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Maulwurf im Steuerparadies

Benjamin Quaderers Roman "Für immer die Alpen" deckt in unterhaltsamer und nie langweiliger Weise das "System Liechtenstein" auf. Nur das Ende macht traurig.
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Foto: Luchterhand Verlag

Liechtenstein ist gerade mal 120 Kilometer von Italien entfernt. Das Fürstentum zählt 35 000 Einwohner und mindestens ebenso viele Briefkästen. Die braucht es, um den Schein zu erwecken, dort eine Firma gegründet zu haben. Ausländische Unternehmen haben das verlockende Angebot in der Vergangenheit reichlich genutzt. So entstand eine der im Neoliberalismus beliebten Win-Win-Situationen, als vom Gewinn der kapitalflüchtigen Steuersparfüchse auch ein Anteil im Staatssäckel und damit bei den Einheimischen hängenblieb. Doch nicht alle Liechtensteiner waren und sind mit dieser Praxis einverstanden. 

Die Liechtensteiner, früher arme Bauern, zählen längst zu den reichsten Bürgern der Erde. 

Ideal verkörpert wird sie in Person des größten Profiteurs: Hans Adam II., der Landesfürst, verleiht dem windigen Geschäft mit seiner glanzvollen Aura eine gewisse Seriosität. Ein Schuft, wer dahinter Böses vermutet, denn wozu bedarf Seriosität noch zusätzlich des Glanzes? Kratzt doch mal jemand an der makellos erscheinenden Oberfläche, werden seine Bedenken mit Hinweis auf die Größe des ebenso idyllisch wie harmlos daherkommenden Kleinstaats abgetan. 
Nicht an der Oberfläche halt gemacht hat ein besonders renitenter Untertan und sich maulwurfgleich durch den Untergrund des Fürstentums gewühlt. Manch windiges Geschäft kam so ans Licht, brachte aber vor allem seinen Offenleger in die Bredouille. Heinrich Kieber hieß er und heißt heute nicht mehr so. Unbehelligt und vor allem am Leben geblieben ist er nur, indem er sich eine komplett neue Identität zulegte. 
Täter und Opfer zugleich, war Kieber lange Zeit Teil des Systems, das er verriet. Dafür musste er einen hohen Preis bezahlen, auch wenn er nicht hinter Gittern verschwand. Unerkannt weiter zu leben in einer Gemeinschaft, der man sich nicht mitteilen kann, ist ähnlich tragisch. In seinem Roman Für immer die Alpen nimmt sich Benjamin Quaderer dieses Schicksals an. 
Das Buch ist nicht nur des Autors Eintritt in die Literatur. Es leistet auch notwendige Aufklärungsarbeit, indem es die Geschichte des Fürstentums von bescheidenen Ursprüngen bis hin zu unbescheidenen Finanztransaktionen eingehend beleuchtet. So gesehen ist Quaderers Debüt vielleicht der größte Dienst, den ein Liechtensteiner seinem Land leisten kann. Dem Land, nicht dem Staat.
Quaderer ist 1989 geboren. Gut die Hälfte seines Erwachsenenlebens wird er an diesem Erstling gearbeitet haben. Er hat unzählige Quellen beackert, die er auch alle angibt. Sein Werk ist so authentisch und nah an der Wahrheit, dass er, um sich wie sein untergetauchter Protagonist vor paragraphenreitenden Schwarzroben und deren Klagefreude in Sicherheit zu bringen, im Abspann ausdrücklich auf die künstlerische Freiheit seines literarischen Werks beruft.
Dieses zu lesen ist, was es sein soll: ein Vergnügen. Nur das Ende macht traurig, wenn ein kaputter Held zurückbleibt, dessen Leben längst gelebt ist, obwohl er, statistisch betrachtet, noch mindestens drei Jahrzehnte hinter sich bringen muss, in strenger Klandestinität, unsichtbar für alle diejenigen, die nicht für einen der zwölf Geheimdienste arbeiten, denen er sich nach seinem Abschied aus Liechtenstein anvertraute und die ihm zahlreiche neue Wohnorte, Namen und Existenzen besorgten. 


Quaderer möchte Kieber, der im Buch Johann Kaiser heißt, wieder ein Gesicht geben. Das gelingt ihm auch mit seinem kunstvollen Kniff der „fiktiven Aufzeichnungen“, die, siehe oben, nicht so fiktiv sind, wie es der Klappentext glauben machen will. Nicht nur rein ästhetische Maßstäbe sollten daher an sein Werk gelegt werden. Die den Roman beherrschende menschliche Tragödie, auch dies arbeitet der Autor fein heraus, wurde erst durch das System Liechtenstein ermöglicht. Und spätestens hier sollte Schluss damit sein, das niedliche Fürstentum zu belächeln.  

