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eingeklemmt...

waren die Südtiroler 68er. Ein Gastbeitrag von Josef Perkmann.
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Foto: Foto: Jones Keith (Kulturelemente)

Im Mai 1968 wälzten sich Tausende Studierende durch die Straßen der Innenstadt von Padua und demonstrierten gegen den Krieg in Vietnam; ein Wald von roten Fahnen; Transparente aus Leinwand, von Hand beschriftet, viele Spruchtafeln aus Pappe und noch mehr Bilder von Marx, Lenin, Ho Chi Minh und Mao auf Karton und Sperrholz. Was fast zur gleichen Zeit in Berlin, München, Paris und Mailand geschah, kann man heute in den Zeitungsarchiven nachlesen.

In den Hörsälen der altehrwürdigen, aber auch verstaubten Universität Padua tobte die „globale Anklage“ (la contestazione globale). Die Italiener protestierten nicht, sie klagten an, und zwar rundum fast alles. Die Lehrpläne wurden in Frage gestellt, die Vorlesungen gestört, Seminare von den Studenten selbstverwaltet und -gestaltet, die Autorität der Professoren untergraben, Benotungen erzwungen (il 18 garantito) und Lehrinhalte seziert. Die Mehrheit der Studenten traute diesen Vorgängen nicht und war zunächst verstört.
Doch damals haben auch außerhalb der Uni viele Menschen begonnen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Sie begannen sich anders zu benehmen, anders zu kleiden und die Umgebung anders wahrzunehmen. Es war plötzlich keine Schande mehr, wenn der Sohn des Lehrers in die Fabrik ging, die Frau des Nachbarn Hosen trug und Busfahrerin wurde. Die Arbeiterklasse wurde oft auch auf ein Niveau hochstilisiert, das sie nie hatte. Aber die Wertschätzung für arbeitende Menschen ist auf diese Weise gestiegen und die Gesellschaft ist etwas gleicher und gerechter geworden.

Südtirol und die SH

Südtirol hatte 1968 andere Probleme. In Bozen gab es keine „Studentenkrawalle“ wie in Deutschland, Frankreich oder im benachbarten Trient. Die einzige Tageszeitung, die landesweit gelesen wurde, stellte die studentischen Unruhen stets ins richtige bodenständige Licht. Gleichzeitig waren die Südtiroler Studenten ähnlich wie ihre Kollegen aus anderen Ländern und Sprachräumen bereits vor 1968 beunruhigt. Wir waren ein kleiner Haufen. Es gab damals gerade einmal 200 Maturanten im Jahr. Wer auf die Uni wollte, musste Südtirol verlassen. Aber auch in der Fremde lebten wir unter uns, oft wie in einem Ghetto, besonders in den italienischen Universitätsstädten. Wir waren fast alle organisiert und gehörten zur Südtiroler Hochschülerschaft (SH).
Man hätte diese SH bis 1968 ohne weiteres als eine Substruktur der SVP bezeichnen können. Auf der Jahresversammlung von 1966 hatten Luis Durnwalder und seine Freunde das Heft noch fest in der Hand und Alexander Langer musste sich mit der Rolle eines oppositionellen Einzelgängers zufriedengeben. Trotzdem gärte es in der SH bereits seit 1965. Man machte sich Sorgen um die Isolierung des Landes und um den Frieden zwischen den Volksgruppen, gerade die Abriegelung in zwei Parallelwelten durch Kulturlandesrat Zelger war vielen suspekt.
So kam es 1968 zum Umbruch. Als SVP-Organisation hielt die SH einmal im Jahr eine Studientagung zu wichtigen politischen und kulturellen Fragen ab, die in der Südtiroler Öffentlichkeit ihren Stammplatz hatte. So war es auch 1968 – mit einigen wesentlichen Unterschieden. Man wollte über „das Selbstverständnis der Südtiroler“ sprechen. Das Thema war zweischneidig formuliert. Unter diesem Hut konnte man sowohl den Tiroler Patriotismus auseinandernehmen, als auch die Abnabelungspolitik anprangern. Beides ist dann auch geschehen: Im Frühjahr 1968 fand in Igels bei Innsbruck eine erste Tagung in einem kleinen und ausgewählten Kreis von Studenten, Professoren und Politikern statt. Die Beteiligung von Frauen war äußerst gering und von der späteren Genderdebatte kein Hauch zu spüren. Am Rande der Tagung kam es zu einer drei-Mann-Demonstration mit Siegfried Stuffer, Alexander Langer und Josef Schmid.

