang an federführend mitgearbeitet; und sie hat gleich den ersten Band mit „Zwei Gedanken zum Buch“ eröffnet. Mit Verszeilen. Am Beginn dieser Gedanken steht eine rhetorische Frage:

Schriftn va gestrn -
wos hom de ins za sogn?

Es ist gut möglich, dass Maridl Innerhofer in Marling mehr als einmal mit dieser Frage konfrontiert worden ist. Wäre das viele Geld, das diese Dokumentation verschlungen hat, nicht auch anders, wäre es nicht überhaupt besser anzulegen oder auszugeben gewesen? Maridl Innerhofer greift die Frage je­denfalls auf und antwortet, ohne auch nur einen Augen­blick auszuweichen: Wo würden wir landen, wenn wir unser kulturelles Erbe auf dem Müllhaufen der Geschichte spei­chern und also vergessen, was unsere Vorfahren erstrebt und geschaffen, gestritten und gelitten, versäumt, verworfen, ver­schwiegen und dann doch auch wieder weitererzählt ha­ben?
Lew Tolstoi, der Autor von „Krieg und Frieden“, hat in sei­nem programmatischen Aufsatz „Was sollen wir denn tun?“ (1882-1886) begründet, warum er sich von seinem früheren Leben abgewandt hat, und er hat zugleich einer neuen Kunst das Wort geredet: „Wir Künstler studieren und schildern das Volk zu unserem Vergnügen und zu unserer Unterhaltung; wir haben vollkommen vergessen, daß wir es nicht studieren und darstellen, sondern ihm dienen müssen.“ Der Gesell­schaft dienen: Maridl Innerhofer hätte dieses Programm be­stimmt mitunterschrieben. Als Chronistin wie auch als Dich­terin hat sie nie den Blick von oben („zu unserem Ver­gnügen und zu unserer Unterhaltung") gewählt, sie hat den Blick von unten oder auch den Blick von außen immer vor­gezogen: Außen zu stehen schärft den Blick.

Souverän hat sie indessen auch die Subjektivität ihres Blicks immer wieder geradezu emphatisch unterstrichen:

Siehe, die Seerosen blühen
Ich habe meine Träume
auf ein Schilfrohr gehängt
und seitdem freue ich mich
über den Föhn!

Ich habe meine Wünsche
auf den Sand hingestreut
und warte nun
auf die Flut!

Ich habe meine Hoffnung
in den Teich gepflanzt
und siehe,
die Seerosen blühn!

Das Gedicht, mit einem einfachen Kopierapparat vervielfäl­tigt und auf einem Flugblatt abgedruckt, bedarf kaum einer Interpretation. Klartextlyrik. Und doch: Das Gedicht verrät die Brüchigkeit des modernen Subjekts und gleichzeitig das Selbstbewusstsein dieses „Ich“; wie es sich inszeniert, wie es mit seinen Träumen und Wünschen, schließlich auch mit sei­ner Hoffnung umgeht und dabei immer darauf vertraut, in all den Gefährdungen nicht unterzugehen. Literatur als Be­gleitgesang der Zersplitterung und Zerstörung ist nie ihre Sache gewesen; Maridl Innerhofer hat vielmehr immer an der Überzeugung festgehalten, dass Künstler auch als Über­lebenskünstler wirken sollten.
Im großen „I“, das keineswegs sonderlich betont werden muss und doch im Dialekt das „Ich“ ersetzt, ist gar nicht sel­ten ein rebellischer Gestus verborgen. Dieser Gestus kann sich hin und wieder sogar in einem Liebesgedicht wiederfin­den, und er findet sich auch in den folgenden Versen, in dem an ein „Du“ gerichteten Appell, sich an Shakespeares „Romeo und Julia“ zu erinnern

I leid's nit,

daß du aweckgeahsch
toarat und laar
so ols wenn
's Liad va dr Nochtigoll
gor nia gwesn war!

Mundartdichtung ist in der Regel Gelegenheitsdichtung. In die Bibliothek der Schönen Literatur, der Kunst, die nichts mit Souvenirläden zu tun hat, gehört sie nur dann, wenn der Dialekt etwas leistet, was die so genannte Hochsprache nicht leisten könnte. Mundartgedichte, die in die Standardsprache übertragen werden können, ohne dass dabei Verluste zu re­gistrieren wären, stehen demgemäß (das gilt für die senti­mental-idyllische wie für die zeit- und gesellschaftskritische Mundartliteratur) sich selbst im Weg. – In diesem Gedicht „I leid's nit“, es stammt aus der Broschüre „A Hondvoll Minz“ (1985), nutzt Maridl Innerhofer die günstigen Konstellatio­nen, die der Dialekt bietet, voll und ganz aus: Das Gedicht verweist unter einem auf das Naheverhältnis zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ (einen Zustand tiefster Vertrautheit) und auf einen aktuellen Bruch ... den hinzunehmen das lyrische Ich sich mit allen Kräften wehrt. Beide, das „Ich“ und das „Du“, sprechen und verstehen dieselbe Sprache, sie stammen also auf jeden Fall aus demselben Raum und gehören offen­sichtlich auch derselben Generation an; Jugendliche wüssten mit Charakterisierungen wie „toarat und laar“ nämlich mit­unter schon nichts mehr anzufangen.

