Società | 50 Jahre 1968

Schulbesetzung, Hungerstreik und Bomben

Birgit Eschgfäller hat im Buch "1968. Südtirol in Bewegung" ein Stück jüngere Zeitgeschichte eingefangen. Teil 1: Die Rolle der Oberschüler innerhalb der 68er-Bewegung.
1.jpg
Foto: Valeria Malcontenti

Anders als die Studenten hatten die Schüler eine Institution, gegen die sich wenden konnten. Grund zum Protest gab es an Südtirols Oberschulen genügend. Nachdem 1961 die Einheitsmittelschule eingeführt worden war, wären auch strukturelle Reformen der Oberstufe notwendig gewesen, diese blieben jedoch aus. Hinzu kam ein akuter Mangel an Lehrpersonen. Durch Kontakte mit Studierenden wurden die Schüler außerdem auf die Unruhen in den Nachbarländern aufmerksam. 

Kritische Schüler konnten im „Reflektor“, der Schülerzeitung der Handelsoberschule, erstmals ihre Anliegen artikulieren. Der schulübergreifende Kontakt war nicht von Dauer, sodass es zu keiner Mobilisierung einer größeren Schülermasse kam. Allerdings fanden themenspezifische Diskussionen und Aktionen im Zeitraum zwischen 1967 und 1973 statt. Ein Beispiel für so eine Aktion ist die Besetzung eines Lyzeums in Meran im November 1968 nach dem Ausschluss einiger Schüler von der Abschlussprüfung. Dieser Vorfall machte deutlich, dass der Protest von den italienischen Hochschulen auch auf die Oberschulen übergeschwappt war. Anfang November kam Daniele Mattalia, der ehemalige Direktor des Mailänder Gymnasiums „Parini“, nach Bozen, um dort einen Vortrag zu halten. Der Unterrichtsminister Luigi Gui hatte ihn suspendiert, weil er sich mit seinen Schülern solidarisiert hatte. Mattalia verwies vor allem darauf, dass eine neue Südtirol-Autonomie kein Zugeständnis des Staates sei, sondern als Chance einer demokratischen Neugestaltung Italiens genutzt werden müsse. „Demokratisierung“ war folglich auch in der Südtiroler Oberschulbewegung, genauso wie in den Nachbarländern, zentrales Schlagwort und Inhalt zahlreicher Auseinandersetzungen. 

 

Schüler, wehrt euch! 

 

So lautet der Titel eines Artikels in der Schülerzeitung „Reflektor“, der das Aufbegehren gegen die autoritären Strukturen zum Ausdruck bringt. Zu diesem Zweck wurde die Gründung einer Vereinigung Südtiroler Oberschüler diskutiert, um geschlossen in der Öffentlichkeit auftreten zu können und sich mit den Kernproblemen auseinanderzusetzen. Zudem könne so die Jugend, „da sie bis heute noch nie gefragt wurde, auch antworten, wenn sie nicht gefragt wird“. Das Ziel der Vereinigung sei es, vorhandene Probleme auch an die heranzuführen, die sonst nicht zu erreichen seien. Die Vereinigung solle laut „Wodan“ (Pseudonym) außerdem folgenden Hauptzweck haben: „Die Kräfte einer geistigen Aktivität zu wecken, und sofern sie vorhanden sind, anzukurbeln. Die Ziele und Absichten der studierenden Jugend der breiten Masse bekannt zu machen.“ 

Im Staatlichen Gymnasium-Lyzeum Bozen wurde 1968 auch ein Schülerrat gegründet, dessen Ursprung und Tätigkeit sich ebenfalls aus dem „Reflektor“ herauslesen lassen: Anlass der Gründung war der Ausschluss von drei Mitschülern vom Unterricht und die Androhung weiterer Repressalien. Da dieses Vorgehen den demokratischen Grundsätzen einer humanistischen Schule widersprach, wollte man dagegen vorgehen. Also gründete man angeregt von der ersten Forumsdiskussion über die Studentenbewegung im Stadtsaal nach einer Aussprache mit den Professoren einen Schülerrat. Dieser sollte dafür sorgen, dass den Schülern ein Raum für ihre Treffen zur Verfügung gestellt würde, und sich für eine progressivere Unterrichtsgestaltung und einen direkteren Austausch zwischen den Klassen einsetzen. Am Ende der Diskussion wurde schließlich eine Resolution ausgearbeitet, die an den Unterrichtsminister adressiert war und zentrale Forderungen enthielt. Allerdings scheiterte die zunächst vielversprechende Bewegung. Als Gründe dafür wurden die Schulstruktur, der fehlende Kontakt mit der Basis, die geringe Mitarbeit der Schülerschaft und die Beschränkung auf nur eine Schule genannt.

