Cultura | Memoria

Meine verkehrte Welt

Besatzung, sexuelle Belästigung und Hunger in Innsbruck... Ein Auszug aus den Lebenserinnerungen der Boznerin Claire French-Wieser.
Volkstanzgruppe Melbourne Uni 1953
Foto: edition raetia

In den ersten Maitagen 1945 war es unheimlich still in Innsbruck. Die erwarteten Kämpfe hatten nicht stattgefunden. Über Nacht waren sämtliche Panzerwagen und SS-Einheiten aus der Stadt verschwunden. Als ich mit Vati morgens aus dem Haus ging, um in der Prinz-Eugen-Straße unsere Milchration zu holen, begegnete uns sein Hauptmann aus den Tagen des Landsturms, wo er im vorigen Jahr als Fünfzigjähriger noch als letztes Aufgebot für den Fronteinsatz gedrillt worden war. Der Offizier sah düster aus, aber Vati lächelte trotzdem höchst unmilitärisch: „Guten Morgen, Herr Hauptmann! Ich glaub’ der Krieg ist aus!“ In Anbetracht der Umgangsformen bei der Wehrmacht, die nun plötzlich ein Ende hatten, fand ich die Situation unwiderstehlich komisch und musste darüber lachen. Aber das Lachen sollte mir bald vergehen.
Kurz darauf sah ich den ersten amerikanischen Jeep in die Pradler Straße einbiegen. So ein komisches Auto fuhren die Amis! Aber es war sicher sehr praktisch und vor allem viel leichter und wendiger als die deutschen Transportwagen. Im Radio hörten wir die Nachricht, dass die amerikanische Regenbogendivision Innsbruck besetzt hatte und alle Waffen an bestimmten Sammelorten abzugeben waren. Gauleiter Hofer sei verhaftet und ins Innsbrucker Gefängnis eingeliefert worden. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, alle „nazistischen Elemente“ bei der nächsten amerikanischen Dienststelle zu melden. Aber wir hatten keine solchen „nazistischen Elemente“ gekannt. Kurz danach erschien bei uns ein amerikanischer Soldat, ein Afroamerikaner, dem wir vorhandene Waffen aushändigen sollten.
Unsere größte Sorge war nun die Lebensmittelversorgung, die bis jetzt zwar knapp, aber immerhin regelmäßig war. Doch jetzt waren alle Lebensmittelgeschäfte mit einem Mal wie leergefegt und niemand wusste, wie es mit der Verteilung weitergehen sollte. Dennoch vertrauten wir immer noch auf einigermaßen gerechte Zuteilungen. Ein großer Irrtum! Eine der ersten verrückten Maßnahmen der Militärregierung war, die Lebensmittellager zur allgemeinen Plünderung durch den Mob freizugeben. Dabei wurden große Mengen der Vorräte von den Menschenmassen vernichtet, statt ordnungsgemäß verteilt zu werden.
Vati kam zufällig an so einer Plünderungsaktion vorbei. Ich glaube, es war im Zeughaus im Stadtviertel Dreiheiligen. Uns zuliebe überwand er seinen Widerwillen und versuchte, sich an der Aktion zu beteiligen. Mit geringem Erfolg. Immerhin brachte er einen großen Sack voll Hafer heim: Pferdefutter! Wir mahlten die Körner in der Kaffeemühle und kochten Hafersuppe daraus. Sie war zwar voller Spelzen, aber wir hielten es mit dem Sprichwort: „Hunger ist der beste Koch.“ Ein böswilliger Nachbar muss Vati beobachtet haben, wie er den schweren Sack heimschleppte. Wer weiß, was er in diesem Sack vermutete. Jedenfalls zeigte er uns bei der Polizei an. Es folgte eine gründliche Hausdurchsuchung, den Rest des Hafers ließ man uns aber.
In meiner Schulzeit hatte ich mit Begeisterung Romane über den Wilden Westen Amerikas gelesen. Immer waren die weißen Männer als edle Kämpfer und als ritterliche Retter der Frauen dargestellt worden. Nun musste ich staunend feststellen, dass die Amerikaner wie gemeine Strauchdiebe plünderten. Die US-Soldaten nahmen Männern und Frauen auf der Straße ihre Eheringe, Armbanduhren und ihren Schmuck ab. Stolz trugen sie ihre Beute an ihren Krawatten oder die gestohlenen Armbanduhren vom Handgelenk bis zum Ellbogen zur Schau, so als seien es hohe Orden.

 