Die Dialektgedichte führen gewöhnlich hinein in eine Sprach­welt, die eng begrenzt, aber keineswegs zwangsläufig zu­gleich engstirnig oder engherzig ist, sie verweisen auf ein Milieu, in dem bestimmte Grundwerte auch angesichts atem­beraubender Fortschritte in verschiedensten Bereichen nicht
Tag für Tag über Bord geworfen werden, auf Denkweisen und Empfindungen und Haltungen, die noch so etwas wie einen Erfahrungsschatz kennen, und schließlich auf Figuren, die in ihrem Sprachraum gebunden und trotzdem ihm ver­bunden sind. Maridl Innerhofer ist in dieser Sprachwelt zu Hause, ihre Gedichte lassen diese Welt wieder-aufleben, ohne sie zu beschönigen oder umgekehrt zu denunzieren (und damit die Lektüre massiv zu steuern); konkret, plas­tisch, vielschichtig (hin und wieder können auch zwei Wör­ter lange Geschichten erzählen) gerät in diesen Gedichten, in dieser wunderlichen Wort-Welt vielmehr eine Welt ins Blickfeld, die provozieren soll: weiter nachzudenken über die eigene kleine wie über die große Welt.

Aus Maridl Innerhofers erster Buchveröffentlichung stammt das folgende Gedicht.

's Gedicht

Kurz soll's sein,
grob soll's sein
und jo nit reimen
dorf si's.

Wenn i so dichtn tat,
hot man mir gsogg,
nochr war i ,in'.

Von Vorschriften, welcher Art auch immer, lässt sich Maridl Innerhofer kaum jemals einschüchtern. Auf Mundartdichter­-Tagungen meldet sie sich eher selten, aber immer dann umso entschiedener zu Wort, wenn es aus ihrer Sicht darum geht, alle Spielräume zu verteidigen, die ihr, wie allen, die schreiben, zur Verfügung stehen. - „'s Gedicht“ verzichtet tatsächlich (listig) auf eine durchgehende Reimstruktur. Aber es sträubt sich zugleich gegen all die Zumutungen, die alle­samt ein nach 1968, in den 70er-Jahren weithin dominantes ästhetisches Konzept widerspiegeln. Mit Modeströmungen mitzuschwimmen ist nie ihr Anliegen gewesen; dabei, über neue Entwicklungen im Bereich der Lyrik hat sich Maridl Innerhofer doch fortgesetzt und gewissenhaft informiert. Die Debatten rund um den (1993 von Alfred Gruber ins Leben gerufenen) Lyrikpreis Meran hat sie z. B. regelmäßig aufmerk­sam mitverfolgt (und anschließend, im kleinen Kreis, gern auch kritisch kommentiert). „Kurz soll's sein, / grob soll's sein“; in den 90er-Jahren ist dieses Konzept bekanntlich längst schon wieder mega-out gewesen.
Das Meraner Kurhaus, der Hauptschauplatz der eben er­wähnten Lyrik-Debatten, wird in einem der frühen Gedichte von Maridl Innerhofer, „Wintrtog af dr Kurpromenad", schon einmal erwähnt, allerdings aus einer Perspektive, die in den Katalogen der verschiedenen Tourismusvereine der Region nirgendwo wiederbegegnet. Das Gedicht vermittelt anderes als die Werbung, und es vermittelt, was es mitzuteilen vor­hat, auch ganz anders.

Wintrtog af dr Kurpromenad

Die Taubn
de pickn wia sunsch,
lei daß kuan Fotograf
ummr isch
und kuane Fremmen
ihmene a Fuattr sanen.
Dompf steigg
ausn miadn Passrwossr
und hängg si

in die nockatn Paam
und tropft von die laarn Bänk.
's Kurhaus
steaht gel und weiß
in Nebl.

