Politica | Wahlen

Mission Impossible

Der Fall St. Ulrich bringt die SVP in eine unmögliche Situation. Entweder man legt dort um fast 400 Stimmen zu oder die Gemeinderatswahlen werden annulliert.

Den Fall dürfte es eigentlich gar nicht geben. Und das in zweifacher Hinsicht.
In der Gemeinde St. Ulrich tritt bei den Gemeindewahlen am 10. Mai nur eine Liste an. Es ist die Südtiroler Volkspartei. Sowohl die oppositionelle Lista Urtijei, wie auch die Freiheitlichen haben diesmal darauf verzichtet Kandidaten ins Rennen zu schicken.
Was aber noch absurder ist. Auf der SVP-Liste stehen nur 17 Namen. Der Gemeinderat besteht aber aus 18 Räten.
Die politischen Folgen sind eindeutig. Damit wird die Wahl zur Farce. Denn sowohl der Bürgermeister Ewald Moroder, wie auch alle Kandidaten auf der SVP-Liste können schon jetzt als gewählt betrachtet werden.
Die rechtlichen Folgen dieser unorthodoxen Situation sind hingegen alles andere als klar.

Der Gemeinderat

Die erste Frage ist, ob der Gemeinderat von St. Ulrich überhaupt rechtens ist, wenn er bereits bei seiner Angelobung nur aus 17 Mitgliedern besteht?
Die Antwort darauf steht im geltenden Regionalgesetz. In Artikel 53 heißt es unter dem Titel „Aufschub der Wahl wegen ungenügender Kandidatenzahl“:

"Falls keine Kandidatur für das Bürgermeisteramt vorgelegt wurde, findet die Wahl nicht statt. In den Gemeinden der Provinz Bozen findet die Wahl außerdem nicht statt, wenn die Gesamtanzahl der Kandidaten auf den vorgelegten und zugelassenen Listen nicht höher ist als die Hälfte der in der Gemeinde zu wählenden Ratsmitglieder.„

Demnach muss der Gemeinderat von St. Ulrich mindestens aus 10 Räten bestehen, um geschäftsfähig zu sein. Die 17 gewählten SVP-Räte erfüllen diese Bestimmung auf jeden Fall.
Alles gut, wäre da nicht eine staatliche Bestimmung, an die bisher in Südtirol niemand gedacht hat.

Die staatliche Quorum

Die Region Trentino-Südtirol hat in der Gemeindeordnung – zu der auch die Wahl der Gemeinderäte gehört – primäre Gesetzeszuständigkeit. Sie muss sich aber, so steht es im Autonomietstatut, dabei „in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Grundsätzen der Rechtsordnung der Republik“ bewegen.
Gerade im Sonderfall St. Ulrich gibt es aber einen staatlichen Grundsatz, der zum größeren Problem für die Grödner SVP werden könnte.
Im staatlichen Gemeindewahlgesetz gibt es einen Passus, der eine Sonderbestimmung für den Fall vorsieht, dass nur eine Liste bei den Gemeinderatswahlen antritt. Im entsprechenden Passus heißt es:

„Ove sia stata ammessa e votata una sola lista, sono eletti tutti i candidati compresi nella lista ed il candidato a sindaco collegato, purche' essa abbia riportato un numero di voti validi non inferiore al 50 per cento dei votanti ed il numero dei votanti non sia stato inferiore al 50 per cento degli elettori iscritti nelle liste elettorali del comune. Qualora non si siano raggiunte tali percentuali, la elezione e' nulla.“

Der Präzedenzfall

Der Gesetzgeber hat dieses Quorum eingeführt, damit die Wahl mit nur einer Liste wenigstens noch eine Wahl ist und es ein Minimum an demokratischer Legitimation gibt. Der Staatsrat hat diese Bestimmung in zwei Urteilen bestätigt. Es sind Urteile und Grundsätze, die auch in Südtirol gelten.
Vor allem aber gibt es ganz in unserer Nähe einen Fall, bei dem diese Gesetzesbestimmung bereits angewendet wurde. In der Belluneser Gemeinde Vodo di Cadore kandidierte bei den Gemeinderatswahlen 2009 nur eine Liste. Von den 969 Wahlberechtigten wählten 435 Personen diese Liste. Das sind 44,89 Prozent. Die Wahl wurde deshalb annulliert und ein Kommissar ernannt. Im Frühjahr 2010 wurden dann Neuwahlen ausgeschrieben.

