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„Wir leben auf Kosten anderer“

Soziologe Stephan Lessenich über Gerechtigkeit: global, beim Klimaschutz und der Impfdebatte. Mehr erzählt er am 16.12, 20:00 Uhr, im UFO Bruneck.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
Stephan Lessenich
Foto: Frank Röth FAZ

Sie kritisieren in Ihren Büchern und Vorträgen häufig den Kapitalismus. In einem berühmten Zitat sagte Winston Churchill einmal über die Demokratie, sie sei die schlechteste Staatsform, außer alle anderen. Kann man dasselbe nicht über den Kapitalismus sagen?

Stephan Lessenich: Ich glaube wir beide und viele unserer GesellschaftsgenossInnen können aus unserer Erfahrung sagen: Kapitalismus ist das am wenigsten schlechte Wirtschaftssystem. Das sagen auch viele ÖkonomInnen. Denn man kann nicht leugnen, dass es in den letzten 100 Jahren in den westlichen Industriegesellschaften einen enormen Fortschritt gegeben hat.

Aus globaler Perspektive können wir das nicht sagen?

Das ökonomische Entwicklungsmodell unserer Gesellschaften basiert darauf, dass wir Ressourcen aus anderen Weltregionen beziehen, die dort billig abgebaut oder produziert werden müssen, um hier, wo sie weiterverarbeitet werden, entsprechende Gewinne daraus zu erzielen. Diese Produktion von Rohstoffen kennzeichnet sich durch schlechte Arbeitsbedingungen, negative Folgen für die Umwelt und viele soziale und politische Konflikte. Wir machen es uns also zunutze, dass in anderen Weltregionen für uns vorproduziert wird, und das zu Standards, die wir bei uns niemals akzeptieren würden.

Welche Alternative wäre global gerechter? Utopien einer gerechteren Welt sind in der Umsetzung ja oft gescheitert.

Naja, so oft ist es noch nicht versucht worden, den Kapitalismus wieder abzuschaffen in Weltgegenden, die schon kapitalistisch organisiert sind. Das spricht dafür, dass man diese Konstellation schwer wieder verlassen kann.

Warum ist die Überwindung des Kapitalismus so schwer?

Die Unüberwindbarkeit des Kapitalismus hängt weniger an Google, Amazon und so weiter – also an den Kapitalisten, die die Produktionsmittel besitzen –, sondern an dem Handeln von vielen Millionen einzelner Menschen, die von diesen Strukturen profitieren, sodass sie den Teufel tun würden, am eigenen Ast zu sägen.

Das heißt: Konsumierende sind schuld?

Nein, die Konsumierenden verantwortlich zu machen halte ich für den falschen Weg. Mir geht es darum zu zeigen: Systeme kann man nicht verantwortlich machen, denn Systeme handeln nicht, sondern real existierende Menschen im System handeln. Natürlich ist es toll, wenn man ethisch oder  – noch besser – weniger konsumiert. Aber ich glaube nicht, dass durch Millionen bewusst konsumierender Menschen sich die Struktur ändert. Da muss man politisch ran.

Sie appelieren an die Menschen, sich politisch zu engagieren?

Ja, zum Beispiel könnten sich die Leute in „Konsumgewerkschaften“ organisieren, um andere Produktionsstandards zu fordern. Kaufentscheidungen sind nicht politisch. Aber sich gemeinsam zu organisieren, um die Rahmenbedingungen von Kaufentscheidungen zu verändern, das ist politisch.

Ein politisch aktuelles Thema: Klimawandel und wie wir die zukünftige grüne Transformation gerecht gestalten können.

Zunächst einmal: der Klimawandel sorgt jetzt schon für massive Ungleichheiten, denn es gibt Regionen in der Welt, in denen die Menschen heute schon an den Folgen des Klimawandels leiden. Klimagerechtigkeit ist also keine Zukunftsfrage. Westliche Gesellschaften als zentrale Verursacher müssen endlich aufhören, auf Kosten anderer zu leben. Wir müssen unsere Produktion und unseren Konsum vor Ort gestalten und so umstellen, dass weniger Ressourcen verbraucht werden.

Viele befürchten aber, dass solche Maßnahmen die Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften vergrößern, weil gerade einkommensschwache Haushalte stärker von den damit einhergehenden Preissteigerungen betroffen wären.

