Società | Interview

Die Zeitenwende nacherzählen

Oswald Überegger, Direktor des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte, spricht über sein neu erschienenes Buch und die Forschung im Kompetenzzentrum.
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Oswald Überegger
Foto: unibz

Nachdem bereits letztes Jahr das Buch "Im Schatten des Krieges" des Direktors des Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen, Oswald Überegger, erschienen ist, wird nun auch die italienische Fassung, "L'ombra della guerra", herausgegeben. Darin schildert der Historiker detailliert den Zeitraum des Ende des ersten Weltkriegs in Tirol, und wie sich dieses in ökonomischer, sozialer und Hinsicht durch die historischen Ereignisse und Verläufe veränderte. Ein besonders einschneidendes Erlebnis ist hierbei die Annexion Südtirols durch Italien, die sich im Oktober 2020 zum hundertsten Mal gejährt hat.

Unibzone: Herr Überegger, Sie haben ein Buch über den Ersten Weltkrieg, dessen Ende und seine Folgen für Tirol, vor allem auch im Zuge der in Saint-Germain beschlossenen Annexion geschrieben. Durch diese Ereignisse, schreiben Sie, hat sich ein spezifisches Regionalbewusstsein herausgebildet. Ist dies nach wie vor stark emotional behaftet oder nehmen die Menschen, 100 Jahre später, eine andere Haltung ein?

Oswald Überegger: Der Erste Weltkrieg und seine Folgen waren vor allem für den Raum Tirol prägend. Abgesehen von den Verwerfungen des Krieges – auch in Tirol waren Zehntausende Tote zu verzeichnen und große Einzugsgebiete im Bereich der ehemaligen österreichisch-italienischen Front zerstört – führte die Festlegung der Brennergrenze auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 zur Teilung des Landes. Nicht zuletzt deshalb sind der Krieg und sein Ende eine Art Zeitenwende. Über lange Zeit hinweg stelle diese Teilung eine Art Trauma dar, das nur schwer überwunden werden konnte, zumal sich auch noch nach 1945 der Weg in Richtung Südtirol-Autonomie äußerst schwierig gestaltete. Für eine ältere Generation, die mit dem Südtirolproblem aufgewachsen ist, spielt zumindest die Erinnerung an die Annexion Südtirols an Italien noch eine unterschiedlich ausgeprägte, emotionale Rolle. Die jüngere Generation in Südtirol hat sicherlich einen ganz anderen Zugang zu den Geschehnissen von 1918/19 oder auch 1945/46. Sie ist mit Schengen und der Europaregion aufgewachsen – und mit einer Grenze am Brenner, die kaum mehr spürbar ist.

In Ihrem Buch wird diese Umbruchzeit nicht nur aus einer regionalen, sondern aus einer transregionalen, sogar transnationalen Perspektive betrachtet, also in den Kontext internationaler Entwicklungen gesetzt. Haben Sie aus dieser Betrachtung neue Erkenntnisse gewonnen?

Wenn man sich mit Südtirol in dieser wichtigen Nachkriegs-Epoche beschäftigt, ist der vergleichende Blick ein ganz wichtiger. Infolge der Annexion Südtirols durch Italien ist das Land mit völlig anderen Realitäten und Herausforderungen konfrontiert worden als etwa der bei Österreich verbliebene Landesteil, das heutige Bundesland Tirol. Für mich war es vor allem interessant zu sehen, wie unterschiedlich sich die gesellschaftliche Realität in den verschiedenen Tiroler Landesteilen nach dem Krieg gestaltete: Während in Nordtirol etwa die Ernährungskrise die Bevölkerung noch lange nach dem Krieg in Atem hielt und man in den Städten hungerte, stand man in Südtirol etwa vor der Herausforderung, sich mit der Einverleibung in den italienischen Staat abfinden zu müssen. Die Südtiroler Forderungen nach einer umfassenden Autonomie scheiterten und bald schon wehte der deutschsprachigen Minderheit aus Rom in einem immer nationalistischeren Klima ein eisiger Wind entgegen. Der transnationale Blick auf die Südtirolfrage 1919/20 ist schließlich schon deshalb ganz zentral, weil die Zukunft des Landes damals nicht in Innsbruck oder Bozen und auch nicht in Wien und Rom beschlossen wurde, sondern auf der Pariser Friedenskonferenz. Die Dynamiken und Mechanismen zu rekonstruieren, die schließlich in Paris dazu geführt haben, dass Südtirol an Italien abgetreten wurde, war ein äußerst spannendes Unterfangen.

