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Braune Netzwerke

Die Folgen der Aus- und Rückwanderung für Südtirols Nachkriegsentwicklung. Ein Beitrag von Gerald Steinacher aus der Neuerscheinung "Einmal Option und zurück". Teil 1
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Foto: IKRK

Nach 1945 zeigen sich die Folgen der Option von 1939. Die Frage, wie weit sich Optanten und Optantinnen mit dem Naziregime eingelassen haben, verhindert eine schnelle Rückerlangung der Staatsbürgerschaft. Doch bald setzen sich die ehemaligen NS-Eliten durch, werben für die Rückkehr weiterer Optanten und Optantinnen, bilden Seilschaften und bestimmen das politische Leben mit. Das soeben bei Edition Raetia erschienen Buch „Einmal Option und zurück“, herausgegeben von Günther Pallaver, Leopold Steurer und Martha Verdorfer, liefert eine erste umfassende Analyse der Folgen der Aus- und Rückwanderung und zeigt den langen Schatten der Option bis in die Gegenwart auf. Unter anderem in Bezug auf die Nachkriegskarrieren von ehemaligen SS-Angehörigen, wie der in den USA lehrende Historiker Gerald Steinacher in seinem Beitrag aufzeigt.

Nach Hitler

Nicht wenige prominente Nationalsozialisten und SS-Angehörige erfanden sich nach 1945 neu und avancierten zu erfolgreichen „unpolitischen“ Geschäftsleuten und Unternehmern. Der deutsche Historiker Ulrich Herbert schreibt in diesem Zusammenhang: „Für die von Politik und Verwaltung Ausgeschlossenen hingegen blieben die freien Berufe und die Wirtschaft, meist vermittelt durch alte, nicht selten bis in die Studienzeit zurückreichende Kontakte.“ Die Biographie des Südtiroler SS-Offiziers Karl Nicolussi-Leck und seine Nachkriegskarriere, die auf alten NS-Seilschaften, Geschäftsinteressen und Freundschaften basierte, sind ein ausgezeichnetes Fallbeispiel dafür. Der private Sektor und die großen Industriebetriebe an Rhein und Ruhr boten diesem Personenkreis viele Entfaltungsmöglichkeiten: Rudolf Rahn etwa, einst Hitlers Botschafter in Rom, wurde Generalsekretär von Coca-Cola in Essen, Konstantin Canaris, der Kommandeur der Sicherheitspolizei in Belgien, Angestellter bei den Henkel-Werken in Düsseldorf. SS-Obergruppenführer Werner Best, Reichsbevollmächtigter in Dänemark, und Heinz Wilke, ehemals Hitler-Jugend-Führer, fanden Anstellung bei der Firma Hugo Stinnes in Mülheim. Der ehemalige Tiroler Gauleiter Franz Hofer verwandelte sich nach 1945 ebenfalls zum Unternehmer in Mülheim an der Ruhr, SS-Oberführer Reinhard Höhn wurde zum Doyen der Managerausbildung in Westdeutschland. Herbert notiert zu den Folgen dieser Entwicklung:

„Dieser politische Ausgrenzungsprozess der einstigen NS-Eliten war mithin ein Abdrängen in den Wohlstand. Da nun die politische und wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Westdeutschland ihnen die Möglichkeit zum sozialen Wiederaufstieg bot und die juristische Verfolgung von NS-Verbrechen praktisch zum Stillstand gekommen war, wurde ihr Interesse an erneuter politischer Betätigung, vor allem im Umfeld der Rechtsradikalen, immer geringer.“

Ausgehend von Herberts Überlegungen möchte ich den Begriff „Ausgrenzung in die Wirtschaft“ für diese Fallstudie zu Nicolussi-Leck und seinen Netzwerken verwenden. Mit dem erneuten Aufschwung der deutschen Industrie in ihrem Kerngebiet (dem Rhein- und Ruhrgebiet) in den 1950er Jahren ergaben sich auch viele neue Karrierechancen. Es ist bemerkenswert, wie schnell und leicht sich ehemalige SS-Offiziere in das deutsche und österreichische Wirtschafts- und Gesellschaftsleben wiedereingliederten. Nicolussi-Lecks Laufbahn war da keineswegs eine Ausnahme – sie war eine Folge des politischen und wirtschaftlichen Klimas in der Ära des Kalten Kriegs und kann als beispielhaft gelten. Erst in den 1980er Jahren wurden ernsthaft Fragen über ehemalige Nazi-Beamte aufgeworfen: Wie sehr waren sie in die Verbrechen des Hitlerregimes verwickelt? Trugen sie rechtlich und moralisch Verantwortung für diese Verbrechen? Was taten sie nach dem Krieg? Bei meiner Recherche der Laufbahn Nicolussi-Lecks stieß ich auf eine Reihe ähnlicher Fälle, auf die ich hier nur kursorisch eingehen kann. Angesichts der spärlichen Forschung über die Nachkriegskarrieren ehemaliger Nazis bei deutschen Unternehmen zielt mein Beitrag darauf ab, das Bewusstsein für dieses vernachlässigte Thema zu schärfen, damit die Forschungslücke allmählich geschlossen wird.

