Books | Rezension

Süchtig – Einmal etwas anders erzählt.

Bereits nach 20 Seiten hat Lorenz Gallmetzer den Leser mit der Geschichte über sein von Alkohol- und Drogengebrauch geprägtes Leben in seinen Bann gezogen.
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Foto: KURIER/Gilbert Novy

Ich hatte bei allem, was ich tat, einen nicht zu zügelnden Drang zum Exzess, zum Unersättlichen – in der Arbeit wie im sozialen Verhalten … Der Wein als stimulierendes Stimmungsdoping, der Wein als Gefühlsverstärker, der Wein zum besseren Ertragen der Widrigkeiten des Alltags, der Wein zur Belohnung, der Wein zur Entspannung und Beruhigung. Es gab immer einen Grund und immer einen Anlass zum Trinken. (S.16)

Gallmetzer eröffnet den Lesern sehr persönliche biographische Momente.
Das haben vor ihm schon viele andere mit der Offenlegung ihrer Suchtkarrieren getan. Auch dass es ein Promi ist, der den Schritt ins alkoholische coming-out wählt, ist nicht neu.
Etwas aber ist bei Gallmetzer anders. Seine Erzählung über die langsame Vereinnahmung des Alltags durch den Alkohol, ist so strukturiert, dass dem Leser die Möglichkeit eröffnet wird, über sich selbst nachzudenken und den eigenen Umgang mit der Droge Alkohol zu reflektieren.

Ich brauchte den Wein. Ohne war ich unrund, irritierbar, ungeduldig und Stimmungsschwankungen unterworfen. (S.22)

Anders als bei vielen anderen Publikationen zum Thema Sucht, liegt der Fokus des Buchs nicht auf dem Suchtmittel – das Zellgift Alkohol oder die Killerdroge Kokain – und auf den Gefahren der Substanz.
Vielmehr steht ein Mensch im Mittelpunkt, der trotz beruflichem Erfolg und Ruhm, seine innere Leere nicht aufzufüllen weiß, dem es nicht gut geht in dieser Welt und der ab einem gewissen Moment erfährt, wie Substanz(en) dieses Leiden mit und an sich (zumindest eine Zeitlang) zu lindern wissen.
Nicht die Droge ist's, sondern der Mensch, dieser oft zitierte Satz trifft auch auf die Botschaft, die Gallmetzer vermitteln will, zu.
Damit wirkt die Veröffentlichung für ein schon vielbehandeltes Thema erfrischend neu.

Hier die Melancholie als Grundstimmung, dort die Flucht in Arbeit und Sozialaktivitäten – beides sind denkbar schlechte Voraussetzungen für ein ausgeglichenes Seelenleben. (S.16)

„Etwas aber ist bei Gallmetzer anders. Seine Erzählung über die langsame Vereinnahmung des Alltags durch den Alkohol, ist so strukturiert, dass dem Leser die Möglichkeit eröffnet wird, über sich selbst nachzudenken und den eigenen Umgang mit der Droge Alkohol zu reflektieren.“

Die Publikation begrenzt sich aber nicht nur auf die Lebensgeschichte von Lorenz Gallmetzer. Aufgenommen werden auch andere Suchtkarrieren. Erzählt werden die Schicksale von Personen, die Gallmetzer während seines Therapieaufenthaltes in einer Wiener Therapieeinrichtung kennengelernt hatte. Dazu gehören ein 60-Jähriger, der zuerst alkohol-, später spielsüchtig war, von Alkohol und Beruhigungsmitteln abhängigen Männer und Frauen und eine 55-Jährige, die nach dem Suizid ihres Mannes eine posttraumatische Belastungsstörung mit Alkohol zu lindern versuchte.

Aus: M. – Trauriger Rekord (S.45)”
Ohne zu trinken war ich ein kleines, graues Mäuschen, das es nicht wagte, etwas zu sagen oder zu tun. Kaum hatte ich getrunken, war ich einen Kopf größer. Mir geht’s gut, ich bin stark, ich schaffe eh alles – so fühlte ich mich dann.

Auch bei diesen erzählten Lebensgeschichten bleibt der anfängliche Stil beibehalten: Im Fokus bleiben die Menschen mit ihren Brüchen, Traumatisierungen, seelischen Verletzungen, Entbehrungen, Einsamkeits- und Gewalterfahrungen. Als Kinder verlassen, geschlagen, vernachlässigt oder missbraucht.

