Ambiente | Exkursion

Winter bei den Wölfen

Eine neue Form des Ökotourismus bildet sich auch in den Alpen heraus: Wolfwatching. Da sich wildlebende Wölfe fast immer versteckt halten, fasziniert schon die Spur.
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Erzähle jemandem um 1900, fast achzig Menschen brachen an zwei Winter-Samstagen auf, Wolfsspuren zu suchen und eine Landschaft zu genießen, in der seit 2012 Wölfe leben. Das hätte niemand geglaubt...Seitdem veränderte sich viel, in der Landschaft und in der Gesellschaft.

Im Jänner (erste Exkursion am 23. Jänner 2016) fand sich nur ein schmaler Streifen Schnee in einem schattigen Tälchen, eine Spur deutete auf Wolf hin, war aber von Wanderern und Hunden beeinträchtigt. Im Februar (zweite Exkursion am 13. Februar 2016) lagen 40 Zentimeter Schnee, es hatte bis in den frühen Morgen geschneit. Die Spur, die der Wanderführer Gianmarco Lazzarin sah, deutete von den Abständen der Beine auf Wölfe hin, aber der Schnee füllte die Spuren zu sehr auf, um es genauer zu sagen. Die Gruppe folgte der Fährte. Wie ein gespanntes Band zog sich die Fährte unterhalb der Waldgrenze dahin. Ganz vorne im Zug rief Roberto aus Verona: Spuren! Er und Gianmarco verschwanden unter drei Fichten, wo der Schnee schütter lag. Tatsächlich erkannten sie ganz deutliche Abdrücke eines Wolfs. Er musste hier gegen drei Uhr morgens gelaufen sein, wie Gianmarco errechnete. Alle reihten sich ein, in die Senke unter die Fichten zu kriechen und die Abdrücke einen Moment für sich zu haben. Manche waren ganz still und andere außer sich, aber alle fasziniert, acht, neun Stunden entfernt von einem wildlebenden Wolf zu sein.

Dass wir keinen sehen würden, das war klar. Wie die Rehe, Hirsche, Hasen, Wildschweine und Füchse hielten sich die Wölfe am Tag in den Waldinseln versteckt. Nur ein Schwarm Buchfinken stob auf. Bei unserer ersten Exkursion lagen Flecken von Schnee auf den ockergelben Wiesen, die Tritte von Rehen und einem Fuchs und die Fährte eines Hasen waren noch zu erkennen. Wir inspizierten den Kot eines Marders und das Gewölle eines kleineren Raubvogels voller winziger Mäuserippen.

Andrea Gelmetti, der zweite der Wanderführer, der uns die Entwicklung der Landschaft, die Lage der Rinderbauern und die Architektur der Almhütten erklärt hatte, scheuchte uns auf, es war Zeit zurück zu stapfen zur Schutzhütte Bocca di Selva, zurück zu kommen in den geplanten Alltag und zum Essen nach Bosco Chiesanuova.

Seit das Gebiet Naturpark ist - ab 1996 - stiegen die Zahlen der Wildtiere: Rehe, Hirsche, Gämsen, Murmeltiere und Wildschweine, die Jagdverbände aus Ungarn in die Lessinia brachten und die jetzt überhand nehmen, weil sie wesentlich schwieriger zu jagen sind als gedacht: ausreichend Nahrung für die sechzehn Wölfe, die sich im Naturpark und seinen Randzonen bewegen. Vor allem im Winter und im Frühjahr ernähren sich die Wölfe von Wildtieren. Von Untersuchungen aus Kanada und den USA wissen die Biologen, dass nur ein geringer Teil der Jagdunternehmungen für die Wölfe erfolgreich ausgeht. Nicht umsonst ist der Körper von Wölfen fähig, mehrere Tage zu hungern und innerhalb von kurzer Zeit den Energieverlust auszugleichen. Wenn sie nicht gestört werden, kehren die Wölfe so lange zu ihrem Riss zurück, bis nur noch die Knochen zerbissen und abgenagt übrig bleiben.

