Motivation - Bindungssystem und Explorationssystem

Diese Überlegungen wurden vorgetragen am 08.06.2013 im Rahmen der Tagung des Netzwerkes für Partizipation. Sie dienten als Einstieg in die Frage, ob nicht vor den (oder zumindest gleichzeitig mit ihnen) immer intensiver diskutierten Konzepten "Vollautonomie", "Freistaat", "Unabhängigkeit", "Selbstbestimmung" u.ä. folgende Frage stehen muss: "Wie, nach welchen Grundsätzen und Regeln, auf Grundlage welcher Werte und welchen Weltverständnisses wollen wir zusammenleben?“ Dies ist üblicherweise das, was in Verfassungen oder Satzungen ausformuliert wird. Anschließend kann dann überprüft werden, in welcher äußerlich verfassten politischen Form dies verwirklichbar ist. Und erst dann stellt sich die Frage nach dem Bleiben oder Gehen - und wenn Gehen, wohin.
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Foto: LPA / Maja Clara

Unser Erleben und Verhalten wird lebenslang u.a. von zwei großen motivationalen Systemen gesteuert: dem Bindungssystem und dem Explorationssystem. Beide stehen in Abhängigkeit und in Wechselwirkung zueinander und werden lebenslang immer wieder in verschiedenen Gleichgewichtsformen ausbalanciert.

Bindungssystem: Es befähigt uns dazu, Sicherheit, Ruhe, Entspannung zu suchen und herzustellen bei und mit vertrauten Menschen und Dingen.

Explorationssystem: Es ermöglicht uns das Erkunden, Erforschen der Welt, uns in die Fremdheit zu wagen, die damit verbundene Unsicherheit auszuhalten, dadurch Neues zu lernen und das eigene Potential zu entfalten.

In einer schönen, einladenden Welt, die Sicherheit und Zukunft verspricht wird verstärkt das Explorationssystem aktiviert und das Bindungssystem kann zurückgefahren werden. Die „Südtiroler in der großen weiten Welt“ - und wer weiß, ob sie jemals Lust haben werden, zurückzukommen.

Heute erleben immer mehr Menschen (auch in unserer privilegierten Zone) die Welt als einen unsicheren, unübersichtlichen, chaotischen Ort, voll neuer und nicht einschätzbarer Bedrohungsszenarien, durchzogen von vielschichtigen krisenhaften Entwicklungen und als Quelle von psycho-sozialem und ökonomischem Stress.

Als Folge steigt das Bindungsbedürfnis und die Explorationsfreude sinkt. Ein Indikator dafür ist u.a. die seit einiger Zeit mit steigender Intensität geführte Debatte um Selbstbestimmung in verschiedenen Varianten. Die entsprechenden Begriffe gewinnen zusehends an Attraktivität. Sich abtrennen/abgrenzen vom Fremden und Bedrohlichen. Das Übersichtliche, Vertraute, Zugehörigkeit, Sicherheit  und Heimat Gebende wird zum emotionalen Hoffnungsanker in einer chaotischen und feindlichen Welt.

Auf dem legitimen Weg, sich äußern zu wollen, stößt das wachsende Bindungsbedürfnis aber auf ein Fragezeichen, das in einer Black Box eingeschlossen ist. Es umgeht das Hindernis und äußert sich politisch direkt in verschiedenen Begriffen/Thesen (Selbstbestimmung, Freistaat, Vollautonomie, Unabhängigkeit ...). In der Blach Box ist aber eben jene eingangs formulierte Frage enthalten: "Wie, nach welchen Grundsätzen und Regeln, auf Grundlage welcher Werte und welchen Weltverständisses wollen wir zusammenleben?“ Ähnliches dürfte sich Michael Gaismair 1526 vor dem Schreiben der Tiroler Landesordnung auch gefragt haben. Könnte es heute wieder soweit sein?