Dennoch wurde die Forderung nach einem Schülerparlament laut. Alfio Cozzi, der für beide Sprachgruppen zuständige Südtiroler Schulamtsleiter, sprach in einer Sitzung des Arbeitskreises „Die Schule als Ferment der Gesellschaft“ ganz offen davon, dass er eine Reform des Schulwesens begrüßen und unterstützen würde, dass diese von den Schülern mitgetragen werden müsse und dass der Lehrer ein kritischeres Verhältnis zur Schulbuchmeinung einnehmen müsse, um die Urteilskraft der Schüler zu fördern. Auch Themen wie Sexualerziehung und politische Bildung müssten eingebaut werden. Der Arbeitskreis „Die Schule als Ferment der Gesellschaft“, der bereits im zweiten Teil der 12. Studientagung der Südtiroler Hochschülerschaft 1968 in Brixen aktiv wurde, stellte einen ersten wichtigen Schritt in Richtung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Interessensgruppen dar. Zu den ständigen Mitgliedern gehörten: Hellmuth Ladurner (Vorsitzender der SH Bozen-Wien), Franz Kössler (Oberschüler in Bozen) und Dr. Andreas Stoll (Mittelschullehrer in Meran).

Viele der Zeitzeugen erzählen heute, dass es an ihrer Schule jeweils zumindest eine Lehrperson gab, die sich mit ihnen solidarisierte oder sie gar zu einer kritischeren Haltung anregte. Dabei fallen unter anderem Namen wie Alexander Langer und Luis Benedikter. Diese Lehrpersonen sahen ähnliche strukturelle Missstände wie die Schüler und unterstützten sie in ihrem Engagement. Auch vonseiten der SH wurde bis in die 70er-Jahre die Zusammenarbeit mit den Oberschülern angestrebt; einige der Studenten forderten ein näheres Verhältnis, die Mitarbeit der Oberschüler an Veranstaltungen der SH, in den Arbeitskreisen und bei Tagungen, die Schaffung eines Oberschülerreferats und die Mitgestaltung des „Skolast“. Auch finanziell und in Rechtsfragen sollte die SH die spontane Oberschülerbewegung unterstützen. Darüber hinaus wünschten sich die Oberschüler Initiativen für ein neues Verhältnis zu den italienischen Südtirolern, etwa mit einer Studientagung zum Thema und der Einladung zusätzlicher italienischer Referenten und Studenten.

 

Die Schülerzeitung „Reflektor“ 

 

Das Sprachrohr für die Gedanken und Pläne der Oberschüler zur Zeit der 68er war der „Reflektor“, der an der Handelsoberschule in Bozen von 1967 bis 1969 als kritische Schülerzeitschrift herausgegeben wurde. Die Zielsetzung der Schülerzeitung war bereits in der ersten Ausgabe formuliert: Die Redakteure lehnten eine Schulordnung ab, die von einer kleinen Herrschaftsschicht ausgearbeitet worden war. Sie berücksichtigte nämlich die „speziellen Positionen des Schülers“ nicht. Ihr sollte eine Reform „von unten“ entgegenstellt werden. Dafür wollte man bei den zuständigen Stellen um Verständnis werben und fortschrittliche Lehrer als Mitstreiter gewinnen. Das Schulsystem selbst sahen die Herausgeber als „Produkt einer autoritären und etablierten Gesellschaft“ und daher als reformbedürftig. Sie wollten sich mit allen legalen Mitteln für eine Demokratisierung der Schule einsetzen. Doch damit nicht genug – die Schülerzeitung machte es sich auch zur Aufgabe, das Klassenbewusstsein in der Schülermasse zu wecken. Damit auch die Öffentlichkeit auf die veraltete und überholte Schulstruktur aufmerksam würde, wollte man sowohl mit anderen Schulen als auch mit „italienischen Kollegen“ zusammenarbeiten. Langfristig wurden eine Vereinigung der Oberschüler Südtirols und eine jugendeigene selbständige Presse angestrebt.