Natürlich ist das ein großes soziales Problem. Doch die Rechnung ist ganz einfach: Es braucht Umverteilung. Seit einigen Jahrzehnten sind Umverteilungsprozesse in westlichen Gesellschaften aber sehr schwierig zu organisieren. Stattdessen verfolgen die Regierungen Strategien, die darauf beruhen, dass Umweltschäden anderswo stattfinden. Zum Beispiel verfolgt die EU eine Wasserstoffstrategie, die darauf beruht, dass man sich Ländereien im westlichen Afrika hält, wo dieser Wasserstoff produziert wird. Damit lügt man sich in die Tasche, um nötige radikale Veränderungen des Wirtschaftens und des Konsumierens hierzulande zu umgehen.

Schwellenländer sind stärker von fossilen Brennstoffen abhängig und würden daher auch stark an einer grünen Transformation leiden. Der Westen hat deshalb internationale Hilfsgelder versprochen. Reicht das aus?

Nein. Das ist Imperialismus im Ökogewand, wenn die Gesellschaften, die historisch circa 80 Prozent der Umweltzerstörung zu verantworten haben, jetzt Hilfsgelder an Gesellschaften zahlen, die im Grunde schuldlos sind.

Das klingt alles sehr desillusionierend. Wie würde denn unser Leben aussehen, würden wir das mit der globalen Gerechtigkeit ernst meinen?

Verzicht steht auf der Tagesordnung. Kein individueller, sondern ein kollektiver Verzicht. Es müsste eine demokratische öffentliche Debatte darüber geben, worauf wir alle gemeinsam verzichten wollen: Inlandsflüge? Fleisch? Individualverkehr? Da stehen Dinge auf dem Prüfstand, von denen sich die allermeisten als nicht fortführbar erweisen würden, wenn man ernsthaft darüber diskutieren würde, was sie für Folgeschäden haben und wer diese zu zahlen hat. Schon allein aus Selbsterhaltungstrieb müssten wir damit aufhören.

Es gibt ja schon einen Aufschrei, wenn man vorschlägt, etwas weniger Fleisch zu konsumieren. Wie wollen Sie die Leute dazu bringen, auf diese Dinge ganz zu verzichten?

Keine Ahnung. Naja, es gibt eine Form, die ganz wirksam ist: Die Leute kommen dazu, wenn sie selbst betroffen sind. Sobald einem jedes Jahr das Haus weggeschwemmt wird, sobald um einen herum nichts mehr wächst, weil die Landschaft verkarstet, sobald man in Südtirol nicht mehr Skifahren kann und keine Äpfel mehr anbauen kann, erst dann, befürchte ich, wird es einen Schubs richtung Veränderung geben.

In der aktuellen Impfdebatte wird der Gerechtigkeitsbegriff kontrovers diskutiert. Gibt es eine gerechtfertigte Ungerechtigkeit? Also z.B. dass ungeimpften Menschen der Zugang zum öffentlichen Leben teilweise verwehrt wird zum Wohle der Gesundheit aller?

Da ist die Frage, was der Bezugspunkt ist: Individuum oder Gesellschaft? Wir tendieren dazu, einen sehr individualistisch geprägten Freiheitsbegriff zu haben. Vielleicht mit der Einschränkung: solange ich dadurch nicht meine unmittelbar nächsten schädige. Wenn ich  zum Beispiel auf der Alm wohne, kann ich so laut Musik hören, wie ich will, wenn ich in der Stadt wohne, dann muss ich nach 22 Uhr ein bisschen runterregeln. Aber aus soziologischer Sicht können wir den Freiheitsbegriff als einen kollektiven Wert denken. Und wenn einzelne Menschen systematisch das Kollektivgut Freiheit schädigen, dann ist es gerechtfertigt, sie dazu anzuhalten, ihr Individualverhalten zu ändern.

 

 

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Peter Gasser Dom, 12/12/2021 - 09:43

Dank an Stephan Lessenich für die klaren Worte und die klare ach so zutreffende und richtige Botschaft.
Auch dafür:
“Die Unüberwindbarkeit des Kapitalismus hängt ... an dem Handeln von vielen Millionen einzelner Menschen, die von diesen Strukturen profitieren, sodass sie den Teufel tun würden, am eigenen Ast zu sägen”.
Diese Sichtweise habe ich hier auf Salto bereits mehrfach angeführt, und als Beispiel ein diesbezügliches aktuelles Volksbegehren in der Schweiz angeführt, mit welchem die Bevölkerung ein Verbot von synthetischen Pflanzenschutzmitteln und den Verkauf damit erzeugter Produkte mehrheitlich abgelehnt hat. Warum wohl?
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Auch für die klare Botschaft zur letzten Frage besten Dank.