Schwierige Mobilmachung

Genau diese Bestimmung könnte jetzt aber zum Stolperstein für die SVP-Liste in St. Ulrich werden. Das zeigen die Ergebnisse der letzten Gemeinderatswahlen.
Offiziell gab es bei den Gemeinderatswahlen 2010 in St. Ulrich eine Wahlbeteiligung von 76 Prozent. Von den damals 3.605 Wahlberechtigten gingen 2.757 zur Wahl. Weil aber 108 Stimmzettel weiß und 191 Stimmzettel ungültig waren, gab es nur 2.566 gültige Stimmen.
Davon entfielen 1.486 Stimmen auf die SVP-Liste. Das sind 41,2 Prozent der Wahlberechtigten. Auch 2005 kam die SVP bei den Gemeinderatswahlen in St. Ulrich nur auf 1.408 Stimmen. Es ist das natürliche Stimmenpotential der Volkspartei im Grödner Hauptort.
Wiederholt man jetzt dieses Ergebnis, ist die Ulricher Gemeinderatswahl aber – laut staatlichen Bestimmungen – ungültig.

Bei den letzten zwei Gemeinderatswahlen erhielt die SVP 1.486 (2010) und 1408 Stimmen (2005). Diesmal braucht die Edelweiß-Liste aber über 1850 Stimmen, damit die Wahl nicht ungültig ist.

Die große Frage ist deshalb: Was passiert am 10. Mai 2015 in St. Ulrich? Sicher ist, dass die Wahlbeteiligung bei einer Wahl, deren Gewählte längst feststehen, kaum zunehmen wird. Es wird also davon abhängen, ob die SVP es schafft, die potentiellen Wähler der anderen Parteien an die Urne zu locken.
Und es geht nicht um ein paar Stimmen. Die SVP muss um fast 400 Stimmen zulegen. In Zeiten wie diesen ein Unterfangen, das wohl kaum zu schaffen sein wird.
Manchmal passieren eben noch Wunder und ein SVP-Bürgermeister würde sich nichts sehnlicher als eine Opposition zurückwünschen.

Bild
Profile picture for user pérvasion
pérvasion Gio, 04/09/2015 - 12:19

Als juristischer Laie finde ich es doch leicht überzogen, das staatliche Gemeindewahlgesetz in einem Bereich, für den das Land bzw. die Region zuständig sind, als »Grundsatz der Rechtsordnung der Republik« aufzufassen. Es wäre zumindest überraschend, wenn das ein Gericht so sähe... aber im zentralistischen Italien wohl nicht auszuschließen.

Gio, 04/09/2015 - 12:19 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user Christoph Moar
Christoph Moar Ven, 04/10/2015 - 09:36

In risposta a di pérvasion

Zunächst völlige Zustimmung. Wie ein staatliches Gemeindewahlgesetz (und damit wohl kein Grundgesetz) in einem Bereich, in dem die Region subsidiäre Kompetenz hat, als "Grundsatz der Rechtsordnung der Republik" aufgefasst werden kann, erschließt sich auf den ersten Blick tatsächlich nicht.

Der Ankerpunkt liegt aber hier:

"Die Region Trentino-Südtirol hat in der Gemeindeordnung (...) *primäre* Gesetzeszuständigkeit. Sie muss sich aber, so steht es im Autonomiestatut (wie auch direkt in einigen Stellen der Verfassung), dabei »in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Grundsätzen der Rechtsordnung der Republik« bewegen."