Der Autor

Lorenz Gallmetzer, geboren in Südtirol, studierte Romanistik, Geschichte und Literatur in Wien und Mailand. Ab 1981 in der Auslandsredaktion des ORF, zunächst Korrespondent in Washington, dann viele Jahre Korrespondent in Paris. Nach seiner Rückkehr nach Wien ab 2001 Reporter für das ORF-Weltjournal und 2008/2009 Sendungschef des Club 2. Heute lebt er als Publizist und Autor in Wien. Unter anderem schreibt Gallmetzer für salto.bz.

Insgesamt sammelt Gallmetzer die biographischen Fragmente von 12 Männern und Frauen. Er sprach unter anderem mit einem 53-jährigen Mann, der von Alkohol, über Tabletten, Haschisch, Crack, Kokain und Heroin viele Facetten der Abhängigkeit durchgemacht hatte, einer in ihrer Kindheit und Jugend schwer misshandelten Frau sowie mit einem sexuell missbrauchten Mann, der wegen seines chronischen Cannabiskonsums in Therapie war.

Aus: M. K. – Die Hölle in mir (S.57)”
Und immer diese Unsicherheit, der Eindruck, nicht am richtigen Ort, am richtigen Platz und überhaupt irgendwie anders als die anderen zu sein.

Erst danach kommen die Substanzen und ihre Wirkungen, mit denen versucht wird das Selbstbild aufzufüllen. Substanzen als Selbstmedikation, diese Theorie hat unter Fachmenschen Konsens, auf breiter gesellschaftlicher Ebene oder in den Mediendiskursen allerdings noch lange nicht.
Zur Sprache kommen auch die oft mit einer Abhängigkeit zusammen hängenden psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Borderlinestörungen.

Aus: R. M. – Die Dämonen der Angst (S.68)”
Jeden Tag, wirklich täglich, dachte ich mir, es ginge um nichts mehr bei mir. So deprimiert war ich. Nur wegen der Kinder schob ich alle Gedanken, dem ein Ende zu machen, weg. Aber es verging kein Tag, an dem ich nicht vor dem Einschlafen gebetet habe, ich möge nicht mehr aufwachen. So ging es mir.

Es fällt auf, dass unter den Menschen, die zu Wort kommen, fast nur ältere Semester sind, die Generation 50+. Das hat viel mit der oft unterschätzten und verharmlosten Substanz Alkohol zu tun. Gallmetzer macht das an seiner eigenen Karriere sichtbar.

In der Suchttheorie heißt es ja, die Trunksucht müsse man sich geradezu erarbeiten. Ganze zehn Jahre müsse eine normal konstituierte Person – also ohne genetische oder andere körperliche und psychische Vorbelastungen – regelmäßig trinken, um eine bleibende Abhängigkeit zu entwickeln.
Bei mir hat es wohl noch länger gedauert, und selbst als ich schon unbestreitbar ein gewohnheitsmäßiger Spiegeltrinker war, konnte ich das mit meinem Berufsleben und meinen zwischenmenschlichen Beziehungen ganz gut vereinbaren. Ein wichtiger Grund dafür war sicher der Umstand, dass ich gesellschaftlich verankert blieb, dass mir meine Rolle im sozialen Leben viel bedeutete. (S.14)

Neben dem allseits zu Verfügung stehenden gesellschaftlichen Schmiermittel Alkohol spielt im Buch eine weitere Substanz eine wuchtige Hauptrolle: psychoaktive Medikamente, vor allem Beruhigungsmittel. Ansonsten aus jedem Suchtdiskurs praktisch ausgeklammert gibt es im Buch viele Passagen, die sich mit Medikamentenabhängigkeit auseinandersetzen.

Aus: M. K. – Die Hölle in mir (S.54)”
Die Pillen haben meine Persönlichkeit verändert. Sie haben mich unberechenbarer gemacht, streitsüchtig, und ich hatte ständig das Gefühl, dass mir jemand folgt. Solche paranoiden Tendenzen, die ich schon früher gekannt hatte, traten wieder verstärkt auf. Vor allem war ich dauernd benebelt, nie ganz klar. Ich kam mir irgendwie verrückt vor … aber auch schön eingebettet, schön weich umhüllt.

Das Buch

Lorenz Gallmetzer hat in „Süchtig“ seine Erfahrung in Kalksburg, der größten Suchtklinik Europas, niedergeschrieben, wo dem Südtiroler Journalisten der Alkohol- Entzug gelungen ist. Es sind dramatische Geschichten, die Lorenz Gallmetzer in diesem Buch erzählt, nicht zuletzt seine eigene: Der erfolgreiche Journalist hält seine Depressionen über viele Jahre mit Alkohol im Zaum, bezwingt damit Stress und Versagensängste, bis er sich eines Tages eingestehen muss, dass ihn die Sucht im Griff hat.