Dom, 12/12/2021 - 09:43 Collegamento permanente
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Stefan S Dom, 12/12/2021 - 11:53

"Warum wohl?"
Weil die Fragestellung den Aufklärungsgrad der Befragten überfordert. Eine wissenschaftlich komplexe Fragestellung taugt (noch) nicht für eine Basisdemokratie.
Erst (wahrhaftig) aufklären und fragen und nicht die Aufklärung in Hände der Pestizidelobby geben. Wir entwickeln uns auch nicht weiter wenn solche Fragen nur mit schwarz/weiss oder ja/nein beantwortet werden. Es Bedarf auch einer alternativen ökologischen klar für die Allgemeinheit formulierten Expertise. Bei dieser Befragung traff eine vage formulierte Expertise/Alternative auf eine emontial geführte Kampange des Besitzstandes.

Dom, 12/12/2021 - 11:53 Collegamento permanente
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Peter Gasser Dom, 12/12/2021 - 12:13

In risposta a di Stefan S

mit Verlaub:
ich habe mir das genau angesehen.
Die Thematik ist klar formuliert, die Fragestellung für den Bürger einfach und verständlich gehalten.
Seit wann wird für ein Referendum von der "Pestizid-Lobby" aufgeklärt?
Diese Argumentation ist dieselbe wie beim anonymen Avatar "Felix Frei" in Bezug auf die Impfung: man darf das Volk, das nichts versteht, nicht fragen:
grad Sie entmündigen hier den Bürger?

Dom, 12/12/2021 - 12:13 Collegamento permanente
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Stefan S Dom, 12/12/2021 - 13:08

In risposta a di Peter Gasser

"ich habe mir das genau angesehen." genau das habe ich mir auch und bin zu einem anderen Ergebnis gekommen
-> Bei dieser Befragung traff eine vage formulierte Expertise/Alternative auf eine emontial geführte Kampange des Besitzstandes.
"grad Sie entmündigen hier den Bürger?" genau das Gegenteil fordere ich -> Aufklärung! Und damit bin ich nicht alleine wenn Sie nur die Artikel und Beiträge der letzten Tage zum Thema Bildung und Lehrer hier auf Salto verfolgen.
"Diese Argumentation ist dieselbe wie beim anonymen Avatar "Felix Frei"" Unsäglicher Vergleich, bitte nehmen Sie für sich auch in Anspruch was Sie von anderen hier einfordern. Fakten und Netiquette ;-) und keine Unterstellungen alla "man darf das Volk, das nichts versteht, nicht fragen:"

Dom, 12/12/2021 - 13:08 Collegamento permanente
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Karl Trojer Lun, 12/13/2021 - 11:43

Die Alternative Kapitalismus/Kommunismus gehört der Vergangenheit an. Eine globale, menschengerechte Umverteilung ist unerlässlich, wenn wir auch unseren Wohlstand nicht gegen die Wand fahren wollen. Es bedarf eines bewussten, gleichzeitigen Zusammenwirkens von Individuen und Strukturen, um den erforderlichen Wandel zu vollziehen. Dieses Zusammenwirken zu initieren und zu steuern ist, in Demokratien, Aufgabe der Politik, wobei Gemeinschaften von Individuen ("nit lugg lossn") die Politik dazu drängen können.

Lun, 12/13/2021 - 11:43 Collegamento permanente
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Karl Trojer Lun, 12/13/2021 - 11:44

Die Alternative Kapitalismus/Kommunismus gehört der Vergangenheit an. Eine globale, menschengerechte Umverteilung ist unerlässlich, wenn wir auch unseren Wohlstand nicht gegen die Wand fahren wollen. Es bedarf eines bewussten, gleichzeitigen Zusammenwirkens von Individuen und Strukturen, um den erforderlichen Wandel zu vollziehen. Dieses Zusammenwirken zu initieren und zu steuern ist, in Demokratien, Aufgabe der Politik, wobei Gemeinschaften von Individuen ("nit lugg lossn") die Politik dazu drängen können.

Lun, 12/13/2021 - 11:44 Collegamento permanente