Soweit ist das für mich völlig normal. Es wäre - so sagt man mir - juristisch ein Fehlkonstrukt, wenn eine subsidiäre Rechtsnorm sich über die Verfassung und den prinzipiellen "Grundsätzen der Rechtsordnung" stellen könnte. Dies würde bedeuten, die Verfassung könnte von kleineren, subsidiären, Einheiten verändert werden: was ja Quatsch wäre, da wäre der Schutz der Verfassung ja ausgehebelt.

Es stimmt auch für mich, dass ein einfaches Gemeindewahlgesetz nicht als "Grundsatz der Rechtsordnung" verstanden werden. Aber: falls in der Verfassung stehen sollte, dass die Wahlen gemäß eines entsprechenden staatlichen Gesetzes abzuwickeln sind, nun ja, dann wiederum entsteht genau das logische Kettenkonstrukt, auf das Juristen sich stützen müssen.

Als Laie finde ich genau diese logische Kette in Art. 117 Absatz p der Verfassung - sowohl im Text bis zum Fiskaljahr 2013 als auch im Text ab 2014. Muss es ja deswegen trotzdem nicht gut finden. Wäre aber beruhigt, falls richterliche Entscheidungen nicht von zentralistischen Machtansprüchen sondern mehr von juristischer Logik abhängen würden.

Ven, 04/10/2015 - 09:36 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user Martin Daniel
Martin Daniel Gio, 04/09/2015 - 13:02

Wenn durch die Nichtwahl seitens der Oppositionsanhänger die Wahlbeteiligung stark sinkt, aber trotzdem über den 50% bleibt, was möglich scheint (Weiß- und Ungültigwähler dürften diesmal noch viel mehr werden), dann erhält die SVP 100% der gültigen Stimmen und beide Kriterien sind erfüllt:
1.numero di voti validi non inferiore al 50 per cento dei votanti (letztes Mal
2.il numero dei votanti non sia stato inferiore al 50 per cento degli elettori iscritti nelle liste elettorali del comune
Warum bräuchte sie 400 Stimmen mehr als letzes Mal (auch damals wären beide Kriterien erfüllt gewesen: 57,9% der gültigen Stimmen bzw. 53,9% der abgegebenen Wahlzettel und 76% Wahlbeteiligung)? Wo steht, dass die eine Liste 50% der Stimmen aller Wahlberechtigten braucht, was die Zahl 1850 notwendig machen würde.

Gio, 04/09/2015 - 13:02 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user Jutta Kußtatscher
Jutta Kußtatscher Ven, 04/10/2015 - 11:50

Karl Gustav Mahlknecht, Leiter des Wahlamtes der Gemeinde St. Ulrich, hat an salto.bz eine Email geschrieben, die wir vollinhaltlich hier wiedergeben:

Erlaube mir, als Verantwortlicher des Gemeindewahlamtes St.Ulrich auf folgende wesentlichen Fehler im obgenannten Artikel hinzuweisen:
Die Mindestanzahl der kandidierenden Frauen und Männer ist 9, da der GR aus 18 Mitgliedern besteht
Die staatliche Bestimmung wurde im Art.90 des E.T.der RG zur Wahl der Gemeindeorgane übernommen und durch den Zusatz, dass zur Feststellung des Erreichen des ersten Quorums, die Auslandsitaliener, also jene Wähler/innen des AIRE Registers, nicht dazu gezählt werden, erweitert.
Voranti sind die Abstimmenden und nicht die Abstimmungsberechtigten. Dies wären die elettori.
Konkret sind die Quorumszahlen für den ersten Teil 15 Tage vor der Wahl bekannt. Was die Anzahl der gültigen Stimmen angeht hingegen unmittelbar nach Abschluss der Wahlhandlungen.
Somit gilt folgende Rechnung
Abstimmungsberechtigte 3700
Davon AIRE 300
bleiben 3400
50 % davon = 1700
Geht wirklich nur diese Zahl zur Wahl sind schon 850 gültige Stimmen ausreichend, also nicht einmal 25% der Abstimmungsberechtigten.
Für Rückfragen jederzeit gerne bereit.

der Leiter des Wahlamtes
Karl Gustav Mahlknecht

Ven, 04/10/2015 - 11:50 Collegamento permanente