Was das Gedicht mitteilt: Beobachtungen, (fast) ohne jede Wertung. – Auch die charakterisierenden Beiwörter („miad", „nockat", „laar", „gel", „weiß") sind keineswegs eindeutig mit positiven oder negativen Konnotationen aufgeladen: Das Ge­dicht ist somit als Einladung zu lesen, die Landschaft, die ge­wohnte Umgebung in einer mehr oder weniger ungewohnten Stimmung, womöglich sogar mit neuen Augen zu sehen, und nicht zuletzt am Ende auch sich selbst, mitten im Dampf, der aus der Passer aufsteigt, ehe sie in die Etsch einmündet, inmit­ten dieser (Wort-)Welt. Vordergründig wendet sich das Gedicht nur an die Einheimischen, von daher wie selbstverständlich im Dialekt. Doch es ist gut denkbar, dass es auch die Fotografen, die Fremden, die Besucher/innen der Kurstadt anspricht (denn das verstehen die auch, wenn sie nur Deutsch verstehen): da­rüber nachzudenken, was sich alles zuträgt in der Hochsaison in Meran und was dagegen am selben Ort zu beobachten und zu erleben wäre an einem kalten Wintertag.

Es böte sich an, über das Verfahren, das in dem Gedicht „Wintrtog af dr Kurpromenad" praktiziert wird, sozusagen eine Schule des Schauens im Alleingang, neue Zugänge auch zu jenen Gedichten von Maridl Innerhofer aufzustoßen, in denen explizit das Thema Heimat verhandelt wird. Aber an dieser Stelle soll stattdessen hier dieses Gedicht mit zwei anderen Gedichten verglichen werden, und zwar mit (jünge­ren) Texten von Christoph Wilhelm Aigner und Sarah Kirsch.
In seinen immer höchst kunstvoll komprimierten Gedich­ten geht C. W. Aigner, unbeeindruckt von den rasch wech­selnden Strömungen der Zeit und ihren jeweils dominanten Farbenmischungen, hartnäckig ganz eigene Wege. Diese Wege führen ihn gewöhnlich heraus aus dem Alltagslärm immer wieder in die Natur. Seine Gedichte haben indes nicht das mindeste gemein mit jener Naturlyrik, die in den 60er- und 70er-Jahren, im Gefolge der Studentenbewegung, in Verruf geraten ist; in ihrem Mittelpunkt steht nämlich, wie in dem folgenden Gedicht, der die Natur Betrachtende selbst:

Alleingang

Absonderlich fliegt der Schnee
von Blitzen aufgestöbert
aus sieben Wolkenschichten
wie vom Donner erschreckt

Auf den Feldern liegt
das weiße Tuch bereit

Der stockende stotternde Bach
mit seinem Eisschorf dem wulstigen
gläsernen Rand verspannt
mit bleichgewordenen Weiden

In dem kurzen Vorwort, das Aigner schon seinem Gedicht­band „Landsolo" (1993) vorangestellt hat, schreibt er sei­nen Kritikern ins Stammbuch: „Weshalb anklagen? Ich bin froh, daß ich diese Welt sehen darf. Nur denke ich nach, auf welche Weise es möglich ist, diese Welt wahrzunehmen. Also erfinde ich Bilder. Oder finde ich?“ Wie auch immer, im „Alleingang“, und wohl nur im Alleingang ist das mög­lich, versucht das lyrische Ich, sich von den gewohnten Bil­dern zu befreien und die gewohnten Grenzen des Sehens zu überqueren: schrittweise die Wirklichkeit, die Wahrheit zu eruieren durch ein Textgewebe, das Wirklichkeit, statt sie bloß abzubilden, herstellt. „Sehen heißt denken“, hält Aigner in der „Logik der Wolken“ lakonisch fest.
Am Anfang des Gedichts steht eine Empfindung. „Abson­derlich" (das Metrum hebt die Perspektive noch heraus) er­scheint dem lyrischen Ich, das direkt allerdings nie in Er­scheinung tritt, denn seine subjektive Sicht ist ihm die einzi­ge, die gültig ist, absonderlich erscheint ihm nicht nur das Naturschauspiel, das sich vor seinen Augen zuträgt, der Schnee, der „fliegt", nicht fällt, absonderlich erscheint ihm darüber hinaus die ganze Welt, als wäre sie, in der magi­schen Zahl sieben ist das impliziert, mit Begriffen aus der Welt der Wissenschaften nicht zu fassen, ein Zaubergelände.
In der zweiten Strophe, in der Mittelachse des Gedichts, wird der Blick zurückgelenkt vom Himmel auf die Erde. Aber er ist bereits geschärft, auf das Wesentliche konzen­triert. Er kann deshalb alle Bilder dieser Welt zur Seite schie­ben und durch ein einziges, ein kleines Bild ersetzen. Es ist ein Bild der vollkommenen Ruhe; und doch, im Bruch zwi­schen den beiden Zeilen verrät sich eine Aufregung, die erst im Nachhinein verständlich wird, ein mächtig beunruhigen­des Bild zugleich. Denn „das weiße Tuch“ ist zwar imstande zuzudecken, was immer darunter brach liegt, umgekehrt je­doch, fast unmissverständlich, auch ein Zeichen, ein Vor­-Zeichen des Todes.
Von daher ist es wenig verwunderlich, dass die dritte Strophe, in einem vorwiegend von Vokalen und Konsonan­ten erzeugten Subtext, weit mehr über die Innenwelt des Betrachters aussagt als über die hier betrachtete Natur. Ein dichtes Netz phonetischer Elemente sorgt schließlich da­für, dass das Beängstigende im Konstrukt die Oberhand gewinnt; es schlägt sich nieder auch in der Satzstruktur, die mehr in Schwebe hält, als sie feststellt, und es äußert sich zuletzt am stärksten in dem Bild, mit dem uns das Gedicht entlässt.