Nun ist das Buch in italienischer Sprache erschienen. Erhoffen Sie sich, dass es einen Beitrag zu einer differenzierteren und verständnisvolleren Erinnerungskultur nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den verschiedenen Sprachgruppen führt?

Ja, das erhoffe ich mir. Am Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen, das ich leite, arbeitet ein Team von deutsch- und italienischsprachigen Historikerinnen und Historikern. Wir alle publizieren zweisprachig bzw. eigentlich auch schon dreisprachig, weil neben Deutsch und Italienisch vor allem auch Englisch die Wissenschaftssprache schlechthin ist. Mir persönlich war es ein großes Anliegen dieses Buch in deutscher und italienischer Sprache zu publizieren. Aus vielen Gesprächen, auch mit Studierenden, weiß ich, dass es um die Kenntnisse über diese Zeit alles andere als gut bestellt ist. Deshalb geht es mir auch darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass ohne das Wissen über diese entscheidenden Jahre der Tiroler Geschichte, auch das Südtirol von heute nicht verstanden werden kann. Eine differenzierte, verständnisvolle Erinnerungskultur kann sich nur entwickeln, wenn man über die Geschichte Bescheid weiß, die diese Erinnerungskulturen ausbildet und prägt.

Seitdem das Buch veröffentlicht wurde, gab es Pandemie-bedingt wahrscheinlich wenige Möglichkeiten für Sie, Lesereisen anzutreten und das Buch auf diese Weise vorzustellen. Fehlt Ihnen das und hatten Sie andere Möglichkeiten, beispielsweise online das Buch zu präsentieren und zu besprechen?

Ja, ich denke, das fehlt uns allen. Wir sitzen wohl alle im selben Boot. Von den vielen Tagungsteilnahmen und Vorträgen, die ich im Herbst geplant hatte, ließ sich kaum etwas realisieren. Viele Veranstaltungen sind verschoben oder abgesagt, einige auch online durchgeführt worden. Ich war im Sommersemester 2020 Gastprofessor am Institut für Geschichte der Universität Graz und musste – wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen auch – sämtliche Lehrveranstaltungen online durchführen. Das war zweifellos – für Professoren wie Studierende – eine Herausforderung. Das Ausweichen in die digitale Welt ist meines Erachtens immer nur eine Art Notlösung. Wirklich ersetzen können die Gesichter am Laptop-Bildschirm und die verzogenen Computerstimmen eine Präsenz-Veranstaltung nicht. Es fehlen der persönliche Kontakt, der Smalltalk, die ernsthafte Diskussion, ja meinetwegen auch die Emotionen, die damit verbunden sind und sich nur im persönlichen Austausch vor Ort wirklich artikulieren können.

Sie sind Direktor des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte. Bekommen Sie durch den Kontakt zu Menschen aus der Region neue Impulse in der Forschung? Ein Kompetenzzentrum hat ja als eine ihrer Funktionen die enge Bindung des Forschungsgebietes an die Region. Wie werden die Lebensrealitäten der Südtiroler Bevölkerung miteinbezogen und Forschungsergebnisse an sie weitergegeben?

