Società | Mobbing

„Jeder Betroffene ist einer zu viel“

Lukas Schwienbacher, Koordinator der Fachstelle Gewalt beim Forum Prävention über das Mobbing in der Schule, die Folgen psychischer Gewalt und mögliche Rezepte dagegen.
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Foto: upi

salto.bz: Herr Schwienbacher, was ist Mobbing?

Lukas Schwienbacher: Mobbinghandlungen sind bösartige und wiederholte Übergriffe verbaler oder körperlicher Art durch eine oder mehrere Personen, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken. Ziel von Mobbing ist es, einen anderen absichtlich zu erniedrigen und zu demütigen und letztlich den Effekt der Isolation auszulösen. Mobbing kann sich entwickeln, wenn erste Übergriffe nicht rechtzeitig gestoppt werden. Es ist wichtig, dass Mobbing immer wieder thematisiert wird. Man muss aber auch darauf achten, den Begriff nicht inflationär zu verwenden und vorschnell von Mobbing zu sprechen.

Ist Mobbing ein jüngeres Phänomen?

Mobbing gab es schon immer. Es wird aber als solches vorwiegend seit den 1970er Jahren beleuchtet und erforscht. Vorreiter waren dabei vor allem die skandinavischen Länder, von wo aus sich dann die Erforschung dieses Phänomens verbreitet hat.

Gibt es zum Thema Mobbing in Südtirol statistische Erfassungen?

Es ist generell nicht einfach, Mobbing in seiner Gesamtheit zu erfassen, weil es unterschiedliche Monitoringsysteme gibt. Man geht davon aus, dass zirka zehn bis fünfzehn Prozent aller Jugendlichen schon einmal mit Mobbing konfrontiert worden sind. Für Südtirol selbst gibt es wenig spezifische Zahlen. Deswegen beziehe ich mich in meinen Aussagen auf die vorliegenden Zahlen aus dem italienisch- und deutschsprachigen Raum. Zudem verändern sich diese Zahlen, bedingt auch durch neue Phänomene wie zum Beispiel Cybermobbing.

Haben die Mobbingfälle ihrer Meinung nach in Südtirol in den letzten Jahren zugenommen?

Mobbing ist eine Realität und jeder Betroffene ist einer zu viel. Ich kann beobachten, dass die Sensibilität gegenüber Mobbing in den letzten Jahren gestiegen ist und dass auch immer mehr Menschen gegen Mobbing aktiv werden. Auf der anderen Seite lassen sich die Mobbingfälle – wie gesagt – nur bedingt quantitativ feststellen. Oft ist es aber auch so, dass mit der Zunahme der Sensibilität für das Thema auch die Anzahl festgestellter Fälle steigt, welche vielleicht früher verdeckt waren. Beim Mobbing verhält es sich aber wie mit der Gewalt an sich: Es hat sie immer schon gegeben und wird sie auch leider weiterhin geben. Wir als Gesellschaft haben aber Möglichkeiten, Gewalt zu reduzieren und bestmögliche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass es seltener zu Mobbing kommt. Dazu kann jeder seinen Beitrag leisten.

"Man geht davon aus, dass zirka zehn bis fünfzehn Prozent aller Jugendlichen schon einmal mit Mobbing konfrontiert worden sind."

Wie bekommt ein Außenstehender Mobbing mit?

Bestimmte Mobbingprozesse sind für einen Außenstehenden nicht leicht wahrnehmbar. Ich denke, eine wichtige Grundvoraussetzung ist, dass man eine gewisse Sensibilität gegenüber Gewalthandlungen hat. Wenn ich weiß, was Gewalt ist, kann ich meine Beobachtungen dahingehend schärfen. Die Indizien für Mobbing können sehr vielschichtig sein. Entweder ich sehe selbst, wie jemand gemobbt wird, oder ich erfahre davon. Es ist wichtig, die Hinweise zu verifizieren und betroffenen Kindern und Jugendlichen zu signalisieren, dass sie in ihren Schwierigkeiten nicht allein gelassen sind. Was ich natürlich auch wahrnehmen kann sind Verhaltensänderungen. Wenn etwa ein vorher aufgeweckter Jugendlicher sich plötzlich zurückzieht, nicht mehr Teil der Klassen- oder Freundesgemeinschaft ist, nur mehr widerwillig die Schule besucht oder gar körperliche Beschwerden auftreten, kann dies ein ernstzunehmender Hinweis auf Mobbing sein.

Gibt es gewisse Gruppen, die stärker von Mobbing betroffen sind als andere?

Wir sollten uns im Klaren sein, dass Mobbing jeden treffen kann. Das Vorurteil, dass Mobbing-Opfer selbst für das Mobbing verantwortlich seien, ist in den allermeisten Fällen nicht zutreffend. So paradox es auch klingt, es gibt mehr oder weniger keine bestimmte Zuordnung gesellschaftlicher Gruppen, welche stärker von Mobbing betroffen sind, sei es als Opfer wie auch als Täter. Es gibt auch nur geringe Unterschiede zwischen Buben und Mädchen, Mobbing findet in jeder sozialen Schicht sowie in jeder Altersgruppe statt.

Es gibt aber gewisse Muster, die sich dabei wiederholen?