Der zweite Teil der Tagung wurde im Herbst 1968 in Brixen abgehalten. Der neue Kulturreferent (und Autor dieser Zeilen) riskierte damit gleich zwei Tabubrüche, denn er ließ zum Thema Selbstverständnis zwei fremde Glocken läuten. Seiner Meinung nach sollten die Tagungsteilnehmer auch hören, was die Italiener und speziell italienische Christdemokraten, Kommunisten und Sozialisten zu sagen hatten. Dementsprechend mischte er unter die systemtreuen Tiroler Referenten auch die Feministin Lidia Menapace (damals noch DC), Anselmo Gouthier (PCI), Claudio Emeri (PSI) und Elio Franzin, einen schillernden und nicht linientreuen Kommunisten aus Padua, der die Südtiroler Bumser für die bevorstehende Weltrevolution gewinnen wollte.
Als die Dolomiten von diesem Vorhaben hörte, stellte sie Recherchen an und rief ihre Leser dazu auf, die Tagung zu meiden. Vergeblich. Die Veranstaltungen in der Cusanus Akademie waren voll bis auf den letzten Platz. Es wurde offen diskutiert und die Folgen innerhalb der SH waren brisant.
Es dauerte nur noch wenige Monate und die Leitung der SH lag in den Händen von Studierenden, die mit der SVP entweder nichts zu tun hatten oder mit ihr auf Kollisionskurs gingen. So war die SH im Südtiroler Selbstverständnis ihrerseits weit nach links abgerutscht. Ein Jahr später durfte N. C. Kaser in der SH seine berühmten Brixner Rede halten, mit der er 1969 die Südtiroler Literaturszene neu aufmischte.

Die brücke

Die materiell bescheidene Zeitschrift brücke, die gerade erst von Alexander Langer, Siegfried Stuffer und Josef Schmid gegründet worden war, stellte in Südtirol das theoretische Rückgrat der 68er dar und stach wiederholt ins Wespennest. Es gab kritische Beiträge von Josef Schmid über die versteinerte Gesellschaft und den Tyrolismus, während sich Alexander Langer für das Zusammenleben der Volksgruppen stark machte. Ich selbst zeigte vor allem die Gefahren für die Arbeiter und Bergbauern auf, die unter die Räder der großflächigen EU-Agrarpolitik zu kommen drohten. Auch mit deutschen und italienischen Rechtsradikalen wurde abgerechnet, leider mit geringem Erfolg, weil die Gerarchetti und die heimgekehrten Frontkämpfer und SS-Offiziere große Teile des Südtiroler Establishments hinter sich hatten und mit der Rückendeckung von Presse und Rundfunk rechnen konnten, während die heimischen 68er, die man als „Berufsprotestierer“ bezeichnete, oft und gerne mit der Berliner Mauer in Verbindung gebracht und geächtet wurden.
Die Gründer der brücke blieben nicht lange allein. In ihren Dunstkreis zog es junge Leute wie Hellmut Rauch, den späteren ORF-Korrespondenten Franz Kössler und Klaus Reider, damals noch HOB Schüler, Klaus Civegna, Günther Rauch und zahlreiche SH Mitglieder und Oberschüler. Bereits 1969 fiel die brücke in sich zusammen. Ihre physische Existenz war kurz, ihre kulturelle und politische Wirkung hielt jedoch an.

eingeklemmt

Wer in Südtirol nach 68er Ereignissen sucht, wird nur bescheidene Spuren vorfinden. Es gab keine Straßenschlachten wie in Trient, keine Toten und Verletzten wie in Berlin, keinen Mai wie in Paris, aber es gab eine lokale, ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit den Themen, die das Jahr 1968 prägten. Von den 68er Ideen ist heute – auch in Südtirol – sehr vieles bis in die elementarsten Schichten der Zivilgesellschaft durchgesickert. Auch an hauseigene Probleme, etwa an das Verhältnis zwischen den Volksgruppen und die soziale Ungleichheit, ist man mit einer neuen Denkweise herangegangen.
Auf die Südtiroler 68er passt vor allem das Attribut eingeklemmt, jene Beschreibung einer typischen Südtiroler Befindlichkeit, die N. C. Kaser einmal im Vorbeigehen fallen ließ. Wir waren eingeklemmt zwischen Volkstumskampf und Berliner Mauer, zwischen bestehenden Verhältnissen, die uns auch in Südtirol zu eng waren, und einer Zukunft, die besser ausgefallen ist als sie sich angekündigt hat.