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Grundsätzliche Verantwortlichkeiten  

Elsa Fernandez’ Buch „Fragmente über das Überleben. Romani Geschichte und Gadje- Rassismus“ lässt leise Stimmen laut werden. Bestimmt, sicher und klar.
Titel
Foto: Unrast Verlag

Überlebende überleben in einer Gesellschaft, die ihr Überleben nicht vorgesehen hat. Fernandez’ Leitfragen sind: „Was bedeutet Überleben? Was ist Überleben in einer von Gewalt, Ungleichheit und Repression geprägten Gesellschaft? Wie wirkt sich Überleben auf Überlebende und auf die Gesellschaft aus?“ Von einer Rom*nja-Perspektive aus unbedingt parteiisch widmet sich die Autorin diesen Fragen, welche die meisten Bereiche unserer Gesellschaft betreffen und in den einzelnen Kapiteln aufgegriffen werden. Rom*nja ist hierbei der politische Begriff, Eigenbezeichnung der Leute aus romane Communities, worin sich auch die Sinte*zza finden. Romane ist der Plural vom Adjektiv romani (weiblich) und romano (männlich). Genaue Bezeichnungen sind wichtig, sie zeugen von der Selbstermächtigung der von Minorisierung Betroffenen. Sie lernen anzuwenden ist Teil des Anerkennungsprozesses, Eigenbestimmung über Fremdbezeichnung unbedingt zu respektieren. Das erste Kapitel setzt sich mit der medialen Repräsentations-Ebene auseinander. Darin wird ausgewiesen, dass das Sprechen Über, das in den meisten Dokumentarfilmen der Vergangenheit und der Gegenwart praktiziert wird, die Idee der Andersartigkeit mit erzeugt und das Bezeugen von Verletzungen und Rassismus damit aktiv verunmöglicht. Schwarze, Rom*nja oder PoC (People of Color) werden so gewaltvoll in eine Repräsentation gezwungen, deren Zweck es ist, ihr Leben zu instrumentalisieren für die jeweils weißen (politischen/künstlerischen) Interessen.


Fernandez zeigt, wie durch die zumeist ausbleibende Positionierung weißer Filmemacher*innen Gewalt, Herrschaft und Verletzung fortgeschrieben werden ohne diese als solche zu benennen, im Gegenteil sind diese Produkte zumeist die, welche Auszeichnungen erfahren und der weißen Mehrheitsgesellschaft dazu dienen, die Tag für Tag ausgeübten Verletzungen zu verdrängen bzw. sogar zu rechtfertigen. Als Methoden der Gewalt nennt Fernandez Verobjektivierung, Passivität, mangelnde Kontextualisierung sowie unausgewiesene/verschwiegene Machtgefälle zwischen Filmemachenden und Dargestellten. Diese Methode des Unhörbarmachens der Überlebenden von Gewalt führt Elsa Fernandez zur Frage, was die Sprachen der Toten sind, was die Sprachen, ihnen zu gedenken, was die Sprachen der Bezeugung der Überlebenden. Und so ist das zweite Kapitel dem Jiddischen und dem Romanes gewidmet als zwei Sprachen der Ermordeten und der Überlebenden. Die Ausgrenzung dieser Sprachen aus der Erinnerungskultur der Mehrheitsgesellschaft, das Romanes häufig auch aus der minorisierten Geschichtsschreibung, die Bedeutung dieser Sprachen für das Bezeugen der Toten und der Überlebenden, ist zentraler Punkt der Auseinandersetzung. Fernandez zeigt, wie Jiddisch und Romanes während des Pharrajmos (romane Bezeichnung für Genozide, die zwischen 1933 und 1945 stattfanden) Sprachen des Widerstandes waren, die im Bezeugen weder bei den Nürnberger Prozessen noch bei den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt als Zeug*innensprachen zugelassen waren. Und so setzt sich eine Praxis fort, die der jüdisch-amerikanische Psychoanalytiker Dori Laub wie folgt beschreibt:

„So produzierte der Holocaust eine Welt, in der man für und von sich selbst kein Zeugnis ablegen konnte. Das nationalsozialistische System war wasserdicht – nicht nur in dem Sinn, dass es theoretisch keine externen Zeugen gab, sondern auch insofern, als dass es seine Opfer, die potenziellen ›internen‹ Zeugen, davon überzeugt hatte, dass das, was über ihr ›Anderssein‹ und ihre Unmenschlichkeit behauptet wurde, stimmte, und dass ihre Erfahrungen nicht einmal mehr für sie selbst kommunizierbar waren und daher möglicherweise nie stattgefunden hatten. Der Verlust der Fähigkeit, von und für sich selbst Zeugnis abzulegen, sich von innen heraus zu bezeugen, ist vielleicht die wahre Bedeutung der Vernichtung, denn wenn die eigene Geschichte aufgehoben ist, hört auch die eigene Identität auf zu existieren.“ (Fernandez 2020, S. 47)