Seit über hundert Jahren sind Wölfe sowohl in Südtirol und Trentino wie in den Lessinischen Bergen ausgerottet. Dass sich die Gegend, in der heute das Wolfsrudel unterwegs ist, für Wölfe eignete, stellte die Wolfsforscherin und Leiterin des Projekts Life WolfAlps Francesca Marrucco schon fest, als die natürliche Besiedlung des Alpenraums durch die Wölfe noch auf das Piemont begrenzt war. Der männliche Jungwolf Slavc verließ im Dezember 2011 seine Familie in den Wäldern des südlichen Sloweniens. Es war Zufall, dass die Biologen der Universität Lubljana ausgerechnet diesem Jungwolf ein Halsband mit Sender verpassten. Niemand wusste, wohin Slavc aufbrechen würde. Zwei Jahre konnten alle seine Aufenthalte über Funksignale dokumentiert werden, Slavc hatte eine sehr lange Wanderung durch Wälder, Innenstädte, Skipisten und Flüsse hinter sich, als er im Frühjahr 2012 im Naturpark Lessinia Giulietta aus dem Piemont kennen lernte. Der Wolf aus der dinarischen und die Wölfin aus der italischen Population passten zueinander, keine Selbstverständlichkeit. Ein Wolfspaar lebt normalerweise für Jahre zusammen; als soziale Tiere, die gemeinsam Jungtiere aufziehen, achten Wölfe bei der Partnerwahl auf Übereinstimmung.

Giuliettas Vorfahren stammten aus dem Rückzugsgebiet der italischen Wölfe zwischen dem südlichen Umbrien und den Sila-Bergen in Kalabrien, wo etwa hundert Wölfe überlebt hatten, als die Art in Italien 1976 unter Schutz gestellt wurde. In wenig mehr als dreißig Jahren wanderten Wölfe entlang der Apenninenkette bis ins Piemont, Ligurien und nach Südfrankreich, über die Alpen in die Schweiz, Lombardei, Trentino und nach Südtirol.

Das bedeutet alles andere als eine dichte Besiedlung, zu eng halten es Wölfe nicht aus. Sie beanspruchen sehr große Territorien. Je nach Angebot von Nahrung ist das Areal 100 Quadratkilometer bis einige Tausend Quadratkilometer groß (in Alaska z.B.). Von der Anzahl der Beutetiere hängt ab, wie stark sich das Wolfspaar vermehrt und wie viele Nachkommen überleben. Ein Rudel heißt in den meisten Fällen, die Eltern mit den Jungtieren des Jahres und den noch nicht erwachsenen Wölfen des Vorjahres. Die erste Nachwuchsgeneration von Slavc und Giulietta hält sich noch im Territorium der Eltern auf.

Die Jungwölfe verlassen die Eltern, wenn sie die Jagdtechniken beherrschen und sich selbst versorgen können. Sie bewegen sich im typischen geschnürten Trab stundenlang, sie bevorzugen Pfade, Wege, Straßen oder die Böschung von Bahnlinien, auch wenn viele durch den Verkehr getötet werden. Da sie Wolfs- oder Schäferhunden von weitem ähneln, fallen sie den wenigsten Menschen auf, sogar, wenn sie untertags wandern. Bei Umfragen zeigte sich, dass Wölfe häufig mit Hunden verwechselt werden, daher heißt nicht jede Sichtung, dass tatsächlich ein Wolf durch's Dorf spazierte. Was ein einsamer Wolf sucht, ist ein gutes, freies Territorium.

Wölfe lesen die Körpersprache der anderen sehr genau, hören auf Lautäußerungen gespannt hin, das Heulen kann viele Nuancen haben. Innerhalb des Rudels vermeiden die Wölfe Konflikte, dafür nützen sie (wie Menschen) ein breites Repertoire zur Verständigung. Aber gegen Konkurrenten und Rudelfremde können Wölfe sehr aggressiv werden und Eindringlinge töten. Auch das ist eine Parallele zu menschlichen Verhaltensweisen.

