Cultura | Salto Weekend

Titanic

In memoriam Peter Oberdörfer: Salto erinnert mit der unveröffentlichten Erzählung „Titanic“ (Teil 1) und dem Nachruf der Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung.
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Foto: Foto: Sonja Steger

„Da!“
Mannis rechter Arm hebt sich, sein Zeigefinger weist in Richtung Scheune.
„Auf dem Dach!“
Jetzt folgen die Blicke der anderen am Lagerfeuer der Richtung, in die Mannis Zeigefinger weist. Viel können sie in der Dunkelheit nicht erkennen, die Gestalt auf dem Dach von Frau Krupas Scheune ist nicht mehr als ein Schatten.
„Da ist jemand, oder?“
Manni steht auf. Er geht ein paar Schritte auf die Scheune zu, bleibt stehen. Er blickt zurück zu den Freunden, die noch am Feuer sitzen. Auch die anderen stehen jetzt auf, Manni blickt wieder zur Scheune.
„Charlie?“
Alle nennen ihn Charlie, obwohl er das nicht ausstehen kann.
„Charlie? Bist du das?“
Er bevorzugt seinen Taufnamen, Karl. Aber es ist unmöglich, seine Freunde dazu zu bringen, ihn Karl zu nennen. Karl klingt extrem retro, sagt Hummel.
„Das ist er.“
„Sag ich ja.“
„Charlie? Echt?“
Das sagt Auge, und nennt ihn einfach weiter Charlie, Charlie, Charlie.
„He, er will doch nicht ...“
„Nein, nein, glaub nicht.“
„Aber sicher, warum würd er sonst ...“
„Charlie, was soll das?“
Jetzt stehen sie dort unten, alle seine Freunde, acht Gestalten, im orangen Licht des Feuers, und blicken zu ihm herauf.
„Charlie? Spinnst du? Das ist gefährlich, Mensch.“
Vor einem Jahr hat er es noch gemocht, Charlie genannt zu werden.
„Komm runter da, he!“
Aber jetzt kann er es nicht mehr ausstehen. Karl klingt besser, ernsthafter. Wer nimmt einen Charlie ernst?
„Das ist echt gefährlich!“
Angenommen, nur so als Beispiel, Karl der Große hätte Charlie der Große geheißen.
„Charlie, mach keinen Blödsinn!“
Nur Erika nennt ihn Karl. Wenn du das lieber hast, hat sie gesagt, warum nicht. Und Sara auch. Babsi nicht. Die Babsi sagt umso lieber Charlie, weil ihn das ärgert.
„Charlie, echt, das ist gefährlich.“
„Du willst doch nicht … Charlie, komm.“
Die Sterne glitzern, fast rund ist der Mond.
„Was hast du vor?“
Irgendwie unförmig, der Mond, ein seltsamer, zernarbter Klumpen.
„Wie kommst du überhaupt da rauf?“
„Bist du besoffen?“
Ein Bier, vor Stunden, und später noch eins, irgendwann. Nein, er ist vollkommen klar im Kopf.
„Charlie? Das ist nicht witzig!“
Nein? Nicht?
„Geh wenigstens ein Stück zurück.“
Der Mond steht links über einem dunklen Bergrücken, der See glänzt wie Lack.
„Oder setz dich hin.“
Sie sind weit hinausgeschwommen, heute Nachmittag. Man konnte die Leute am Ufer kaum noch erkennen.
„Charlie?“
In kräftigen Stößen sind sie geschwommen, Körper an Körper.
„Charlie! Was hast du vor?“
Mitten im See haben sie sich zum Ausruhen auf dem Rücken treiben lassen. Er hat ihre Haare an seiner Schulter gespürt, feines Gekitzel.
„Jetzt komm runter da.“
„Charlie, mach keinen Blödsinn.“
„Ich kann gar nicht hinschauen.“
Plötzlich ist er untergetaucht, und er hat sie von unten gepackt und zu sich herabgezogen. Sie ist erschrocken, er hat gespürt, wie das durch ihren Körper stieß. Er hat sie losgelassen. Sie ist aufgetaucht und davongeschwommen.
„Scheiße, Charlie, was ist denn los?“
„Das ist echt nicht witzig.“
„Mach keinen Blödsinn, Charlie!“
„Charlie, sag was!“
Es mache ihr Angst, wenn er so rede, hat sie gesagt, auf der Veranda bei Helli, letzten Mittwoch.
„Charlie, was soll das werden, wenn`s fertig ist!“
Bei Helli letzten Mittwoch. Sturmfreie Bude, heißt das. Drei Tage ist das her. Drei Tage sind viel. Drei Tage sind wenig.
