Società | Gemeinschaft

Das Leben feiern

Orte, an denen echte Gemeinschaft möglich ist, sind selten.

Ich habe einen davon gefunden.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: SKJ

Ich warte hier jetzt nicht mit allgemeinen Informationen zum eurolager auf. Wie lange es schon existiert, wie viele Menschen daran teilnehmen, welche Länder daran beteiligt sind, wann die Anmeldungen laufen und wo es stattfindet. All das steht irgendwo geschrieben, kann gefunden und erfragt werden. Was jedoch nicht nachgelesen und zumeist nur ansatzweise nachgefragt werden kann, ist: wie es dort ist, im eurolager.

Hinter dem vagen Namen, der auf alles Mögliche hinweisen könnte, versteckt sich vor allem eines: das Leben in seiner absoluten Vielfalt. Diese Tage werden in Südtirol (in der Schweiz, Liechtenstein und Deutschland von anderen sozialen Trägervereinen) hauptsächlich von Südtirols Katholischer Jugend (SKJ) organisiert. Der Anteil an religiösen Aktivitäten hält sich in Grenzen und ermöglicht dadurch auch ein Zusammenkommen von gläubigen und nichtgläubigen Menschen.

Im eurolager treffen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung aufeinander und verbringen vier Tage zusammen mit gemeinsamen Aktivitäten und geteilten Schlafplätzen in Zelten. Zwischen Morgensport, Gemeinschaftsspielen, Mittagessen, Fußball, Frisbee, Disco, Abendessen und einem gemeinsamen Getränk im „s´Beizli“ (der Zeltlagerbar), passiert vor allem eines: ganz viel Menschsein.

Da gibt es Menschen, die sich Aufgaben und Abläufe nicht gut merken können oder Schwierigkeiten haben, sich verbal auszudrücken oder einfach grob- und feinmotorische Hilfe bei verschiedenen Tätigkeiten benötigen. Menschen mit Trisomie 21 oder autistischen Merkmalen oder Menschen, die eine Hörbeeinträchtigung haben. Da gibt es auch Menschen wie mich, die einfach da sind, weil sie vom eurolager gehört haben.

Da ist Sebastian*, der einige aus dem Lager aus der gemeinsamen Arbeit in einer Werkstätte kennt. Er hilft uns dabei uns gegenseitig zu verstehen, weil er seine Freunde eben gut kennt. Wenn  z.B. Martin mal die Worte fehlen, um zu sagen was er braucht, dann weiß Sebastian was los ist. Er scheint sehr empathisch zu sein und spürt regelrecht, was Menschen um ihn herum brauchen. Er reagiert empfindsam auf Unstimmigkeiten zwischen den TeilnehmerInnen und ist derjenige, der die BegleiterInnen darauf aufmerksam macht, dass es anderen gerade nicht gut geht und sie Hilfe brauchen. Er ist überall dabei und voll motiviert, egal ob es bei einem gemeinsamen Spiel ist oder beim gemeinsamen Aufräumen am Ende der vier Tage. Da ist auch Samuel, der unheimlich gerne Fußball spielt. So gerne, dass er nie Pausen machen will und endlos den Ball umherkickt und dabei, trotz seiner ansonsten leisen Art, Jubelrufe loslassen kann und allen anderen dabei ein freudiges Lachen aufs Gesicht zaubert. Da sind Michaela und Gabriel, die es lieben zu tanzen und es mit ihrer unverkrampften Art sich zu bewegen schaffen, auch andere damit anzustecken. Da ist Lisbeth, die sich viel Zeit nimmt mit mir zu sprechen und sich ehrlich dafür interessiert, was ich ihr aus meinem Leben erzähle. Kein Small Talk und keine Gesprächsfloskeln, sondern ehrliches Interesse dafür, was ich mache und wer ich bin.

Ich erinnere mich, wie ich als Kind Menschen begegnet bin, die „anders“ waren. Menschen, die sich vielleicht einfach anders bewegten, als ich es gewohnt war. Menschen, die vor sich hin sprachen, ohne ersichtlich mit jemandem zu sprechen. Ich erinnere mich auch an die Gefühle in mir, die ich dabei hatte und es war wohl eine Mischung aus Unverständnis und auch Angst, weil ich das Gesehene nicht zuordnen konnte und vor allem nicht wusste, wie ich mit diesen Unterschiedlichkeiten umgehen sollte. Diese Gefühle waren vermutlich dann auch der Beweggrund beim eurolager mitzukommen, mich ihnen zu stellen und zu schauen was mit ihnen, nach all den Jahren, passiert war.