 

Karl Nicolussi-Leck

Karl Nicolussi-Leck wurde am 14. März 1917 in Pfatten bei Bozen geboren und wuchs dort auf. Die Familie stammte ursprünglich aus der deutschen Sprachinsel von Lusern im Trentino und kam während des Ersten Weltkriegs nach Südtirol. Karl besuchte die Volksschule in Kaltern und später das Franziskanergymnasium in Bozen, bald danach begann er sein Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Padua. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Südtirol vom Königreich Italien annektiert. Mit der Regierungsübernahme von Benito Mussolini begann eine Ära der sprachlich-kulturellen Unterdrückung. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 setzten viele Südtiroler ihre Hoffnungen, von der italienischen Herrschaft befreit zu werden, auf Nazi-Deutschland. Sie standen vor allem hinter dem Nationalsozialismus, da dieser deutsch war, und lehnten den Faschismus weitestgehend ab, weil er italienisch war. Oder wie der Südtiroler Journalist Claus Gatterer von der Warte der Südtiroler aus erklärt:

Der Faschismus war menschlicher, korrumpierter und gerade in den menschlichen Unwägbarkeiten leichter berechenbar – aber er sprach italienisch, er war ‚fremd‘. Der Nazismus war wohl brutaler, unmenschlicher – doch redete er immerhin deutsch. Für viele ‚gehörte er zu uns‘, weil er unsere Sprache sprach.“

In Südtirol konnte man sowohl Antifaschist als auch gleichzeitig Nazi sein. Das ist bis zum heutigen Tage ein ziemlich einzigartiges Phänomen in Europa, wenn nicht gar weltweit.

Bereits als junger Mann engagierte sich Nicolussi-Leck im Völkischen Kampfring Südtirols (VKS), der sich gegen die Entnationalisierungspolitik des italienischen Faschismus wandte. Ab 1933 geriet der VKS immer mehr unter nationalsozialistischen Einfluss. Nicolussi-Leck schrieb später in seinem Lebenslauf: „Als 14-jähriger begann ich meine politische Betätigung im Volkstumskampf der Südtiroler und damit meinen Werdegang als Nationalsozialist.“ In den Reihen des VKS wurde Nicolussi-Leck bald zu einem der führenden und aktivsten Köpfe. In SS-Unterlagen gab er seinen Beruf selbstbewusst mit „politischer Führer und Organisationsleiter der NS-Bewegung in Südtirol“ an. Nach der Option für die deutsche Staatsbürgerschaft meldete sich Nicolussi-Leck 1940 freiwillig zur Waffen-SS (SS-Nummer 423.876). Er diente in den Reihen der anfangs aus Freiwilligen bestehenden SS-Panzer-Division „Wiking“ und war hauptsächlich an der Ostfront eingesetzt. Nach der Niederlage von Stalingrad und der Verkündigung des „totalen Krieges“ durch den Reichspropagandaminister Goebbels wurden auch in Südtirol alle verfügbaren Kräfte der „Heimatfront“ mobilisiert. Volksgruppenführer Peter Hofer hatte schon am 3. Februar 1943 in einem persönlichen Telegramm an Himmler seine Bereitschaft zur „vollständigen Kräftemobilisierung der Volksgruppe“ versprochen. SS-Obersturmführer Nicolussi-Leck war einer der Hauptredner dieser Propaganda-Aktion. Bereits damals beklagte er die mangelnde „Einsatzbereitschaft“ der Südtiroler für das „Dritte Reich“ und bezichtigte sie der „Verschweizerung“. In allen seinen Reden brachte Nicolussi-Leck seine Sympathie für die SS als die „Elitetruppe des Reiches“ zum Ausdruck.