„Ich kann gar nicht hinschauen!“
Er ist gestanden, die anderen haben am Tisch gesessen, aber er hat nicht sitzen mögen. Er solle sich setzen, hat Babsi gesagt. Es sei blöd, wenn er da so herumstehe. Er hat sich an die Wand gelehnt, das war besser, als am Tisch zu sitzen.
„Echt, mach keinen Blödsinn, Charlie.“
Das ist die Stimme von Helli. Jetzt hat der Arsch schon wieder diesen Satz gesagt, immer nur diesen Satz: Mach keinen Blödsinn, Charlie, mach keinen Blödsinn. Wie in Endlosschleife,
„Geh wenigstens ein Stück zurück. Oder setz dich!“
Babsi hat Pizza gemacht. Babsi macht immer Pizza. Sara ist süß, ganz klein, sozusagen niedlich. Letzten Mittwoch, drei Tage her. Sara, das war Sara. Er hat sich nicht setzen mögen. Er hat sich von der Wand abgestoßen und ist gegangen, oben haben Helli und Manni am Computer gespielt, es hat laut geknallt. Er ist hinten rausgegangen auf die Veranda. Es hat nach feuchter Erde gerochen. Ein Karl-Geruch, kein Charlie-Geruch. Er hat die Verandatür hinter sich gehört, und dann ist sie neben ihm gestanden. Und er hat sie gefragt, er hat Sara gefragt, ob sie Angst hat vor dem Sterben.
„Wenn er … also … also wenn er springen wollte, dann wäre er doch längst. Oder?“
„Charlie, toll. Toll, du hast uns mal wieder, okay? Du hast uns mal wieder so richtig, geile Nummer. Gelungen. Jetzt kannst du auch wieder ... Du kannst ... Komm jetzt runter da, verdammt!“
Er hat unbändige Lust auf Süßes. Das ist unpassend, klar, aber er könnte jetzt eine ganze Schwarzwälder Kirschtorte aufessen.
„Wir müssen etwas tun.“
„Ja, und was?“
„Charlie, sag endlich etwas.“
„Jetzt red halt mit uns!“
Er tastet nach seiner rechten Hosentasche, da ist das Handy, es ist beim Heraufklettern nicht herausgefallen, gut. Typisch Charlie, werden die dort unten denken. Mal wieder eine ganz spleenige Idee, wird die Babsi sagen. Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Die dort unten werden nervös. Man muss reden. Man muss ihnen sagen, dass sie sich wieder ans Lagerfeuer setzen sollen. Dass sie sich nicht um ihn kümmern sollen. Man muss ihnen sagen, dass es gefährlich sein mag, hier oben zu stehen, aber wer auf das Dach von Frau Krupas Scheune klettert, um sich umzubringen, ist ein Idiot. Haltet ihr mich für einen Idioten? Das müsste man sie fragen. Wer sich umbringen will, muss man denen sagen, der wählt einen Wolkenkratzer. Okay? Oder den Eiffelturm. Oder die Europabrücke oder so. Und er macht es nicht vor Zeugen. Klar? Es muss geredet werden. Aber von hier oben zu denen dort unten zu sprechen, das hat etwas Theatralisches. Wie von einer Kanzel herab, das geht ihm gegen den Strich. Besser ist es, auf dem Handy einen von denen dort unten anzurufen. In ein einzelnes Ohr hineinzusprechen. Man kann leise sprechen. Man kann flüstern. Sie sind alle hier, seine Freunde, fehlt nur Rita. Die Babsi würde mit ihm schimpfen, das geht gar nicht. Auge, okay, Auge ginge, aber besser Steve. Steve? Sara. Am besten Sara. Mit Sara reden, ja. Allerdings hat sie eine ungünstige Melodie auf ihrem Handy, das Lied aus dem Film Titanic.
„Charlie, du machst doch keinen Blödsinn?“
„He, Mann, red mit uns.“

 

© Peter Oberdörfer
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Edition Raetia. Der Text war Bestandteil eines geplanten Erzählbandes mit dem Titel „Supernova“. Leider wurde der Band nie verwirklicht. Die vorliegende Fassung von „Titanic“ wurde für diese Veröffentlichung lektoriert. 

Lesen Sie morgen Teil 2 von Peter Oberdörfers Erzählung Titanic