Gleichsam aus der Sicht des Landeskindes, als das er geboren, und des Staatsgegners, der er geworden ist, nutzt Quaderer seine Begegnung mit dem Leser, um eine Nachhilfestunde in Geschichte, Geographie, Politik und Landeskunde zu erteilen.

„Das große Erstaunen, wenn wir ins Gespräch kamen“, schildert Quaderer eine Alltagsbegegnung seines Protagonisten, die auch dem Autor selbst häufiger widerfahren sein dürfte, „und ich auf die Frage, woher ich stamme, den Namen des Kleinstaats zur Antwort gab: ‚Steueroase‘, sagten sie erst, ‚Bankkonto‘ dann, und wenn sie Liechtenstein nicht mit Luxemburg verwechselten, zum Schluss: ‚Ich habe noch nie jemanden aus Liechtenstein getroffen.‘“ 
Steueroase ist das Heterostereotyp, auf das seine Heimat reduziert wird, mangels anderer Kenntnisse. Gleichsam aus der Sicht des Landeskindes, als das er geboren, und des Staatsgegners, der er geworden ist, nutzt Quaderer seine Begegnung mit dem Leser, um eine Nachhilfestunde in Geschichte, Geographie, Politik und Landeskunde zu erteilen. Selten sind 160 Quadratkilometer, verteilt auf zwei Täler mit den Herrschaften Schellenberg und Vaduz, einst herrenlos geworden und als Schnäppchen gekauft, anschließend zu entlegen und ertraglos, um neue Begehrlichkeiten zu erwecken, mühsam durch die Jahrhunderte vegetierend und schließlich, umgeben von fortschrittlichen Republiken, zum konstitutionellen Fossil mutiert, nur um sich plötzlich, auf Basis eines Gesetzes von 1926, als Finanzplatz neu zu erfinden, so unterhaltsam dargestellt worden, dass es bis zur letzten der immerhin 592 Seiten nie langweilig wird.
Im vergangenen Jahrzehnt hat die liechtensteinische Regierung einiges springen lassen, um den Steueroasenstempel loszuwerden. Sie hätte wissen sollen, wie müßig solche Ausgaben sind. Ein unerwünschtes Image wird man selten los, indem man es mit Geld zukleistert – sondern viel eher durch  einen literarischen Glücksfall, wenn da jemand mit nonchalanter Leichtigkeit, der man die viele dahintersteckende Arbeit nicht ansieht, ein kunstvolles, facettenreiches Porträt erstellt, das die bislang wahrgenommene Eindimensionalität überstrahlt.
Nicht gut weg in Quaderers Roman kommt das Fürstenhaus. Nach dem Tod der Fürstin Gina, im Roman ein wenig zu verklärend dargestellt als fürsorgliche, stets die Hände über den verwaisten Knaben Johann haltende Landesmutter, weht ein anderer Wind aus dem Palast. Ihren Sohn lässt Kaisers Schicksal kalt, jedenfalls solange dessen mitunter kriminelle Machenschaften nicht mit seinem Steckenpferd kollidieren. Das ist der Staatsstreich von oben: Die Art und Weise, wie Hans Adam II. – der gleichnamige Vorgänger mit der Ordnungszahl I hatte einst Schellenberg und Vaduz gekauft – per gelenkter Volksabstimmung die mühsam gewachsenen demokratischen Strukturen auf einen Schlag aushebelt und eine in Ansätzen aufgeklärte in eine absolutistische Monarchie rückverwandelt, stellt selbst abgebrühte Autokraten wie Wladimir Putin oder Viktor Orbán in den Schatten. Ärgerlich vor allem, wenn man selber zum aufrechten Drittel der Usurpationsgegner gehört und weiter in einem solchen Staat leben muss! Immerhin stimmt das Schmerzensgeld. Die Liechtensteiner, früher arme Bauern, zählen längst zu den reichsten Bürgern der Erde. 
Noch größer war das Schmerzensgeld an den echten Johann Kaiser. Gut vier Millionen Euro erhielt Heinrich Kieber allein vom deutschen Fiskus. Hinzu kamen die Zahlungen elf anderer Staaten, denen er die Namen ihrer Steuersünder preisgab. Wer glaubt, dass man damit glücklich werden kann, weiß zu wenig vom Leben und vom System Liechtenstein. Beides erklärt Quaderer sehr überzeugend, so dass sein Roman durchaus auch als pädagogische Handreichung und vor allem als Zeitdokument taugt.