Am 26. Januar 1944 heiratete er im Fronturlaub die politisch aktive Maria Troy (Spitzname Mutz) von Bozen. Sie hatte eine leitende Funktion beim Bund Deutscher Mädel, der Frauengruppe der NS-Jugend, inne. Karl und Maria mussten zuvor die Eheerlaubnis von der SS einholen. Nicolussi-Lecks Freund Robert Kukla, der seinerseits ein hochrangiger Nazi war, bürgte für den arischen und nazifreundlichen Hintergrund der Braut. Im März 1944 stieß Nicolussi-Leck bereits wieder zu seiner Kompanie, um an der Ostfront eine Sondermission in der ukrainischen Stadt Kowel zu leiten, die von starken sowjetischen Verbänden eingekreist war. Die deutschen Verteidiger innerhalb der Stadt waren schlecht bewaffnet und bestanden zumeist aus Bahnarbeitern und Versorgungstruppen. Nicolussi-Leck erhielt den Befehl, die sowjetischen Truppen zu durchbrechen, in die Stadt einzudringen und so lange durchzuhalten, bis der Besatzungsring gebrochen war. Seine Kompanie kam nur langsam voran und erlitt große Verluste. Nach zehn Stunden konnte nicht einmal die halbe Distanz bis zur Stadt zurückgelegt werden. Die Lage schien hoffnungslos und die Offiziere erhielten Befehl, sich zurückzuziehen. In seiner Entschlossenheit, doch noch in die Stadt einzudringen, widersetzte sich Nicolussi-Leck der Anordnung. Der starke Schneefall begünstigte den Vorstoß der Truppen und versetzte sie schließlich in die Lage, den Belagerungsring zu sprengen. Einmal in der Stadt angekommen, bekämpften Nicolussi-Lecks Truppen eine Woche lang erfolgreich die weitaus überlegenen sowjetischen Streitkräfte und bewerkstelligten somit den geordneten Rückzug der deutschen Verteidiger und verwundeten Soldaten. Zu Ehren seines Mutes bei Kowel erhielt Nicolussi-Leck im April 1944 das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes, eine der höchsten Auszeichnungen im Dritten Reich. Zudem feierte die Nazipropaganda in Südtirol seine Heldenhaftigkeit.

Erich Kern (eigentlich Kernmayr), 1906 in Graz geboren, SS-Sturmbannführer in der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ und nach 1945 einer der wichtigsten Verfasser geschichtsrevisionistischer und rechtsextremistischer Traktate, schrieb über Nicolussi-Leck und den Entsatz der von den Sowjets eingeschlossenen Stadt Kowel im März 1944: „Ein tapferer Offizier aus Südtirol mit sieben Panzern, ihrer kühnen Besatzung und todesmutigen Stosstruppinfanteristen machte die roten Pläne wenigstens hier zunichte. Das Schicksal in der Ukraine allerdings vermochte dieser Husarenstreich nicht zu wenden.“ Im letzten Kriegsjahr führte Nicolussi-Leck eine Panzereinheit der SS-Division „Wiking“ und kämpfte in Ungarn und Deutschland. Noch im Jänner 1945 wurde er zum SS-Hauptsturmführer befördert und erhielt im März desselben Jahres das Deutsche Kreuz in Gold verliehen, nachdem er mehrere Male an der Ostfront verwundet worden war. Die Tage des Tausendjährigen Reiches waren nun aber gezählt und Nicolussi-Leck ergab sich schließlich den US-Amerikanern.