Nach diesen vier Tagen kann ich sagen, dass sie noch da sind. Doch zu ihnen hat sich ehrliches Interesse und großes Staunen gesellt. Staunen darüber, wie ehrlich und herzlich sich Menschen begegnen können und Interesse daran, wie sich ein Leben organisiert, das sich von „der Norm“ (ja, welche Norm?) abhebt und oft fremdbestimmt ist. Wie viel Fremdbestimmung muss sein und wie viel wird Menschen an Eigenständigkeit und freien Entscheidungen aberkannt, nur weil sie eben aus dem Raster eines „normalen“ Lebens fallen? Dies sind nur einige der Fragen, die ich mitgenommen habe.

Das Besondere an der ganzen Organisation des Lagers war der respektvolle und herzliche Umgang aller OrganisatorInnen und BegleiterInnen untereinander und die absolute Stressfreiheit, die das zusammengestellte Programm erlaubte. Alle durften- niemand musste. Bei den Zeltgruppenspielen wurde konsequent auf Kooperationsspiele gesetzt und die hohe Motivation der Teilnehmenden bestätigte, dass dies das absolut richtige Setting dafür war. Trotzdem war es auch ein Hit Fußball oder Beachvolleyball zu spielen und zu spüren, was es heißt zu gewinnen oder zu verlieren. Für alle Aktivitäten und auch für das gemeinsame Aufstehen und die Mahlzeiten war viel Zeit vorgesehen, was ich einfach als sehr entspannend empfand. Der Zeitfaktor und die Entspanntheit, mit der alles ablief, ließen mich viel Alltag vergessen und Gedankenfreiheit zu.

Es ist, wie wenn man länger in den Bergen ist: irgendwann ist es egal, was Drumherum passiert, weil es da, wo man ist, so unheimlich schön und wohltuend ist.

Das Besondere an den Menschen war die große Echtheit, die ich bei allen erlebt habe. Ich verspüre die Lust zu tanzen? Ich mach es und vergesse Blicke, die mich treffen könnten. Ich hab Lust dir zu sagen, dass ich dich mag? Ich mach es, einfach, weil ich es fühle. Ich hab Lust über den Platz zu laufen und Luftsprünge zu machen? Ich mach es, einfach, weil es mir gut dabei geht. Ich bin traurig? Ich weine. Auch Zorn, Wut und Streit haben Platz, schon nur, weil sie eben zum Leben gehören, wie das Atmen. Nur sind alle Gefühle sichtbarer und ausgelebter, als ich es aus meinem Alltag gewohnt bin. Ohne eine Beeinträchtigung idealisieren zu wollen und wissend, dass es einfach beschissen sein kann, wenn man sich nicht so ausdrücken kann, wie man es möchte oder Bewegungen des Körpers nicht unter Kontrolle hat. Das ist belastend. Jedoch kein Grund, das Leben nicht zu feiern.

Das eurolager findet nächstes Jahr in Liechtenstein statt und es werden viele wieder dabei sein und sich vielleicht einige neue Gesichter dazugesellen, die so neugierig sind, wie ich es war und nach vier intensiven Tagen nach Hause gehen um sich vor allem eines gewiss zu sein: von Menschen durch ihre reine Präsenz beschenkt worden zu sein.

* Die Namen aller erwähnten Personen wurden abgeändert.

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gorgias Lun, 06/12/2017 - 22:49

Neun von zehn Föten mit Trisomie 21 werden schon heute abgetrieben. Je besser und einfacher die pränatale Diagnose aller möglichen Erbkrankheiten und Mißbildungen wird (durch Blutentnahme anstatt durch Fruchtwasseranalyse zu. B.) um so weniger Menschen dieser Art wird es geben.

Mir wird da nichts abgehen.

Lun, 06/12/2017 - 22:49 Collegamento permanente