 


"Gelb ist der Sand in Helgoland" 

 

Interview mit Franz Kössler, einer der Herausgeber des „Reflektor“, später ORF-Journalist 

 

Wir waren ungefähr fünf bis sechs Leute in der Maturaklasse, die mitgeschrieben haben. Wir haben die Zeitschrift dann selbst hektografiert und um die Materialspesen zu decken, haben wir sie für 100 Lire verkauft. Ein paar Mitschüler fanden den „Reflektor“ interessant, andere haben ihn eher aus Freundschaft gekauft. Wir waren keine wahnsinnig große Bewegung, zumal in der Handelsoberschule ja die meisten einen Job in der Bank wollten und mit unseren Ideen nicht viel anfangen konnten. Aber ein Bezugspunkt waren wir schon. Entstanden ist der „Reflektor“ nach der Demonstration gegen den Unterrichtsminister. Ich erinnere mich noch an Lidia Menapace, damals Landesrätin der Democrazia Cristiana. Sie ging immer voraus und wurde von der Polizei verprügelt.

Diese politische Stimmung der 68er-Bewegung wollten wir wiedergeben. Die Schülerzeitung musste jedoch vom Direktor genehmigt werden, wir brauchten ja auch die Blätter und das Hektografiergerät. Er war zwar zunächst einverstanden, wollte aber, dass wir darin Reiseberichte und Ähnliches abdrucken. „Gelb ist der Sand in Helgoland“, das war einer dieser Artikel eines Mitschülers, die auch dem Direktor gefielen. Wir wollten aber über Pluralismus und Demokratie reden und sind dann immer politischer geworden. Als der Direktor damit drohte, uns nicht zur Matura zuzulassen, gingen wir zur SH. Hellmuth Ladurner, der damals Vorsitzender war, unterstützte uns dabei, die letzten Nummern dort zu vervielfältigen. Reaktionen auf die Zeitung gab es vereinzelt – ich weiß noch, dass sich aus Meran eine Schule gemeldet hatte, denn eigentlich wollten wir die Schülerzeitung auf alle Schulen ausweiten. 

 


Bildungsrückstand und Vertrottelung! 

 

Bis zum inklusiven Bildungssystem war es in Südtirol ein langer Weg. „Die Welt der Lehrer lässt sich leicht in fortschrittliche Lehrer und in autoritäre Schweine, in Leitfiguren und in Handlanger der Macht gliedern,“ so beschreibt Siegfried Nitz seine Erfahrungen mit Lehrpersonen der damaligen Zeit. Die strukturelle und personelle Beschaffenheit des Schulsystems war Dreh- und Angelpunkt der Oberschulbewegung. Sie forderte eine gesellschaftliche Öffnung des Schulsystems und neue Unterrichtsmethoden. Mit „Bildungsrückstand“ der Südtiroler etikettierten viele die Lage im Land. Auch der SFP-Politiker Egmont Jenny äußerte sich 1970 in einem Interview sehr kritisch zur Situation: Die Gesellschaft in Südtirol sperre sich gegen „jede grundlegende Neuerung ihrer politischen und sozialen Struktur […]. Die Intellektuellen haben in Südtirol noch nie eine Rolle gespielt […]. Woran Südtirol besonders leidet, das ist die Vertrottelung […].“ 

Der Anlass für diese scharfen Äußerungen lag nicht zuletzt in der langen Vernachlässigung des Schulwesens vonseiten der Politik begründet. Bis in die 50er-Jahre besuchten die meisten nur die dörfliche Volksschule. Sekundarschulen gab es bis 1958 nur in Städten. Bei einer fünfklassigen Volksschule und einer achtjährigen Schulpflicht führte dieser Umstand dazu, dass Schüler einige Klassen zweimal machten. Das Ergebnis waren Gemeinden mit über hundert Schülern im Alter von 11 bis 14 Jahren, von denen nicht einer die Mittelschule besuchte. Nach der Volksschule gab es zwei Möglichkeiten: die allgemeinbildende und beruflich ausgerichtete Kaufmännische Vorbildungsschule oder die Lateinmittelschule als Voraussetzung für eine weiterführende Schule. 

1963 wurde die Pflichtmittelschule eingeführt und das hatte eine Zunahme der strukturellen und personellen Defizite zur Folge. Der Lehrermangel und die damit zusammenhängende Supplentenfrage waren bis in die 80er-Jahre hinein eines der größten Probleme. Da zwischen 1957 und 1977 die Schülerzahl der Sekundarstufe 1 um das Siebenfache anstieg, mangelte es auch an Infrastruktur und Unterrichtsräumen. Problematisch war auch, dass viele Lehrpersonen trotz Reform noch dieselben Selektionsprinzipien anwandten wie zuvor in der Lateinmittelschule. Das führte dazu, dass die Durchfallquote teilweise bei 30 bis 40 Prozent lag und viele die Mittelschule ohne Abschlusszeugnis verließen. Die Oberschule wurde trotz der Einführung der Pflichtmittelschule nicht reformiert. 