Der Weg nach Argentinien

1947 wurde Nicolussi-Leck aus dem Lager Glasenbach bei Salzburg, wo besonders viele SS-Angehörige und überzeugte Nazis interniert waren, entlassen. Er schlug sich nach Südtirol durch und betätigte sich hier sehr bald als Fluchthelfer für ehemalige Kameraden aus Hitlers Streitmacht. Glasenbach war berüchtigt, wie ein ehemaliger Mithäftling Nicolussi-Lecks unterstrich: „Das amerikanische Internierungslager für die schlimmen Nazis war in ganz Österreich bekannt.“ Bereits im Lager Glasenbach hatte Nicolussi-Leck viele österreichische Nationalsozialisten und SS-Offiziere kennengelernt und aus Lagergemeinschaften waren Freundschaften geworden. Einige dieser Kameraden wollten nach Übersee ausreisen bzw. fliehen. Südtirol lag ideal auf der Reisestrecke über den Brenner nach Genua oder Rom, von wo aus viele Wege nach Spanien, Südamerika oder in den Nahen Osten führten. Die Chance für einen Neuanfang außerhalb des zerstörten Europa war verlockend. Nicht nur gesuchte NS-Täter, SS-Angehörige, Offiziere der Wehrmacht und vertriebene „Volksdeutsche“ nutzten diese Route über Südtirol, aber auch Überlebende des Holocaust. Für „alte Kameraden“ war Nicolussi-Leck in Bozen der ideale Ansprechpartner und das politische Klima in Südtirol tat ein Übriges. „Deutschen“ wurde in Südtirol schon aus nationaler Solidarität weitergeholfen, egal welchen Hintergrund sie hatten. Eine Nazi-Karriere war zwar keine Voraussetzung dafür, aber sicher auch kein Hinderungsgrund. Nur ein paar Kilometer nördlich des Brenners, in Österreich, war die Situation grundlegend anders, wie am folgenden Beispiel illustriert sei: Der ehemalige Gestapo-Chef von Bozen, SS-Sturmbannführer August Schiffer, ein Reichsdeutscher aus Krefeld im Rheinland, schlug sich Ende April 1945 nach Innsbruck durch und versteckte sich bei einem Metzger in Innsbruck-Arzl. In kürzester Zeit wurde er verraten und von einer Gruppe österreichischer Widerstandskämpfer verhaftet. Er hätte besser in Südtirol bleiben sollen. In Österreich wurde alle Schuld an Krieg, Elend und NS-Verbrechen den „Reichsdeutschen“ angelastet und entsprechend wurden alte Ressentiments gegen die „Piefke“ wieder angefacht. Der Mythos von Österreich als „erstem Opfer der Hitler-Aggression“ wurde gerne verinnerlicht, um die eigene braune Vergangenheit rascher abstreifen zu können. In Italien machte Nicolussi-Leck hingegen bald die Bekanntschaft von Horst Carlos Fuldner, einem Deutsch-Argentinier und ehemaligen SS-Hauptsturmführer, der nun zu einem der wichtigsten Organisatoren des argentinischen Anwerbungsprogramms avancierte. Der US-Geheimdienst CIA war über Fuldners Aktivitäten recht genau im Bilde:

„Ein argentinischer SS-Führer namens Fultner (alias Fuldner oder Fuster) soll die Verbindung von Col. Gonzalez mit dem argentinischen Einwanderungsamt gewesen sein. 1948 wurde Fultner Mitglied der argentinischen Einwanderungsdelegation für Europa und war in Genua stationiert. Von dieser Schlüsselposition aus konnte er vielen Angehörigen der Wehrmacht, der Gestapo und der Waffen-SS helfen, nach Argentinien zu gelangen.“

