Cultura | Memoria

Ostern, Tschotteplattlan...

...und der Ringelpater: In der Reihe „Memoria“ des Verlags Edition Raetia sind eine Reihe von Lebenserinnerungen erschienen. Ein Auszug aus: Daheim am Honigberg
honigberg
Foto: edition raetia

 

Von Maria Willeit-Kammerer

Auch der längste Winter ging einmal seinem Ende zu. Es begann die Fastenzeit, und man redete schon von Ostern und dem nahenden Arbeitsjahr. Die Fastenzeit wurde bei uns daheim sehr streng eingehalten. „Jetzt ist Faste“, sagte meine Mutter, und jeder Naschkatze wurden damit ihre Gelüste ausgetrieben. Man erzählte, ein Pfarrer eines bekannten Bergdorfes habe irgendeinmal von der Kanzel aus verkündet: „Die Fastenordnung brauche ich euch wohl nicht zu sagen, denn wenn ihr den Speck in der Faste esst, habt ihr dann halt zu Ostern keinen mehr.“ Ja, so war es wohl nicht nur in jenem Bergdorf.
Auch Ostern war umrahmt von verschiedenen Bräuchen. Blühende „Palmenzweige“ wurden geholt und zu einem Palmbesen zusammengebunden. Dieser wurde in die Kirche getragen und vom Pfarrer geweiht. Bei schweren Gewittern legte man ein paar Zweige der geweihten „Palmen“ auf das Feuer. Sie sollten Blitz und Unglück fern halten. In der Osterwoche wurde das ganze Haus geputzt, Stube und Kammern geschrubbt. Es roch nach Seife und ein Hauch von Feuchtigkeit zog durch die Räume.
Am Gründonnerstag durften wir Eier färben. Dazu nahmen wir Zwiebelschalen, Krepppapier und „Osterbamlan“, grüne, nahe an Mauern wachsende Pflanzen. Sogar richtige rote und blaue Eierfarbe durften wir kaufen. Am Abend des Gründonnerstags gingen wir mit unseren Nachbarn auf den „Ölberg“, und im Gedenken an Jesu Leiden beteten wir in der Kirche – auch wir Honigberger hatten eine kleine Kirche – den Rosenkranz. Die schönsten Eier trug ich mit mir, um sie meiner Freundin zu zeigen. Es gab schon die ersten Abziehbilder, darauf lächelten uns die Osterhasen entgegen.
„Am Karfreitag, an Jesu Grabesruhe, fliegen die Glocken nach Rom“, wurde uns gesagt. Hölzerne Ratschen ersetzten das Glockenläuten. Karfreitag war auch jener Tag, an dem unsere Mutter schöne, gelbe, mit Anis und Vanille gewürzte Hefekränze für die Patenkinder und den Osterkorb backte. „Heute ist Fasttag“, tönte es doppelt so laut aus Mutters Mund, wenn wir zu nahe an die Kränze herankamen.
Am Ostersamstag wurde in der Kirche unter lautem Orgelklang und Chorgesang die Auferstehung Christi gefeiert. Die Glocken waren wieder zurückgekehrt, und ihr Glorialäuten tönte bis zu uns auf den Honigberg. Da schickte die Mutter meinen Bruder und mich von Apfelbaum zu Apfelbaum. Beim Glorialäuten sollte man mit einem Stock die Bäume wecken. Ein paar Schläge auf den Stamm kündigten dem Baum das nahende Frühjahr und die Zeit zum Blühen und Früchtetragen an. Mit der Auferstehung Christi sollte wohl auch der Baum endgültig aus seiner Winterstarre erwachen. Bäume wecken durften wir nur im Vorschulalter. Als Schulkinder waren wir alle bei der Auferstehungsfeier in der Kirche.
Am Ostersonntag in der Früh breitete Mutter ein großes, schönes Tuch, wie es der Tatlkrämer zum Verkauf anbot, auf den Tisch und legte Roggenbrot, Hefekranz, gekochten und rohen Speck, geräucherte Schweinszunge, Kaminwurzen, geselchtes Fleisch, gefärbte Eier und Krenwurzeln darauf. Krenwurzeln sollten wir essen, damit uns kein Beißwurm biss – so hieß es jedenfalls immer. Die vier Ecken des Tuches band Mutter ordentlich zusammen, und das kostbare Bündel wurde von uns in die Kirche getragen und vom Pfarrer gesegnet, „geweicht“, wie wir zu sagen pflegten. Als das „Geweichte“ trugen wir unsere Köstlichkeiten wieder heim. Geweichtes durften wir als Ostermahl essen, so viel wir wollten. Nicht umsonst hatten wir vierzig Tage lang gefastet.
Die Wirtsleute sowie die Großbauern des Dorfes trugen die Speisen in schönen Körben in die Kirche. Alle Köstlichkeiten wurden zur Schau gestellt, und in der Mitte der Körbe thronte meistens auch noch ein weißes Osterlamm aus Butter. Wie viel von den guten Sachen unser Tuch barg, wussten nur wir allein. Viel später, als wir Ältesten schon nicht mehr zur Schule gingen, kaufte Vater auf dem Ostermarkt in Welsberg fast jedes Jahr eine große, dicke Salami. Er war fröhlich und guter Dinge, für uns ein Zeichen, dass er den Kleesamen, welchen er am Markt feilbot, gut verkauft hatte.


