Cultura | Salto Weekend

(K)ein Verriss

Wolf Haas hat ein neues Buch. In „Junger Mann“ verliebt sich ein dicklicher 13-Jähriger in die ältere, bildschöne Frau des Dorfproleten. Ein Brief an den Autor.
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Foto: Foto: Lukas Beck

Lieber Herr Haas,

ich wollte Ihr neues Buch verreißen (oder zumindest eloquent auseinandernehmen), weil ich kürzlich bei einer namhaften österreichischen Literaturwissenschaftlerin die Annahme bestätigt gefunden habe, dass auch die fähigsten Autoren von Zeit zu Zeit mittelmäßige Bücher schreiben und selbst Sie unmöglich über dieser Regel stehen können; weil Sie so erfolgreich sind, dass Ihrem neuen Buch schon bei Erscheinen ein Lesezeichen mit sage und schreibe dreiundzwanzig Lesungsterminen beiliegt und der erfolgreiche Verkauf des neuen Buches somit nicht einmal im Tausendstelprozentbereich von einer Provinzrezension abhängen wird; weil das Cover Ihres neuen Buches orange ist und Orange außer an Herbstbäumen doch eine unsäglich hässliche Farbe ist; weil noch dazu eine Badezimmerwaage abgebildet ist und das neue Buch einen Kalorienzähler zum Protagonisten hat und weder Badezimmerwaagen noch Kalorienzähler*innen die Welt zu einem besseren Ort machen. Weil … zugegeben, keine besonders triftigen Weils, deshalb zum Aber: Aber ich musste auf der zweiten Seite laut lachen, als der Ich-Erzähler bei der Beschreibung seiner Anfahrt auf eine Skisprungchance im Alter von vier Jahren mit dem folgenschweren Satz kommt: „Doch als ich den Blick hob, ergriff mich eine unvorhergesehene Nachdenklichkeit.“

Ab der vierten Seite hatte ich wie bei jedem Ihrer Bücher dieses unbestimmte Gefühl, von Ihnen latent verarscht zu werden, was ich mir nur dadurch erklären kann, dass Sie die Erwartungen des Lesepublikums offensichtlich dreist genau zu kennen scheinen und diese mit dem Ziegenlachen des Tankstellenbesitzers im Roman (so stelle ich es mir gerne vor) absichtlich nicht erfüllen. Geschickt und auch etwas listig streuen Sie Hinweise auf den weiteren Handlungsverlauf, lassen uns an romantische Wendungen glauben, actionfilmwürdige Szenen herbeifantasieren und reißen dann, wenn wir uns schon ganz sicher sind, dass es jetzt aber so kommen muss, das Ruder herum und es kommt völlig anders. Oder noch hinterhältiger: Sie machen es ganz unspektakulär und lassen schlicht nichts passieren, und entlarven so unsere niedrigsten Hoffnungen auf das Große, Pathetische. Die wirklich wichtigen Wendungen ereignen sich wiederum da, wo man sie am wenigsten vermutet hätte. Warum Sie uns so niederträchtig an der Nase herumführen? Entweder aus einer tiefen Zuneigung den Leser*innen gegenüber (Sie wissen, dass wir nicht wirklich ein Groschenromanende oder eine vorhersehbare Handlungsentwicklung wollen und schützen uns vor der Enttäuschung), oder aber Sie sitzen rumpelstilzchengleich vor Ihrer Tastatur und ergötzen sich an Ihrem Wissensvorsprung.

Stilistisch gesehen ist Ihr neues Buch die Dessertvariation unter den Nachtischen (der kalorienzählende Protagonist wird mir den Essensvergleich verzeihen): Man lässt sich, schon ein wenig vom Wein beduselt, Austriazismenhalbgefrorenes an einem Dialektismenspiegel auf der Zunge zergehen, labt sich am cremig gerührten Alltäglichkeitenmousse garniert mit nonchalant ungeschliffenen Schöpfungssplittern („fensterputzerische und eiskratzerische Hingabe“) und am Ende steht der Teller leergeschleckt da und man fühlt sich nicht kalorienschwerer als nach einem Zitronensorbet.

Nach der Lektüre dieser wilden Mischung aus Teenagertagebuch, Provinzroman und Road Trip, Herr Haas, weiß ich, was der Unterschied zwischen Spinner und Depp ist, dass man Schweigen in normales, zweifaches und dreifaches Schweigen einteilen sowie Zeit in Dörfern messen kann und wie Badezimmerwaagenkamasutra funktioniert. Wenn ich Ihnen etwas vorwerfe, dann dass Ihr neues Buch nicht für den öffentlichen Nahverkehr taugt – Scheibenwischerhandgesten anderer Fahrgäste als Reaktion auf das Schmunzeln, Kopfschütteln, Kichern, Schnauben, laute Herauslachen der/des Lesenden sind nicht auszuschließen. Wie gesagt, Herr Haas, ich wollte Ihr neues Buch verreißen. Vielleicht beim nächsten Mal.