Società | Gastbeitrag

Verzweiflung, Krisen, Suizidverhütung

Was tun, wenn die Verzweiflung wächst und der Lebenswille schwindet?
Straßenschilder
Foto: Dan Meyers on Unsplash

Südtirol leidet seit Jahrzehnten unter einer hohen Suizidrate, jetzt in Phase 2 der Coronakrise besonders. Es sind die unsichere Gesundheit, die wirtschaftliche Einbuße und vor allem die nicht mehr mögliche menschliche Nähe, das früher beruhigende Berühren vieler Personen, die jetzt zu Buche schlagen. Die persönlichen Krisen, die schon vorher bestanden haben, wachsen in solcher Atmosphäre. Aus Krisen können unmerklich Krankheiten werden, am häufigsten Depressionen. Ihr Nährboden sind Einsamkeit und Erschöpfung. Ihr Gefahrenmoment ist die Verzweiflung.

Was tun? In der Coronaphase 2 sind Selbsthilfegruppen gegen Einsamkeit gefragt, virtuelle und reale, die in großen Räumen zusammen kommen. Es sind einfache Tätigkeiten in der Gruppe notwendig, die unsere Vorfahren vor 300.000 Jahren bereits entwickelt haben, damals zum Überleben. Es sind Tätigkeiten, die wir können, und die uns beruhigen: gemeinsam planen, wandern, besichtigen, gemeinsam essen und trinken, musizieren, jetzt immer unter Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen. Also in sehr kleinen Gruppen mit sehr großen Abständen. Mit telefonischer Abmachung, die aufwendig ist, aber hilft. Für Kinder: spielerisch den Umgang mit verhülltem unterem Gesicht und Abstand einführen, arabische Länder machen es vor. Gefühle erraten, ohne den Mund zu sehen. Für alte Leute: Wenige gut geplante Besuche einzelner Verwandter oder Freunde erleben können. Längerer Verbleib, Vermittlung menschlicher Wärme durch Worte, statt durch Umarmungen. Das müssen wir erst üben, aber es geht.

Den Ernstfall müssen wir aber auch ernst nehmen. Die große allgemeine Krise befördert viele persönliche, die auch groß werden können. Was tun, wenn die Verzweiflung wächst und der Lebenswille schwindet?

Es ist keine Schande, Hilfe zu suchen, sondern ein Zeichen von Klugheit

Die erste große Hilfe ist Kontakt. Sprechen Sie Ihre Familie an, rufen Sie Freunde und Nachbarn an, machen Sie sich in Ihrem Zustand bitte bemerkbar, verheimlichen Sie nichts. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Erkanntes Leid verspricht Hilfe, und die kommt vor allem von anderen Menschen. Anonyme Hilfe über Gespräche kommt von Telefonberatungsdiensten, wir haben drei sehr gute im Land. Konkrete fachliche Hilfe kommt von der Notfallpsychologie, 24 Stunden auf 24 gesprächsbereit. Die Gespräche dienen vor allem der Klärung des Kopfes gegen die Überschwemmung durch Gefühle. Sie helfen, Pläne zu schmieden und umzusetzen, die zunächst Überlebenspläne sind, und später Pläne für ein besseres Leben.

Wenn all das nicht reicht, wenn Panik aufkommt und Handlungsdruck: Rufen Sie bitte 112 an, die Mitarbeiterinnen der Notrufzentrale gehen jedem noch so kleinen Zeichen nach, das sie bemerken. Wenn Sie dann mitten im Satz auflegen, werden Sie zurückgerufen. Wenn Sie angeben, wo Sie sind, kann eine Rettungsbesatzung Sie erreichen. Das sind Menschen, die sich mit Notfällen auskennen.

Sie fühlen sich in Suizidgefahr? Suchen Sie bitte Ihren Hausarzt oder die Erste Hilfe Station des nächstgelegenen Krankenhauses auf. An den Krankenhäusern von Bozen, Meran, Brixen und Bruneck stehen Psychiater, also Fachärzte für Seelenheilkunde, in Rufbereitschaft. Innerhalb von 20 Minuten können sie an Ort und Stelle sein. Dieser Dauerdienst ist für Notfälle, auch für Sie in Notfällen, da. Es ist keine Schande, Hilfe zu suchen, sondern ein Zeichen von Klugheit. Es kann Ihnen unmännlich vorkommen, Schwäche zu zeigen, aber der männlichste Auftrag ist das Überleben. Dasselbe gilt natürlich für Frauen.

Die persönlichen Krisen, die schon vorher bestanden haben, wachsen in solcher Atmosphäre

Wir kämpfen im Land um jedes gefährdete Menschenleben, seit 1990 mit verschiedenen Netzwerken der Suizidprävention. Seit 2004 auch mit der Europäischen Allianz gegen Depression. Seit 5. März 2020 mit der Psychohilfe Covid 19, die auf der Webseite „dubistnichtallein“ eine Flut an möglichen Hilfen bietet, 15 öffentliche Gesundheitsdienste und 20 private Organisationen sind dabei. Aber jede Hilfe ist nur so gut wie der Ruf, der sie erreicht.

 

Roger Pycha, Psychiater,
im Namen der Europäischen Allianz gegen Depression
und von Psyhelp Covid 19   

 

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Harry Dierstein Mer, 06/10/2020 - 23:16

Ein sehr wichtiger Beitrag, denn die Selbsttötungsrate ist in Südtirol immer noch unfassbar hoch. Zum Glück gibt aus großartige Fachleute wie Roger Pycha oder auch Marlene Messner (und auch andere), die diese Problematik behutsam und klug angehen. Einen herzlichen Dank dafür!

Mer, 06/10/2020 - 23:16 Collegamento permanente