Es ist kein Zufall, dass das Gedicht nicht mit einem Schlusspunkt schließt. So wendet es sich, offen, an ein Ge­genüber, überlässt es (wie der „Wintrtog af dr Kurpromenad“ auch) der Leserin/dem Leser, sich einen eigenen Reim zu machen: im „Alleingang“ und über den „Alleingang“, in einer neuen Rückbesinnung auf die gegebenen Möglichkeiten, die Entfremdung von den existenziellen Dingen aufzuheben.
Das Wahrnehmungsbewusstsein zu entfalten ist das Haupt­anliegen dieser Poesie. Sie sträubt sich, stehen zu bleiben bei der Klage, auch wenn es genug zu klagen gäbe, weil sie im Gestus der Klage nicht viel mehr sieht als einen Ausdruck der Lethargie. Was das Subjekt, was seine Sensibilität bedroht, ist hier durchaus angedeutet; aber im Brennpunkt steht die Reaktion auf die Bedrohung, eine Reaktion, die nicht selten, selbstbewusst, das Gegen ignoriert und folglich umschlägt in eine Aktion. In eine Aktion, die wenigstens das Individuum in eine Bewegung zu versetzen sucht, wenn schon nicht die Welt sich ändert.

Das nun folgende Gedicht von Sarah Kirsch führt uns noch einmal zurück auf die Meraner Kurpromenade:

Meraner Rabe

Verlor mich nicht aus den
Augen wendete den
Kopf trank in der
Brunnenschale vor dem
Alpenverein versprach
Unmenschliches Glück oder Unglück

Dieser Rabe ist im wahrsten Sinne des Wortes ein seltener Vogel. Er beobachtet einzig und allein das lyrische Ich, aus dessen Perspektive erzählt wird, er wendet den Kopf, er trinkt in der Brunnenschale vor dem Alpenverein und schließlich spricht er auch noch, oder jedenfalls: er ver-spricht „Un­menschliches / Glück oder Unglück“. Das Gedicht verrät noch mehr: Indem es auf jedes Satzzeichen verzichtet, macht es erst darauf aufmerksam, dass der Rabe, von dem da die Rede ist, anders als hier zunächst angedeutet, keineswegs eins nach dem andern erledigt, sondern, wie ein Zauberer, alles zur gleichen Zeit. Selbst wenn er den Kopf wendet, ver­liert er das lyrische Ich „nicht aus den Augen“, so wie umge­kehrt das Ich von dem Raben völlig gebannt ist.
Es ist ein unheimlicher Rabe, unheimlich wie der bekann­teste Rabe der Weltliteratur, jener von Edgar Allan Poe, und doch auch wieder ein Rabe, dem man eine durchaus mensch­liche Zuneigung schenken möchte, könnte er doch zu jenen traurigen Unglücksraben gehören, die ihr Dasein einer unbe­dachten Verwünschung verdanken und demnach tagtäglich auf Erlösung warten und hoffen, wie „Die drei Raben“ aus dem schwäbischen Volksmärchenschatz oder die mit diesen verwandten „Sieben Raben“ aus der Märchensammlung der Brüder Grimm.
Das lyrische Ich, obgleich es mitten im Getümmel der Stadt steckt, sieht nichts anderes mehr von Meran außer eben den Raben. Was ringsum sich abspielen mag, nicht der Rede wert, verschwindet aus seinem Blickfeld, aus dem Bild. Was sichtbar wird, ist folglich alles andere als ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit der Kurstadt, es ist ein Zaubergelände. Ein Ort, an dem das Leben anderen Gesetzen gehorcht als den von außen oder oben verordneten: wunderlichen eben, märchenhaften, poetischen.
Mit dem „Wintrtog af dr Kurpromenad" verhält es sich nicht anders; einmal abgesehen davon, dass Tauben sich mit Raben natürlich nie messen können.

Salto.bz in Zusammenarbeit mit Edition Raetia
Teil 2 bei Salto Weekend 15.12.2018