Im Frühjahr, in der Zeit nach Ostern, fing das Arbeitsjahr an, deshalb durften wir nur mehr ab und zu die Schule besuchen. Stattdessen mussten wir Kartoffeln setzen, beim Pflügen die Pferde führen, die Wiesen räumen, aber vor allem die Kühe hüten. Vater hatte keine fix angestellten Dienstboten mehr, sondern nur mehr Tagwerker. Langsam, für unsere Eltern wohl oft zu langsam, rückte sie heran, die Zeit, in der alle Arbeiten am Hof großteils von den heranwachsenden Kindern bewältigt wurden.
Damals wurden wir vom Unglück heimgesucht. Wir waren dabei, den Kartoffelacker zu bestellen. Vater pflügte Furche für Furche. Mein Bruder, er war noch ein Schulkind, führte die Pferde. Aus einem uns allen unbekannten Grund scheuten plötzlich die Pferde und rannten im schnellen, wilden Galopp heimwärts, den Pflug hinter sich herziehend. Mein Bruder hing mittendrin. Wie durch ein Wunder konnte er sich an den Riemen festhalten, so lange, bis unser Hofhund bellend und zähnefletschend den Pferden auf die Nüstern sprang und sie dadurch zum Stillstand brachte.
Am Abend des besagten Tages bekam unser Bruder zum ersten Mal einen Schreianfall, begleitet von schweren Krämpfen. Wir alle, und am meisten er selber, litten viele Jahre darunter. Wie aber von den besten Ärzten versprochen, konnte er wieder geheilt werden. Dass eine Mutter ihrem schwächsten oder in unserem Fall am meisten leidenden Kind am nächsten ist, lernten wir zu begreifen. Das Leben von uns Alpeggerkindern glich wohl jenem Fleckerlteppich, welcher in der Stube unserer alten Base lag. Er war schön bunt mit vielen hellen, jedoch auch mit dunklen Streifen. Mit den dunklen mussten wir zurechtkommen. Sie sind nicht vergessen – tun jedoch nicht mehr weh!
In die Schule gehen durften wir erst zu Allerheiligen wieder, denn Vater brauchte unsere Hilfe bei der Kartoffelernte. In dieser Zeit ging der Almsommer zu Ende. Der Senner trieb die Kühe ins Tal. „Die Kranzkühe kommen!“. „Wir haben schon die Glocken gehört“, riefen wir uns dann gegenseitig zu. Volle und leere Kartoffeleimer ließen wir daraufhin auf dem Acker stehen und liefen zum Hohlweg, so schnell wir nur konnten. Auch unsere Nachbarn standen schon am Feldrain, Kranzkühe schauen. Der Klang der Glocken kam immer näher. Endlich sahen wir sie, die Leitkuh, stolz und schwerfällig trottete sie des Weges. Sie trug einen Kranz aus kunstvoll gearbeiteten Gold- und Silberblumen, verziert mit bunten Glasperlen und weißglänzenden Federn. Jesus, Maria und Josef und das Bildnis eines Schutzheiligen waren auf rotem Samt mit Goldfaden eingestickt. Dies war das Herzstück jedes Almkranzes und der Kranz die Krönung jedes kostbaren „Almgeläutes“.