Ich hatte die Amerikaner bis dahin für anständig gehalten. Nun sah ich, dass bei ihnen noch die Kriegsregeln galten, von denen wir zuletzt aus dem Dreißigjährigen Krieg gehört hatten. Wenn ich später mit amerikanischen Offizieren auf dieses Verhalten zu sprechen kam, hieß es regelmäßig, dass sich die deutschen Truppen noch viel schlimmer verhalten hätten. Konnte das wahr sein, fragte ich mich damals.
Meine Abenteuer mit unseren amerikanischen „Befreiern“ fanden allerdings ihren Höhepunkt, als ich für die US-Militärregierung zwangsverpflichtet wurde. In der Hoffnung, dass ich mein unterbrochenes Studium wieder aufnehmen konnte, fuhr ich jeden Tag mit dem Rad zur Uni, um wenigstens in der Seminarbibliothek auf Englisch zu lesen. Auch hatten einige Professoren ihre Vorlesungen wieder begonnen.
Ich erinnere mich, dass ich gerade Bernhard Shaws Komödie „Caesar and Cleopatra“ las und dabei dachte, dass sich die Geschichte doch stets wiederholt: Rom, das waren die USA, ein Weltreich der neuen Zeit, während wir in Österreich noch vom alten Kaiserreich träumten wie die ptolemäischen Ägypter von den Pharaonen. Da erschien der alte Professor Brunner in Begleitung eines US-Offiziers, den er mir als Sergeant Skelton vom amerikanischen Public Safety Office vorstellte. Skelton benötige dringend eine Übersetzerin. Es handle sich nur um ein paar Tage und es wäre ihm lieb, wenn ich bei der Militärregierung kurz aushelfen könne, redete Professor Brunner auf mich ein. Der Gestapo war ich zweimal entkommen, aber hier sah ich leider keinen Ausweg.
Skelton war groß und wohlgenährt. Er hatte eine schwarze Stirnlocke, die mich an Hitler erinnerte, stechende schwarze Augen und eine Hakennase über einem sinnlichen Mund. Er war, kurz gesagt, ein Ekel.
Er nahm mich sofort mit ins Innsbrucker Landhaus auf Zimmer 505 und setzte mich an einen Schreibtisch vor einen Stapel von deutschen Fragenbögen. Sie enthielten die Personalien, Parteizugehörigkeit und politische Vergangenheit von Hunderten Innsbrucker Bürgern, die ich in englische Formulare zu übertragen hatte. Auch ich hatte einen solchen Fragebogen auszufüllen, wobei mir Skelton mitteilte, dass die Militärregierung im Besitz der Innsbrucker NSDAP-Kartei sei und jede Falscherklärung mit Gefängnisstrafen geahndet würde. Ich dachte: „Wozu brauchen sie dann Fragebögen?“ Aber die Amerikaner hatten offenbar ihre Gründe und es hatte keinen Zweck, sich ihnen zu widersetzen.
Inzwischen war unsere Ernährungslage immer katastrophaler geworden. Wenn ich die amerikanischen Illustrierten mit den Werbefotos herrlicher Mahlzeiten sah, hätte ich weinen können. Als ich ein paar Wochen im Landhaus gearbeitet hatte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte, ob ich nicht in Brot- und Lebensmittelrationen bezahlt werden könne, weil meine Familie Hunger leide. Aber Skelton lachte nur und sagte, wenn ich so nett sei, wie die deutschen „Frolleins“ zu den SS-Männern waren, um blonde Babies zu bekommen, dann würde er zusehen, was er tun könne. Ich verstand zuerst gar nicht, worauf er anspielte. Dann gab ich ihm zu verstehen, dass ich auf diesen Vorschlag nie eingehen würde. Er wurde aber immer zudringlicher.
Ich hatte Angst und meine Lage wurde von Tag zu Tag schwieriger. Eines Abends teilte er mir mit, dass noch eine dringende Übersetzungsarbeit zu erledigen sei. Es war ein Vorwand, um mich länger im Büro zu behalten. Tatsächlich versuchte er, mich zu vergewaltigen. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, aber ich war vor Angst wie gelähmt. Ein österreichischer Polizist von der Landhauswache, der auf seinem Rundgang an dem Büro vorbeikam und meinte, jemand hätte vergessen, das Licht auszuschalten, rettete mich. Skelton ließ von mir ab und versuchte, so gleichgültig wie möglich zu erscheinen.
Ich hätte Skelton bei seinem Vorgesetzten melden sollen. Aber ich wusste nicht einmal, wer sein Vorgesetzter war. Und ob man mir geglaubt hätte? Es gab ja damals viele Frauen, die sich aus Hunger für ein paar Schachteln Zigaretten, die damals die gängige Valuta waren, prostituierten.
Gott sei Dank hatte die amerikanische Besatzung in Tirol bald ein Ende. Frankreich gab den übrigen Alliierten zu verstehen, dass das kleine Vorarlberg ein zu geringer Beuteanteil für seine Kriegshilfe sei, und erhielt somit ab Sommer 1945 auch Tirol dazu.
Die Rainbow Division zog in Richtung Salzburg ab und überließ den Franzosen, was in Tirol noch zu holen war. Bei der Übergabe des Landhauses an die neuen Besatzer wurde auch ich als zwangsverpflichtete Dolmetscherin und Übersetzerin wie ein Stück Büroeinrichtung an die Sureté publique, das französische Büro für öffentliche Sicherheit, übergeben. Es begann meine Franzosenzeit. Über Sergeant Skelton erfuhr ich später, dass ihn in Salzburg die gerechte Strafe ereilte. Er hatte den Bogen überspannt und eine dortige Büroangestellte hatte getan, wozu mir der Mut gefehlt hatte: Sie hatte ihn bei seinem Vorgesetzten gemeldet. Er kam vor ein Militärgericht, wurde degradiert und entsprechend bestraft.


In der Reihe „Memoria“ des Verlags Edition Raetia erschienen in den vergangenen Jahren eine Reihe von Lebenserinnerungen einfacher Menschen. Sie erlebten schlimme Zeiten, gekennzeichnet von Krieg, Entbehrung, Armut. Die derzeitige Quarantäne aufgrund der Covid-19-Pandemie bietet Zeit zum Lesen und zum Eintauchen in Erlebnisse der Eltern- und Großelterngeneration: Wie sind Sie mit Schwierigkeiten umgegangen, an welchen Dingen haben Sie sich erfreut?