Wie Nicolussi-Leck noch 2004 in einem Interview betonte, half er Fuldner bei seiner Mission der illegalen Anwerbung und beide wurden Freunde. Nicolussi-Leck äußerte sich zeitlebens voller Respekt über „Don Carlos“. Die Namen vieler Geschleuster werden für immer unbekannt bleiben, einige Fälle lassen sich aber dokumentieren. Unter Nicolussi-Lecks Protegés befanden sich etwa die Luftwaffen-Offiziere Hans-Ulrich Rudel, Adolf Galland und Herbert Bauer. Nicolussi-Leck scheint auch Mitglieder der Gruppe um den Flugzeugkonstrukteur Prof. Kurt Tank über den Brenner nach Italien geschleust zu haben. Nachdem die Staatsanwaltschaft Innsbruck Hinweise auf gut organisierte Schlepperstrukturen von Nationalsozialisten bekommen hatte, nahm sie 1949 Ermittlungen auf. Innerhalb kürzester Zeit konnten die Behörden ein gut funktionierendes Fluchtnetz um Nicolussi-Leck und seinen Schwager aufdecken. Doch in den 1950er Jahren schliefen die Ermittlungen gegen die Schleppergruppe ein, 1959 wurde die Suche eingestellt. Erst Jahre später sollte das Innenministerium in Wien diese „geheime Organisation“ um Nicolussi-Leck mit der „Odessa“ in Verbindung bringen. Durch die Bücher von Simon Wiesenthal wurde die mythische Vereinigung der ehemaligen SS-Angehörigen zur Realität, zumindest für das Justizministerium in Wien, das den alten Akt um die Tiroler Schmuggler 1969 mit einem neuen Deckblatt mit dem Titel „Organisation Odessa“ versah. Nicolussi-Leck beschloss 1948, ebenfalls nach Argentinien auszuwandern. Seine Vorgeschichte als NS-Propagandist erschwerte vielleicht den Wiedererwerb der italienischen Staatsbürgerschaft, die Jobaussichten in Argentinien waren jedenfalls viel rosiger. Eine neue Karriere als Unternehmer – mit Fuldners Hilfe – schien eine gute Alternative zu sein. Nicolussi-Leck organisierte sich Reisedokumente des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) und nahm dabei die Hilfe des kroatischen Paters Krunoslav Draganović in Rom in Anspruch. Draganović saß als Leiter der kroatischen Abteilung des Päpstlichen Hilfswerks für Flüchtlinge an entscheidender Stelle und vermittelte für die Fuldner-Schützlinge Reisepapiere des Roten Kreuzes. Unter anderem zusammen mit dem österreichischen Bischof Alois Hudal verhalf Draganović so zahlreichen Faschisten, SS-Offizieren, Holocaust-Tätern und Kriegsverbrechern zur Flucht. Laut Nicolussi-Leck war der gute Pater Draganović der wichtigste Kontakt und Kollege Fuldners in Italien. Am 31. August 1948 stellte Nicolussi-Leck in Rom zusammen mit den Angehörigen des Luftwaffe-Offiziers Otto Behrens einen Antrag für ein Reisedokument des Roten Kreuzes. Die vatikanische Hilfsmission für Flüchtlinge stellte Nicolussi-Leck ein Empfehlungsschreiben aus und es war Draganović persönlich, der das Reisedokument des Roten Kreuzes unterschrieb. Nicolussi-Leck und seine Frau wurden auf Draganovićs Liste von 169 Kroaten gesetzt und erhielten ihre Visen für Argentinien als „Kroaten“. Nicolussi-Leck ließ seine Herkunftsstaatsbürgerschaft bewusst offen und gab lediglich an, er wäre staatenlos – was de facto nicht gelogen war – und sein Geburtsort „Wadena“. Der Mangel an Daten ermöglichte es Draganović wahrscheinlich, ihn als ethnischen Deutschen aus Kroatien auszugeben.


Als wichtige Etappe auf dem Weg nach Übersee avancierte Südtirol in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu einem beliebten Nazi-Schlupfloch. SS-Offizier Erich Priebke, SS- und Polizeiführer Ludolf von Alvensleben oder der Nazi-Gouverneur von Galizien Gustav Wächter sind nur einige bekannte Beispiele. Die Fluchtroute über Österreich und Italien war ein offenes Geheimnis. Ein CIA-Dokument aus 1953 stellte fest:

„Viele Wehrmachts- und SS-Angehörige reisten von einem Zentrum in München über Innsbruck, Bern und Rom nach Beirut und Damaskus. Einige von ihnen, die nach Spanien und Südamerika gingen, passierten auch Rom. Dort gab es eine Durchgangs- und Rekrutierungsstelle unter dem Schutz des deutschen [sic!] Bischofs Alois Hudal.“

In Südtirol wurden flüchtigen Nazis von Gemeinden, darunter auffällig häufig Tramin, oft auch neue Ausweispapiere unter Falschnamen ausgestellt. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist Adolf Eichmann, der – neben anderen hochrangigen Nazis – von der Gemeinde Tramin neue Papiere und eine neue Identität erhielt und zum Südtiroler Riccardo Klement aus Bozen wurde. Unklar bleibt bis heute, ob die Gemeinden diese Papiere offiziell ausstellten oder es sich teilweise um Fälschungen handelt. Auch ist nach wie vor unbekannt, wer den Naziverbrechern neue Papiere aus Tramin besorgte. Die Forschung sollte hier möglichen Spuren folgen. Einer der engsten Freunde Nicolussi-Lecks war der ehemalige Nazi-Beamte Kurt Heinricher. Heinricher war der Schwager von Viktor Walch, der wiederum zu den reichsten und einflussreichsten Familien Tramins gehörte und dort die mächtige Position eines Nazi-Kreisleiters bekleidete – alles nur ein bemerkenswerter Zufall?

Teil 1 des Textbeitrages, leicht gekürzt und ohne Quellenangaben.
Lesen Sie am Sonntag, 15.12. Teil 2: Braune Netzwerke in Südtirols Wirtschaft