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Wo Europäer ihre Wut rauslassen

Rage Rooms sind der neue Trend in Europa. Für 200 Euro kann man in Berlin etwa eine Stunde lang Gegenstände zerschlagen. Was steckt dahinter?
Wut
Foto: Yogendra Singh (Unsplash)

Für das kommende Wochenende sind im Escape Frauenfeld in der Schweiz alle Termine ausgebucht, am Wochenende darauf ist nur mehr ein kleines Zeitfenster grün angezeigt – dann könnte man hingehen und Gegenstände zerschlage. Wie bitte?

Es ist ein Trend, der sich gerade durch die Städte Europas zieht: „Rage-Rooms“, also Räume, in denen man seiner Wut freien Lauf lassen kann. Besucher buchen ein Zimmer, gefüllt mit Gegenständen – Flaschen, Teller, Vasen – und wählen das Werkzeug, mit dem sie diese zerschmettern möchten. Ob Baseballschläger oder Brecheisen, das Prinzip dahinter ist dasselbe: angestaute Aggressionen rauslassen, Wut abbauen, vom Alltag runterkommen. Wem ein Spaziergang im Park zum Entspannen nicht reich, der wendet sich an einen Rage Room.

In manchen Urlaubsorten, etwa in Griechenland, bieten sogar Hotels Zimmer zum Zerstören an. In Berlin ist das neue Freizeitangebot mittlerweile in verschiedensten Einrichtungen und den unterschiedlichsten Formaten zu finden. Im Crashroom Berlin etwa kann man sich sogar eine stressabbauende Tortenschlacht gönnen – für 250 Euro.

Der Bedarf, Dampf abzulassen, ist nach der Pandemie und dem Lock-down umso größer. So erzählt es der Finne Janne Raninen, ein Ex-Häftling, der in Helsinki einen neuen Rage Room eröffnet hat. Die Kunden ließen ihre Wut vor allem gegen die Pandemie ab, erzählt er dem Standard, aber auch aufgrund von gescheiterten Liebesgeschichten. Eines seiner Zerstörungs-Zimmer steht daher unter dem Thema der Scheidung, mit Brautkleidern und Anzügen zum Zerreisen für geschiedene Eheleute.

80 Prozent der Kunden, so erzählt es Raninen, seien weiblich und zwischen 25 und 45 Jahre alt. Aber auch für Firmentreffen sei sein Rage Room ein beliebter Ort: Sollte die Besprechung schlecht laufen, so hätten die Mitarbeiter zum Frustablassen der Rage Room direkt nebenan.

Sicherheitsbedenken vorweggenommen: Zertrümmert wird nur in Schutzanzügen, inklusive Schutzbrille und Handschuhe. Doch ist ein Wut-Raum das geeignete Ventil, um Emotionen wie Ärger und Frust freien Lauf zu lassen?

 

Wütend, nicht Aggressiv

Der Finne Raninen, der zwei Jahrzehnte lang wegen Mordes im Gefängnis saß, und heute mit aggressiven Jugendlichen arbeitet, sieht den Rage Room als Möglichkeit, der Gesellschaft „etwas zurückzugeben“, wie er im Gespräch mit dem Standard erzählt. Auch der Anti-Aggressionstrainer Jens Weidner nennt gegenüber den Stuttgarter Nachrichten Wut-Räume als gute Möglichkeit zum Aggressionsabbau. Wut sei eine Emotion, die in jeder Kultur und bei jedem Menschen vorkomme, weshalb es wichtig sei, sie in einer „produktiven“ Form auszulassen, anstatt an seinen Mitmenschen. Fresse man die Wut in sich hinein, bestehe die Gefahr von selbstzerstörerischem Verhalten, wie Alkoholismus oder Essensstörungen, so Weidner.

Die eigene Wut anzuerkennen, sei sogar immens wichtig, um keine Angst vor ihr zu entwickeln, sagt Psychologe und Professor für Verhaltenstherapie Serge Sulz in einem Bericht von Perspective Daily. Nur durch Auseinandersetzung mit der eigenen Wut könne eine gesunde, konstruktive Wut entwickelt werden, genauso wie eine größere Empathie gegenüber der Wut Anderer.

Doch in unserer Zeit werde Wut als ein ausschließlich negatives Phänomen dargestellt, heißt es in dem Artikel von Perspective Daily. Das führe zu schneller Verurteilung gegenüber Wut sowie zur Unterdrückung der eigenen Emotionen. Und das wiederum führe zu einem Gefühl der Ohnmacht und einer verstärkten Opferrolle, erklärt Psychologe Sulz, was zu einem schlechteren Miteinander führe. Dass unterdrückte Wut, Frust und Opfermentalität Phänomene sind, die unsere Gesellschaft heute negativ beeinflussen, zeigen die vielen Hass-Attacken im Netz. Dabei sei Wut auch eine wichtige Emotion, die – in konstruktiver, statt gewalttätiger Form- Menschen antreibe und ihnen dabei helfe, sich gegen Unrecht zu wehren.

Hinter Wut und hinter den Rage Rooms, die einen legitimen Platz für diese wichtige Emotion schaffen, steckt also ein unheimliches Potential. Bevor man nächstes Mal jemanden als „Wut-Bürger“ beschimpft, wäre es vielleicht sinnvoll, Empathie der Wut gegenüber zu zeigen und den Menschen auf einen Rage Room hinzuweisen: Dinge zu zerschlagen kann konstruktiver und wohltuender sein, als fremde Menschen mit Pseudonymen im Netz zu beschimpfen.