Im letzten Kapitel des Buches lässt Gallmetzer mit Prof. Michael Musalek einen bekannten Suchttherapeuten zu Wort kommen. Musalek greift auf unkonventionelle Weise den Suchtdiskurs auf und stellt einiges an Altbekannten auf den Kopf. Das ist auch für Fachmenschen inspirierend.
„Viel wichtiger als diese Grenzmenge ist für uns, ob jemand regelmäßig trinkt oder nicht, ob er oder sie schwere Berauschungszustände erlebt oder nicht, ob alkoholfreie Tage eingehalten werden oder nicht und vor allem, ob der Alkohol als Medikament oder als Genussmittel konsumiert wird“ schreibt der bekannte Wiener Suchtforscher. Dieses Kapitel ist auch jenen zu empfehlen, die sich hierzulande mit Alkoholforschung beschäftigen. Um den Anteil risikoreich konsumierender Menschen in einer Gesellschaft zu beforschen, gibt es eben weitaus bessere Kategorien als den „Konsum außerhalb der Mahlzeiten“.

Musalek vermittelt in leicht lesbarer Gesprächsform, was für eine Anziehung die Wirkung von Substanzen auf Menschen ausüben kann. Er vergleicht sie mit hochattraktiven Zaubertränken, die uns in andere Sphären bringen, aber bei zu langer Einnahme zu erheblichen Problemen führen.
Eine weitere Aussage steht im krassen Widerspruch zu einer immer noch gängigen Theorie, die Abhängigkeit als chronische, rückfallgeprägte und fast unheilbare Erkrankung sieht. „Die Heilungsprognose bei der in unseren Breiten und in unserer Kultur am weitesten verbreiteten Sucht, nämlich der Alkoholsucht, ist überraschend hoch, ja geradezu enorm hoch: 80 Prozent, wenn sich Menschen dauerhaft therapeutisch begleiten lassen.“

„Das ganze Buch ist ein Plädoyer an die Kraft der Therapie.“

Das ganze Buch ist ein Plädoyer an die Kraft der Therapie. Von Therapie unter einem besonderen Gesichtspunkt, den Musalek so zusammenfasst: „Es geht nicht um das Durchhalten, sondern darum, das Leben mit so viel Schönem aufzuwerten, dass der Alkohol an Bedeutung verliert, im Idealfall zum Störfaktor wird. Das Therapieziel ist also nicht die Abstinenz, sondern ein freudvolles und autonomes Leben, was nichts anderes heißt als psychische Gesundheit.“

Und mit einer weiteren, weit verbreiteten Meinung, räumt Musalek auf. „Es heißt immer, Alkoholkranke seien unverlässlich, leistungsschwach, sie würden lügen und vieles mehr. Im Gegenteil. Wenn sie nicht alkoholisiert sind, sind es Menschen, die weit über das Maß hinaus arbeiten, sie sind in der Regel sehr genaue Menschen, haben ein sehr hohes Wertebewusstsein. Das Problem ist also die Alkoholisierung und nicht die Alkoholkrankheit.“

Das Buch „süchtig. Abhängige erzählen“ bietet interessierten Lesern aber auch Fachmenschen einen anderen und facettenreichen Einblick in das oft behandelte Thema Sucht. Gallmetzer bleibt bei der Person und konzentriert sich nicht auf ihre devianten Verhaltensweisen. Letztlich bemerkt man aber auch den Journalisten, der es beherrscht die Hintergründe auszuleuchten und ganz Medienprofi ab einem gewissen Moment als Selbstbetroffener verschwindet.

Der Rezensent

* Peter Koler, 1965 in Bozen geboren, Studium der Psychologie und Pädagogik an der Universität Innsbruck. 2013 Dissertation zum Dr. phil. an der Fakultät Erziehungswissenschaften der TU Dresden.
Trainer in Motivational Interviewing, von 1993-2001 Mitarbeiter des Dienstes für Abhängigkeitserkrankungen in Bozen, seit 2001 Leiter der Fachstelle für Suchtprävention und Gesundheitsförderung „Forum Prävention“ in Bozen, seit 2007 zusätzlich verantwortlicher Direktor der Fachstelle für Essstörungen „infes“ in Bozen. Mitglied der „Koordinierungseinheit im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen“ des Landes Südtirol. Mitglied der „Östereichischen ARGE Suchtvorbeugung“. Lehrbeauftragter an der Freien Universität Bozen und der Pädagogische Hochschule Oberösterreich

Veröffentlichungen und Beiträge zu den Themenbereichen „Jugend“, „Drogen“, „Präventionsarbeit“ und „Gesundheitspolitik
“.