 

Mehr Mitsprache! 

 

Die beschriebene Situation war primärer Auslöser der Proteste der Südtiroler Oberschüler. Besonders engagiert in diesem Bereich war die bereits angeführte Handelsoberschule in Bozen mit ihrem Sprachrohr „Reflektor“. Franz Kössler stellte die Grundfrage nach der Ausrichtung und Funktion der Schule: Spiegelbild der Gesellschaft oder autonomer Freiraum gegenüber den Herrschaftsapparaten? Auch Edi Rabini, der zu dieser Zeit Schuldiener in einem der Gymnasien war, erinnert sich, dass die Schüler vor allem gegen die Willkür der Professoren aufbegehrt hätten und die Unterrichtsmethoden und Inhalte ihnen nicht zeitgemäß erschienen seien. Dabei sei den Schülern teilweise die Forderung nach weniger Hierarchie wichtiger gewesen als eine gute Didaktik. Um über derartige Vorschläge, Forderungen und Probleme diskutieren zu können, wurden zahlreiche Veranstaltungen organisiert. Am 14. März 1968 veranstalteten beispielsweise „die brücke/Forum Nord-Süd“ eine Diskussion zum Thema „Was wollen die Studenten?“. Dabei wurde vor allem betont, dass sich die Oberschüler im Kampf gegen autoritäre Bevormundung zusammenschließen müssten. Manche „lokalen, unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten und Probleme“ ließen sich nur durch sprachgruppenübergreifende Zusammenarbeit lösen. Am 7. Mai 1968, wenige Monate darauf, lud eine Gruppe Südtiroler Oberschüler zum Thema „Ist die Studentenbewegung auch für Südtirols Schule aktuell?“ ein. Der „Reflektor“ druckte schließlich die unterschiedlichen Referate dazu ab, die sowohl von deutsch- als auch italienischsprachigen Rednern gehalten worden waren. Heiß diskutiert wurde über den zeitlichen Ablauf der Schul- und Gesellschaftsreform sowie die Art und Intensität der Zusammenarbeit zwischen den Sprachgruppen.

Bereits 1968/69 fanden Besetzungen von deutschen und italienischen Oberschulen statt. So finden sich im Landesarchiv Flugblätter zur Besetzung der italienischen Handelsoberschule „C. Battisti“ vom 13. bis zum 15. März 1968 mit 12 Vorschlägen zur Verbesserung der Schule sowie 10 Punkten mit allgemeinen Richtlinien zur Reform. Ebenso wurde das Klassische Lyzeum vom 17. bis 18. November besetzt und ein Flugblatt dazu von 230 besetzenden Studenten unterzeichnet. Auch in der „brücke“ wurde über einen Schülerstreik an der Handelsoberschule in Bozen berichtet, der am 11. Jänner 1969 stattfand, nachdem man einen Schulausflug unter einem Vorwand abgesagt hatte. In der offiziellen Presse wurde davon allerdings nichts erwähnt, man schwieg darüber. Und auch anderswo in Südtirol kam es zu Streiks, die nicht immer an die Öffentlichkeit gelangten, so erinnert sich Klaus Gasperi: „1968 habe ich die Abschlussklasse der Kunstschule in Gröden besucht. Einmal haben wir die Schule bestreikt, wir wollten unbedingt einen Italienischlehrer loswerden, einen alten Faschisten. Das ist uns auch gelungen. Beim Religionsunterricht hat der Pfarrer immer Katechismen verteilt – und ich die rote Mao-Bibel.“

In dieser ersten Phase waren die Aktionen der Oberschüler wenig medienwirksam. Die Initiativen blieben meist auf einzelne Schüler und Schulen begrenzt und waren noch in keiner einheitlichen Bewegung organisiert. Dazu kamen sprachgruppenübergreifende Initiativen, so wurden die meisten Flugblätter bereits in dieser Zeit zweisprachig verfasst. Sprachgruppen- und schulübergreifend war vor allem eine Aktion, nämlich jene gegen den Unterrichtsminister Luigi Gui. 

