Società | Gastkommentar von Sabine Gruber

"Stillbach oder die Sehnsucht"

Der ehemailge SS-Obersturmbannführer Erich Priebke ist 100jährig in Rom verstorben. Aus diesem Anlaß ein paar Zeilen aus meinem Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht" (C.H.Beck 2011).

"Die Polizistin, die Paul nach kurzem Zögern auf der Via Cardinal Sanfelice angesprochen hatte, war freundlich gewesen und hatte ihm erzählt, daß Signor Priebke zweimal in der Woche Ausgang habe, daß er sich guter Gesundheit erfreue und geistig fit sei. Wenn Paul ihn interviewen wolle, müsse er das Militärgericht um Erlaubnis fragen. Priebke sei Gesprächen nicht abgeneigt. Paul hatte sich beim Anblick der groß gewachsenen und korpulenten Frau gefragt, ob sie mit all den Kilos am Leib imstande wäre, jemandem nachzulaufen, auch schien ihm die Beaufsichtigung des Häftlings äußerst lückenhaft, denn während die Polizistin mit dem Barbesitzer gesprochen hatte, war der Hauseingang unbeobachtet gewesen.

Ob sie hier sei, um Priebke zu bewachen, hatte Paul gefragt. „Soviele Polizisten gibt es in Italien nicht, daß man alle, die unter Hausarrest stehen, im Auge behalten könnte. Hier leben viele Juden.“ Die Polizistin hatte sich ins Auto gesetzt und die Tür offengelassen. „Deswegen sind wir hier.“

Im Dezember 1997, als man den Verhafteten nach Boccea gebracht hatte, waren noch zehn Carabinieri, zwei kleine Panzerfahrzeuge, mehrere Streifenwagen und Soldaten mit Maschinengewehren vor dem Haus gestanden. Die Anrainer hatten Spruchbänder über der Bar und an den Balkonen befestigt, Buon Natale assassino, Frohe Weihnachten Mörder, und Priebke vattene da casa nostra, Priebke verschwinde aus unserem Haus. Im selben Kondominium, in dem dieser Giachini den Häftling aufgenommen hatte, lebten zwei Cousins, die von den Nazis verschleppt worden waren und ein alter Herr, der Buchenwald überlebt hatte. All die Proteste der Bewohner des Viertels, der Jüdischen Gemeinde und der Rifondazione Comunista waren unerhört geblieben. Aus Krankheitsgründen war Priebke aus dem Gefängnis entlassen und in das hundertzwanzig Quadratmeter große, helle Appartement gebracht worden, dessen Fenstergitter Giachini irgendwann zum Schutz vor Dieben hatte anbringen lassen. Hinter den Jalousien trainierte der ehemalige SS-Offizier auf einem Standfahrrad.
Paul saß auf seinem Schreibtischsessel; er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Vor ihm lagen verschiedene ausgedruckte Zeitungsartikel aus dem Archiv des Corriere della Sera.

Einen ganzen Vormittag hatte er damit verbracht, zum Wohnort des Alten zu fahren und sich das Haus und die Umgebung anzuschauen; was hatte er sich davon versprochen? Einen Blick auf den Mann werfen zu können? Er wußte doch, wie der aussah. Ohne das Wissen um dessen Geschichte würde er ihn sogar als attraktiv bezeichnen.

Solche Leute, hatte Marianne einmal gesagt, müßte man nach ihren eigenen Maßstäben bestrafen. Das hatte sie nur sagen können, weil sie die Maßstäbe jenes Herrn nicht kannte. Paul wußte von den speziellen Verhörmethoden des SS-Mannes, daß er in den ersten Tagen der deutschen Besatzung einschlägige Erfahrungen im Keller der Botschaftsvilla Wolkonsky gesammelt und diese dann im Gestapo-Hauptquartier angewendet hatte.

„Mattei ist schrecklich. Er ist schrecklich still“, hatte Priebkes Vorgesetzter, SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler gesagt und Priebke holen lassen. Aus Angst, den physischen und chemischen Folterungen nicht standzuhalten, und die Genossen zu verraten, hatte sich der Kommunist Gianfranco Mattei in seiner Zelle erhängt.
„Spegni Via Tasso, Mach’ die Via Tasso aus!“ - andere, die überlebt hatten, konnten kein Licht mehr ertragen."