Da sprechen Sie mir aus der Seele. Unser Kompetenzzentrum ist 2013 an der Universität Bozen mit einem zweifachen Ansinnen gegründet worden: Zum einen geht es darum, die regionalgeschichtliche Forschung zum historischen Tirol in verschiedenen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen zu intensivieren, und zum anderen ist es uns auch ein Anliegen, neue Akzente in der Geschichtsvermittlung für ein breiteres historisch interessiertes Publikum zu setzen. Und das haben wir in den letzten Jahren auch gemacht. Das Zentrum hat seit 2014 eine Vielzahl von historischen Veranstaltungen, Vorträgen, Tagungen und Vortragsreihen organisiert. Gerne erinnere ich mich etwa an die Vortragsreihen zur 100-jährigen Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges oder zu „500 Jahre Reformation“ zurück, die auf großes Publikumsinteresse gestoßen sind. Die Hörsäle an der Universität waren regelmäßig voll. Beginnend mit 2021 möchten wir im Rahmen der Initiative „History on Tour“ in der Geschichtsvermittlung noch einen Schritt weiter gehen. „History on Tour“ ist ein Vortragsprogramm zu verschiedensten Themen der Tiroler und Südtiroler Geschichte. Diese Vorträge wollen wir gemeinsam mit Südtiroler Kultur- und Geschichtsvereinen vor Ort, in den Dörfern und Städten des Landes, durchführen. Und damit möchten wir die Verbindung zu den geschichtsinteressierten Menschen im Land noch verstärken. Es geht nicht nur darum, die Menschen vermehrt für die Universität zu interessieren, sondern wir möchten sie auch dort ‚abholen‘, wo sie ihr Lebensumfeld haben, und auf diese Weise viel stärker in die Gesellschaft hineinwirken.

 

Im Leitbild des Kompetenzzentrums steht das interdisziplinäre Denken, welches sich auch in Ihrem Buch wiederfindet, da Sie die betrachtete Periode aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Wie gestaltet sich dieses in der Forschung, gibt es Kooperationen mit Forschungszentren aus anderen Gebieten?

Neben der Wertlegung auf eine moderne Regionalgeschichte und auf wissenschaftliche Qualitätsforschung ist die Interdisziplinarität ein weiterer Pfeiler unseres Forschungsverständnisses. Wir unterhalten eine gute Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern, etwa Ethnologen, Archäologen, Sprachwissenschaftlern, Juristen und Politikwissenschaftlern, um nur einige zu nennen. Intensive Kooperationen gibt es auch mit universitären und außeruniversitären Instituten und Zentren im In- und Ausland, die ihrerseits wieder interdisziplinär aufgestellt sind.  Eines meiner persönlichen Forschungsfelder ist etwa die Gewalt- und Genozidgeschichte. Bevor ich 2013 an die Universität Bozen gekommen bin, habe ich an der Universität Hildesheim in Niedersachsen ein Forschungsprojekt zu den Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg geleitet. Das ist ein gutes Beispiel für ein Thema, wo ein interdisziplinärer Blick sehr bereichernd sein kann. Die Zusammenarbeit etwa mit Gewaltsoziologen und -psychologen oder beispielsweise auch die Erkenntnisse der modernen naturwissenschaftlichen Hirnforschung haben mir die Augen dafür geöffnet, wie sich Gewaltprozesse entwickeln; wie sie sich möglicherweise auch radikalisieren – bis hin zum grausamen Gewaltexzess. Interdisziplinäre Forschung ist deshalb unverzichtbar.

Sie beteiligen sich ebenfalls stark an dem Forschungs- und Vermittlungsprojekt HISTOREGIO der drei EUREGIO-Universitäten. Welches Potenzial hat die Zusammenarbeit der drei EUREGIO-Universitäten?