 

 

Ministerbesuch mit Molotow-Cocktail 

 

Auszug aus der Kolumne „Der gesprengte Beichtstuhl“ von Maurizio Ferrandi, Historiker und ehemaliger italienischer Rai-Chefredakteur

 

An einem Sonntag, dem 21. April 1968, explodierte in einem Beichtstuhl im Bozner Dom ein Molotow-Cocktail. Während der Rede des Unterrichtsministers Luigi Gui bei einer Kundgebung am selben Abend störten Schüler die Veranstaltung derart, dass der Minister durch die Hintertür vertrieben wurde und sie selbst aus dem Saal ausgeschlossen wurden. Vor dem Bozner Rathaus traten sie schließlich in einen Sitzstreik.400 Was war passiert? Luigi Gui sollte eigentlich die Mai-Wahlkampagne der Democrazia Cristiana eröffnen. Südtiroler Oberschüler und Studenten hatten jedoch bereits eine Protestaktion geplant, um ihre Kritik gegen den Minister kundzutun. Unabhängig davon, aber mit demselben Motiv fand die Aktion im Bozner Dom statt.

Als sich der Rauch der Explosion langsam wieder gelegt hatte und sich die Gemüter wieder beruhigten, folgten die Ermittlungen. Innerhalb weniger Stunden wurden die Täter ausfindig gemacht: drei Schüler italienischer Sprache, zwei davon aus dem Klassischen Lyzeum „Carducci“ und einer aus dem Wissenschaftlichen Gymnasium „Torricelli“. Auf der Quästur gestanden sie die Tat und dass es sich um einen „explosiven“ Protestakt gegen den Minister Gui gehandelt hatte. Das Gericht verurteilte jeden zu einem Monat und 20 Tagen Haft auf Bewährung. Während in der Tageszeitung „Alto Adige“ zwar alles dokumentiert, aber nicht kommentiert wurde, widmete die „Dolomiten“ den Geschehnissen wenig Aufmerksamkeit, beurteilte schließlich aber den Rechtsspruch als „sanft“. Im Sitz der Democrazia Cristiana in der Eisackstraße hatte man hingegen andere Sorgen – die Landesrätin für soziale Fürsorge und Gesundheit Lidia Menapace war während der Veranstaltung mit dem Unterrichtsminister nämlich nicht im Saal geblieben, sondern hatte sich mit den protestierenden Studenten draußen solidarisiert. Sie kritisierte die Entscheidung ihrer Parteikollegen, genau den in allen italienischen Schulen scharf kritisierten Unterrichtsminister nach Bozen einzuladen. 

 

Hungerstreik und Bombenanschlag 

 

In ein neues Entwicklungsstadium trat die Bewegung zu Beginn der 70er-Jahre. Hier kam es zu mehreren Vorfällen in Oberschulen, die gegenseitige Solidarisierung bewirkten und nicht zuletzt auch die Aufmerksamkeit der Studenten im Ausland weckten. Waren es in den Jahren zuvor noch einzelne Klassen gewesen, die sich gegen das Schulsystem aufgelehnt hatten, trat nun die „Basisgruppe der Oberschüler“ an deren Stelle, die verstärkt versuchte, die Anliegen an den einzelnen Schulen zu bündeln. In einer Ausgabe des „Skolast“ wurde eine bruchstückartige Auflistung der Ereignisse angeführt, die zu dieser neuen Entwicklung führten und die Vorfälle hinsichtlich des Aktionismus kennzeichneten. Anfang Juni 1971 sollte den zwei Schülern des Klassischen Lyzeums „Walther von der Vogelweide“ Monika Gasser und Erwin Proßliner wegen ihrer politischen Aktivität die Zulassung zur Reifeprüfung verweigert werden (sie waren Mitglieder der Lotta Continua). Mitglieder des Lehrerkollegiums waren unter anderem der Direktor der Schule Oswald Sailer als Deutschlehrer und Alexander Langer, der Geschichte und Philosophie unterrichtete – zwei Pole, wie sie unterschiedlicher nicht sein hätten können. Die restlichen Schüler blieben nicht untätig und organisierten vom 8. bis zum 11. Juni einen solidarischen Hungerstreik. Als am 11. Juni Pino Dinacci vom Unterrichtsministerium beauftragt wurde, den Fall zu untersuchen, wurde der Ausschluss wegen eines Formfehlers aufgehoben. Zwar hatten die Schüler somit einen ersten Erfolg verbuchen können, doch als Anfang Juli schließlich die Reifeprüfung stattfand, wurden neben Erwin Proßliner sechs weitere Schüler für nicht reif erklärt. 