Mobbingopfer entsprechen meistens nicht den gängigen sozialen Normen, welche persönliche Haltungen, Verhaltensweisen, Aussehen und vieles andere mehr umfassen bzw. sie weichen gering davon ab. Es gibt bestimmte gesellschaftliche Muster, welche Mobbing begünstigen. So kann es beispielsweise in einer Leistungsgesellschaft Menschen treffen, die nicht unbedingt „Leistungsträger“ sind.

Was geht in den Betroffenen selbst vor?

Wenn die Mobbingspirale sich dreht, dann ist das Opfer an sich nicht wehrlos, aber insgesamt ist es chancenlos. Selbst Gewalt anzuwenden, ist aus Sicht des Opfers nicht selten die einzige Chance sich zu wehren. Die erste Frage, die sich ein Mensch stellt, wenn er gemobbt wird, ist die: „Wieso gerade ich?“ Wenn man aber weiß, dass in den allermeisten Fällen das Opfer keine Schuld trifft, dann muss man ihm dies auch bewusst machen bzw. sagen. Die Lebensqualität der Betroffenen sinkt rapide. Sie ziehen sich oft zurück und ihre Leistungsfähigkeit kann stark abnehmen. Im Extremfall kann es sogar zum Suizid kommen. Wir sollten uns im Klaren sein, dass Mobbing jeden treffen kann. Das Vorurteil, dass Mobbing-Opfer selbst für das Mobbing verantwortlich seien, ist in den allermeisten Fällen nicht zutreffend.

"Das Vorurteil, dass Mobbing-Opfer selbst für das Mobbing verantwortlich seien, ist in den allermeisten Fällen nicht zutreffend."

Wie kann sich ein Mobbing-Opfer Hilfe holen?

Die erste Möglichkeit ist verbal zu signalisieren, dass die persönlichen Grenzen verletzt wurden. Das kann manchmal schon ausreichen. Ist dem aber nicht so, dann ist es wichtig, sich an eine Vertrauensperson oder eine Beratungseinrichtung zu wenden. Zudem sollte ein Mobbingopfer selbst Gewalthandlungen vermeiden. Wenn sich dieses auf die Spirale des ständigen „Hick-Hack“ einlässt, kann das sogar die Lust der Täter steigern. Es ist aber auch wichtig, dass die Gesellschaft für dieses Thema sensibilisiert wird. Das kann von Medienbeiträgen bis hin zu speziellen Fort- und Weiterbildungen zum Thema gehen.

Kann Mobbing auch Spätfolgen für das Opfer haben?

Mobbing zehrt unglaublich am Selbstvertrauen. Für das Opfer kann Mobbing sehr lange anhaltende Folgen haben. Die seelischen Verletzungen können größer und kleiner sein. Es gibt Menschen, bei denen diese Verletzungen schneller heilen, bei anderen können die Wunden aber auch ein Leben lang offen bleiben. Deswegen ist es wichtig, nicht nur von der körperlichen Gewalt zu sprechen. Eine körperliche Verletzung kann unter bestimmten Umständen wieder heilen, eine seelische Verletzung kann hingegen sehr lange anhalten und die persönliche Lebensqualität beeinträchtigen. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist eines der fundamentalsten menschlichen Grundbedürfnisse. Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt wird, kann das für den Menschen und seine Entfaltung negative Folgen haben. Zum einen wird das persönliche Wohlbefinden bis in den Alltag hinein geschmälert, zum anderen kann es aber auch sein, dass jemand, der lange Zeit unter Mobbing zu leiden hatte, selbst Gewalt anwendet. Anders gesagt: Wenn ich in einem gesellschaftlichen Kontext der Unterdrückte bin, kann ich in einem anderen selbst zum Unterdrücker werden.

Kann man Mobbing verhindern?

Es gibt in Südtirol viele Menschen, die in den letzten Jahren Initiativen und Maßnahmen gestartet haben, um Mobbing zu reduzieren oder Präventionsarbeit leisten.

Das geschieht vielfach: Auf der individuellen Ebene, wo ich der Meinung bin, dass Kinder und Jugendliche das Recht haben, sich so zu entwickeln, dass sie ihre Lebenskompetenzen ständig erweitern können. Es gilt die grundlegenden „Social Skills“ zu trainieren. Sie sollen auf vielfältige Weise im Elternhaus, in Kindergarten, Schule und Gesellschaft lernen, Konflikte konstruktiv zu lösen, Empathie für andere Menschen zu entwickeln und eine gewaltablehnende Haltung einzunehmen.

Was können die Schule oder die Präventionsstellen tun?

Auf der institutionellen Ebene können wir die Rahmenbedingungen verändern, um Mobbing vorzubeugen. So zum Beispiel sollte in Bildungseinrichtungen und in der Gesellschaft neben dem klassischen Leistungsschema auch der Stärkung der sozialen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen gleichwertig Beachtung geschenkt werden. Es wäre auch wichtig, dass im Umgang mit jungen Menschen ganz klare Regeln zum Thema Mobbing und Gewalt existieren und im Ernstfall auch klare Maßnahmen gesetzt werden. Zum Beispiel sollte sich jede Schule bereits im Vorfeld damit auseinandersetzen, wie sie konkret bei Mobbingfällen vorgeht. Wo es viel Konkurrenz gibt, ein sehr schlechtes Sozialklima herrscht und viele Konflikte im Raum stehen, ohne gelöst zu werden, sind die idealen Voraussetzungen für Mobbing gegeben