In dem Projekt Historegio arbeiten die Universitäten Innsbruck, Bozen und Trient nunmehr schon seit dem Jahr 2018 erfolgreich mit der Euregio Tirol-Südtirol-Trentino zusammen. Neben den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung, die vor wenigen Wochen im Rahmen eines Online-Workshops vorgestellt wurden, gibt es im Rahmen des Projektes auch eine Reihe von Vermittlungsinitiativen. Über die digitale Initiative „Quelle des Monats“ werden einer historisch interessierten Öffentlichkeit im Monatstakt interessante Archivalien und Quellen aus der Forschungsarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorgestellt, die auf der Homepage der Euregio abrufbar sind. Zentral an dem Projekt ist aber ein anderer Punkt: Erstmals gibt es so etwas wie eine systematisierte Zusammenarbeit der drei Euregio-Universitäten in regionalgeschichtlichen Agenden. Das ist ungeheuer wichtig, weil man dadurch näher zusammenrückt und sich auch in Forschung und Vermittlung, über Grenzen und wissenschaftliche Barrieren hinweg, Synergieeffekte ergeben. Das Projekt ist eine große Bereicherung für alle Beteiligten.

Momentan sind der Austausch, die Zusammenarbeit und die Möglichkeiten für Veranstaltungen durch die Pandemie eingeschränkt. Wie gestaltet sich die Arbeit des Kompetenzzentrums jetzt?

Wir alle arbeiten jetzt – im Lockdown – wieder mehr oder weniger im Homeoffice. Aufgrund der Corona-Pandemie leidet natürlich in erster Linie der Veranstaltungsbereich. Einige Tagungen und Vermittlungsinitiativen mussten wir auf nächstes Jahr verschieben, einiges führen wir aber auch online durch, wie etwa in den letzten Wochen eine Tagung mit den ersten Forschungsergebnissen des Historegio-Projektes oder den Workshop zu „Antifaschismus an der Peripherie“, den meine Kollegen Joachim Gatterer und Karlo Ruzicic-Kessler organisiert haben.  Auch die Forschungstätigkeit ist derzeit leider nur eingeschränkt möglich, weil infolge der Pandemie vor allem auch wichtige Archive und Bibliotheken geschlossen sind. Es bleibt die Hoffnung, dass sich die Lage stabilisiert und man im Laufe des Jahres 2021 wieder zu geordneten Verhältnissen übergehen kann. Wir versuchen jedenfalls, trotz der schwierigen Verhältnisse unseren Optimismus nicht zu verlieren.

Ist Ihr Buch die „Krönung“ Ihrer Forschungen über das Ende des Ersten Weltkriegs in Tirol und damit die Forschung in diesem Feld nun erst einmal abgeschlossen, oder fahren Sie noch fort?

Ja, das kann man so sagen. Der Erste Weltkrieg wird mich allerdings – wenn auch neben anderen Themen – weiter beschäftigen. Ich forsche nicht nur zu Tirol, sondern – im Rahmen meines gewalt- und genozidgeschichtlichen Interessensschwerpunktes – auch über Osteuropa und den Balkan. Mit Blick auf Tirol werden sich meine Schwerpunkte in den nächsten Jahren stärker auf die Zwischenkriegszeit und die Zeit nach 1945 verlagern, etwa im Rahmen neuer Forschungen zur „Emotionsgeschichte“ der Südtirol-Autonomie oder der vergleichenden Minderheitengeschichte. 2021 steht das Erscheinen eines Sammelbandes über die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Zentraleuropa an; ferner organisieren wir, neben vielen anderen Initiativen, eine Tagung über die Anfänge faschistischer Systeme im regionalen Vergleich. Unser Zentrum besteht zwar nur aus einem kleinen Team, das allerdings thematisch breit aufgestellt ist mit Forschungsschwerpunkten in der regionalen Zeitgeschichte, der Regionalgeschichte der Neuzeit und der Frauen- und Geschlechtergeschichte. In all diesen Forschungsbereichen gibt es eine ganze Reihe von Projekten zu einschlägigen Themen der Tiroler Geschichte, von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. An Themen und Projekten mangelt es also nicht. Ganz im Gegenteil: Mitunter nehmen wir uns auch zu viel vor.