Die Schüler wollten sich nicht geschlagen geben und forderten am 1. August vom Ministerium, dass die Prüfung für ungültig erklärt und wiederholt werden solle. Damit blieb der Vorfall keine schulinterne Angelegenheit mehr und auch der Vorsitzende der SH forderte den Unterrichtsminister dazu auf, die Fälle streng zu untersuchen. Am 8. September fand schließlich in Bozen eine Pressekonferenz der Beteiligten statt, da vonseiten des Ministers keine Antwort gekommen war. Die Proteste hatten somit, nach dem Hungerstreik und den Aufforderungen an das Ministerium, eine neue Dimension erreicht. Es wurde die Presse miteinbezogen und man versuchte, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Zu diesem Zweck fand am Tag darauf auch eine öffentliche Diskussion zuerst in Brixen und schließlich auch in Bozen statt. Ein Sit-in am 11. September vor dem Gymnasium verfolgte dasselbe Ziel. Tatsächlich wurde die Öffentlichkeit auf diese Weise auf die Schüler aufmerksam, jedoch nicht in der gewünschten Richtung. In der Nacht des Sitzstreiks erfolgte nämlich ein Bombenanschlag von faschistischer Seite auf die Demonstrierenden. Ein Schüler wurde dabei schwer verletzt. Die Vorfälle waren so zu einer politischen Auseinandersetzung geworden und das Schulproblem trat ungewollt in den Hintergrund. Die Presse berichtete zwar über den Vorfall, doch blieb eine größere Solidarisierung mit den Schülern aus. 

Nur einen Tag später, am 13. September, wurde ein zweiter Brief des Vorsitzenden der SH an den Unterrichtsminister geschickt, mit der Aufforderung an den Vize-Regierungskommissar und den Landeshauptmann, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Vonseiten des Unterrichtsministeriums erfolgte schließlich Mitte September die Mitteilung, dass der Rekurs abschlägig behandelt worden sei und die Schüler die Klasse wiederholen müssten. Als Reaktion darauf organisierten die Schüler einen erneuten Hungerstreik, dieser wurde jedoch nach wenigen Tagen ergebnislos abgebrochen.

 


Die Bewegung formiert sich 

 

Der Protest im Bereich des Schulwesens weitete sich noch 1971 derart aus, dass es sogar zur Versetzung einiger Lehrer kam. So wurde auch Alexander Langer von Oswald Sailer mit einem sehr negativen Dienstbewertungszeugnis bedacht und suspendiert. Nach diesem Vorfall wurde Mitte Oktober eine Resolution veröffentlicht, die angeblich geschlossen vom Lehrerkollegium des „Walther von der Vogelweide“-Lyzeums unterzeichnet worden war. Darin war unter anderem zu lesen, dass das Lehrerkollegium mit den Methoden des Direktors voll und ganz einverstanden sei und keines der Mitglieder je Opfer der Einschränkung von Gedanken- und Lehrfreiheit geworden sei, das unkollegiale Verhalten von Alexander Langer sei hingegen „zur Einschüchterung, Bedrohung und zu moralischem Zwang angewachsen“. Dennoch fand am 9. Oktober eine Solidarisierungskundgebung gegen die Versetzung von Alexander Langer statt, an der sich 2.000 Schüler beteiligten. Am 22. Oktober wurde schließlich in der „Dolomiten“ eine weitere Zuschrift des Lehrerkollegiums veröffentlicht, in der die Professoren sich von der ersten distanzierten und behaupteten, sie vor der Veröffentlichung nicht gekannt zu haben. Bereits einige Tage zuvor war es auch in Meran zu Kritik gegen das Schulwesen gekommen. Die Schüler der 1. und 2. Klasse des Lyzeums in Meran verlangten, dass ihr Deutschlehrer Schmalzl ersetzt werde, da sein Unterricht ihrer Meinung nach „anspruchslos, oberflächlich, jeden kritischen Wortes ermangelnd“ sei. Am 27. Oktober schwappte die Protestwelle wieder auf das Klassische Lyzeum in Bozen über; dort streikte die Klasse 3b gegen den Griechischunterricht von Emil Sepp und begründete dies damit, dass er „seinen Unterricht nur auf Angst und Notenterror aufgebaut“ habe. Ihr Sitzstreik war durchaus erfolgreich, denn Anfang November nahmen die Schüler auf Wunsch der Eltern wieder normal am Unterricht teil und Professor Sepp unterrichtete nicht mehr in der 3b.



Lesen Sie morgen Teil 2: The Summer of Love - Die Musik der 68er.