Als die Wolfsforschung in den 1940er Jahren begann (das erste wichtige Buch erschien 1944, Adolphe Muries Studie der wildlebenden Wölfe im Denali National Park, der damals Mount McKinley-Park hieß, daher der Titel The Wolves of Mountain McKinley). Das mag seltsam klingen, aber vorher beobachteten nur Trapper und Jäger Wölfe, und das nicht lange, nur ein toter Wolf war ein guter Wolf. Bis Mitte des 20. Jh. hielt sich die Meinung, Wölfe seien sehr aggressiv, verkörperten das Übel und hätten in einem Nationalpark nichts zu suchen. Die letzten Wölfe im Yellowstone Nationalpark wurden in den 1920er Jahren geschossen. Es setzte in den 1970er Jahren eine breitgeführte Debatte um die Wiederansiedlung ein, Mitte der 1990er Jahre ließen die Ranger im Yellowstone Nationalpark kanadische Wölfe frei.

Die Biologen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration interpretierten das soziale Verhalten der Wölfe nach militärischen Vorstellungen, David Mech Anfang der 1970er Jahre prägte die Begriffe vom Alphawolf und der Alphawölfin, den Beta- und den Gamma-Wölfen. Heute nach unzähligen Stunden, in denen Mech Wölfe beobachtet hatte, geht er von einem Familienverband aus, die Elterntiere zeichnen Erfahrung, Nervenstärke und Geduld aus, nicht der autoritäre Führungsstil. Die Untersuchungen an Wölfen im Gehege (z.B. im Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn in Niederösterreich) zeigen sehr ähnliche Ergebnisse.

Das Untier Wolf verschwand damit? Hier setzt das Projekt LifeWolfAlps ein, Wolfexperten bieten Erfahrung an, um große Konflikte mit dem Wolf zu vermeiden. Dazu gehören die Techniken, Schaf-, Ziegen und Rinderherden vor Wolfsangriffen zu schützen. Als noch Wölfe in Alpen und Voralpen lebten, blieben Hirten bei den Weidetieren. Auf Spaziergängen trifft man auf die runden Steinpferche, in die der Hirt und seine Hunde die Schafe oder Kälber am Abend trieben. Wenn 5.000 Kälber und Kühe, wie es im Sommer in den Lessinischen Bergen üblich ist, viele Kilometer verstreut weiden und liegen, jagen die Wölfe nicht mühevoll Wildschweine, Gämsen oder Murmeltiere... Pferche mit Elektrozäunen oder Nacht-Stallungen bewährten sich bei Wolfspräsenz. Beratung, Auswahl und Training der Hütehunde und Leihe bzw. Finanzierung der Schutzmaßnahmen bietet das Programm Life WolfAlps auch den Landwirten in den Lessinischen Bergen. Hundert Jahre großteils unbewachte Weide aufzugeben, fällt vielen sehr schwer. Studien zur Sömmerung von Schafen und Rindern belegen, dass Behirtung, v.a. die Anwesenheit eines erfahrenen Hirten, den Ausfall von Weidetieren sehr gering halten. Krankheiten, Panik bei Gewitter oder Steinschlag, Verirren, Unfälle reduzieren die gesömmerten Tiere sehr deutlich, das sind bis zu fünf Prozent des gesamten Bestandes (die Verluste beziehen sich auf Zeiten, als weder Bär noch Wolf im Alpenraum präsent waren und nehmen auch Ausfälle wegen Kälteeinbruch aus).

 

Die lokalen Zeitungen schreiben, wegen der Wölfe trauten sich kaum mehr Leute in den Naturpark. Die Spaziergänger, die rodelnden Kinder und Langläufer vergnügen sich und verhalten sich so wie immer. Die landwirtschaftliche Nutzung nimmt immer mehr ab, die touristische zu, die Schutzhütten sind sehr gut ausgelastet. Das konnten wir vor Ort bestätigen.