 

Die Gewalt, die in der Ausgrenzung der Stimmen liegt, die diese Sprachen sprechen, wird heute auf die Überlebenden ausgeübt von einer Gesellschaft, die sich nicht mit ihren Bezeugungen auseinandersetzen will. Und wenn Leute diese Form von Bezeugung würdigen, wie etwa die Filmemacherin Melanie Spitta, die sich mit dem Leben der romane Menschen vor allem in Deutschland auseinandersetzt, so werden diese Auseinandersetzungen selbst zu Fragmenten gemacht, die mühsam gesucht und gefunden werden müssen, die nicht selbstverständlich zugänglich gemacht und genannt werden. Sie werden von der Mehrheitsgesellschaft bewusst de-kontextualisiert, um ihre Inhalte zu entkräften. Die Gesellschaft setzt der unhinterfragbaren Relevanz der Auseinandersetzung die Ignoranz in Bezug auf die eigene Geschichte entgegen, um sich nicht fragen zu müssen, welchen Anteil sie selbst an der sich fortsetzenden Gewalt hat. Für die Täter*innen würde dies eine Unterbrechung der geregelten Abläufe des Alltags bedeuten, für die Überlebenden ist solch ein Alltag durch diese Verweigerung kaum möglich. Das Vergessen-Wollen ist ein Privileg der Täter*innen-Generation. Die Überlebenden sind von individuellen und kollektiven Traumatisierungen betroffen, die nicht durch die Vernichtung alleine, sondern durch die sich fortsetzende Gefahr und Gewalt im Hier und Heute die Beziehungen zwischen Gadje (alle nicht romane Menschen) und Rom*nja durchziehen:

„Wenn eine post-genozidale Gesellschaft leugnend handelt, dem Sich-Stellen aus dem Weg geht und auf die Abwesenheit und Verleugnung der Überlebenden aufbaut, wie die deutsche es tut, werden die Wahrscheinlichkeit und das Risiko, die Schmerzen erneut zu erleben, zu einer Tatsache, vor der man sich schützen muss und vor der sich die Betroffenen auch schützen. Die falsche Positionierung der dominierenden Mitglieder post-faschistischer Gesellschaften ist ein Geschenk an das Täter*innensystem und erschafft eine bewusste oder unbewusste Solidarität mit diesem System.“ (Fernandez 2020, S. 90)

 

Eine solcherart aufrecht erhaltene Kontinuität der gewaltvollen Geschichte ist nur durch das möglich, was Fernandez als relationalen Revisionismus bezeichnet: Die Beziehungen, die gegenseitigen Beziehungen zwischen Gadje und Rom*nja werden von den Gadje bewusst verdrängt und verschwiegen. Die ausgeübte Gewalt wird nicht verstanden als eine, die Menschen gegen Menschen ausüben, sondern als eine, in der sich die Täter*innen der Verantwortung entziehen, indem sie das Beziehungsgeflecht leugnen und die Opfer der Gewalt als Andere immer schon als außerhalb ihres eigenen Lebens verorten. Fernandez setzt diesem Mechanismus ihr Buch entgegen, das sich die „Arbeit des Sich- Kennenlernens“ macht, indem sie den Lesenden die Möglichkeit gibt, sich mit ansonsten verstreuten Stimmen von Schriftsteller*innen, Filmemacher*innen, Theoretiker*innen und Psychoanalytiker*innen auseinanderzusetzen, die Gewalt nicht verleugnen sondern bezeugen, aufdecken, anklagen. Die Autorin hat mit dem Buch einen Beitrag zur Aufdeckung der Gewalt-Geschichte geleistet und entwickelt im Zuge der Aufdeckung Methoden und Strategien, die angewandt werden können, um die sich fortschreibende Gewalt zu unterbrechen:

„Die Subversivität, Singularität und Schönheit der Positionen der Überlebenden könnten den gesellschaftlichen Rahmen erschüttern, wenn sie nicht durch Unterdrückung zum Schweigen gebracht oder zerstört würden. Diese Schönheit, Subversivität und Singularität möchte ich durch mein Buch würdigen.“ (Fernandez 2020, S. 7)  

Fragmente über das Überleben Romani Geschichte und Gadje-Rassismus
Unrast Verlag