Viele, viele „Tschotteplattlan“, kleine in Schmalz gebackene Sauerteigkrapfen, hatten die Bäuerin und ihre Mägde vorbereitet. Es war Brauch, dass der Senner die köstlichen Dinger in die Zuschauermenge warf. Ganz flink mussten wir sein, um ein paar Krapfen zu fangen. Wenn wir annahmen, er werfe nach rechts, so warf der Hallodri schon ganz gewiss nach links.
Jedes Jahr besuchte ein Kapuzinerpater uns Honigberger. Er ging von Hof zu Hof, um die jährliche Spende für das Kloster zu erbitten. Am Honigberg sammelte er Korn, da Korn bei uns am besten gedieh. „Kornpater“ wurde er von den Eltern, „Ringelpater“ von uns Kindern genannt. Der Ringelpater tat, was der Tatlkrämer niemals getan hätte. Er langte nach der kleinen Schachtel, welche wir schon alle kannten. Langsam hob er den Deckel, da lagen sie nun, die Ringlein, golden und silbern, mit bunten Glassteinen oder kleinen Emailbildchen geschmückt. Der Pater fragte uns nicht, ob wir auch bezahlen konnten. Wir durften ihm einfach unsere Hände entgegenstrecken, und die Ringanprobe begann.
„Für dich ist dieses zu klein, wir müssen ein größeres suchen“, sagte er geduldig. „Bub, hast du dicke Pratzen“, konnte der Pater schon auch manchmal bemerken. Dass die Hände grad nicht frisch gewaschen waren und einer meiner Brüder noch schnell mit der ganzen Hand über seine Rotznase fuhr, schien den guten Pater nicht zu stören. Bald hatten wir alle unser Ringlein. „Vergelt’s Gott!“. Und schon saßen wir um den Stubentisch. Unter unseren beobachtenden Blicken sollten der Pater und sein Gehilfe, der Kornträger, nun vom Speck essen – vom schönen roten, welchen unsere Mutter eigens für den Kornpater aufgespart hatte. Im Keller hing im Herbst halt nur mehr der weiße, fette Speck, den wir gar nicht gerne aßen.
Der Pater saß oft die längste Zeit bei uns. Schließlich schickte er sich an, uns allen seinen Segen zu geben. Er schritt hin zum Weihwasserkrüglein, welches nahe der Stubentür hing. Der Kornträger nahm einen Korb und schüttete etwas „Paterpulver“ in eine eigens bereitgestellte Schüssel. Paterpulver? Es waren geweihte Heublumen. Einen Teil davon streute unser Vater den Kühen auf das Futter. Ein Teil wurde aufbewahrt, und wir legten es bei Blitz und Ungewitter ins Herdfeuer.
Unsere Eltern begleiteten den Pater bis zum Haustor, während wir Kinder uns auf den übrig gebliebenen roten Speck stürzten. Wer von uns konnte schon wissen, dass der Pater den Pulverkorb vergessen hatte und schnell noch mal zurückkam? Er lachte bloß verstehend, und ich schämte mich furchtbar.
 

Die derzeitige Quarantäne aufgrund der Covid-19-Pandemie bietet Zeit zum Lesen und zum Eintauchen in Erlebnisse der Eltern- und Großelterngeneration: Wie sind Sie mit Schwierigkeiten umgegangen, an welchen Dingen haben Sie sich erfreut?